tinder_titelbild Warum sollten Politikerinnen und Politiker auf einer Plattform aktiv sein, bei der es um Dating geht, Hasenohren auf Selfies der Renner sind und Bilder von Schuhen des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner die meisten Views erhalten? Weil sich da die junge Zielgruppe aufhält. Diese Artikelreihe will zeigen, wie WhatsApp, Instagram, Snapchat und Tinder in der politischen Kommunikation genutzt werden können und welche Politikerinnen und Politiker diese besonders gelungen einsetzen. Im vierten Artikel haben wir uns angeschaut, wie Politikerinnen und Politiker Tinder verwenden.

Tinder ist beliebt: rund zwei Millionen Menschen nutzen die App in Deutschland, weltweit sind es ca. 50 Millionen. Und die Zielgruppe ist jung: 85% der Tinder-User sind zwischen 18 und 34 Jahre alt.

Tinder ist eine Kontakt- bzw. Dating-App. Sie überzeugt durch Einfachheit und ihren spielerischen Charakter: dem User werden Bilder von anderen Tinder-Usern aus der Umgebung angezeigt. Mit einem Wisch (Swipe) nach rechts bzw. ein Drücken des Herz-Buttons bekundet man sein Interesse an der Person, ein Swipe nach links oder das X bedeutet: Kein Interesse. Ein „Match“ kommt zustande, wenn beide User ihr Interesse am jeweils anderen signalisieren. Erst dann können sie Kontakt zueinander aufnehmen und sich Mitteilungen schicken. Eine Anmeldung ist nur mit einem vorhandenen Facebookaccount möglich. Tinder zieht Daten wie Likes oder Freunde aus dem Facebookprofil und mit der Einbettung von Instagram und Spotify ist es jetzt noch einfacher, Gemeinsamkeiten zu entdecken.

Während das Phänomen Tinder in vielen Medien kritisch betrachtet und mit ihm die Erosion und Zerfall romantischer Beziehung herauf beschworen wird, gehen viele jüngere Menschen gelassener mit der App und deren Möglichkeiten um. Sie stören sich weder an dem Vorwurf, dass die App Oberflächlichkeit und Unverbindlichkeit fördere noch an der interpretatorischen Aufladung als reine Sexanbahnungs-App durch Nicht-User. Sie nutzen sie als bloßen Zeitvertreib und Amüsement, zum Austausch mit anderen – und mit der Einführung des Features Social Tinder auch, um sich als Clique mit anderen Gruppen zu treffen.

Wie andere Social Media Plattformen und Apps steht Tinder unter permanentem Innovationsdruck. Sean Rad, SEO von Tinder, stellte kürzlich die noch nicht veröffentlichte Funktion ,,Tinder Assistant” vor: Mittels künstlicher Intelligenz und Zugriff auf die Anwendungsdaten des Smartphones möchte Tinder potentielle Matches samt passendem Datum und Aktivität vorschlagen. So soll die Kontaktanbahnung noch einfacher und schneller vonstatten gehen.

Trotz der Kritik an dem Phänomen Tinder hat es die App geschafft, Online-Dating salonfähig zu machen. Das zeigen die Zahlen: seit 2012 wurde die App 100 Millionen Mal heruntergeladen. Nutzerinnen und Nutzer verbringen durchschnittliche 90 Minuten täglich auf der Plattform und tätigen 1 Millionen Swipes pro Minute. Diese Zahlen haben auch die Werbeindustrie angelockt. Mit Guerilla-Marketingmaßnahmen haben große Marken wie Sixt, Domino’s Pizza, Gillette und McDonalds auf der Plattform kommerzielle Werbekampagnen gelauncht. Guerilla-Werbung ist ein Marketingansatz, der mit unkonventionellen Methoden bzw. Aktionen Aufmerksamkeit erzeugt und der meist mit wenig Aufwand effizienter als teure klassische Werbekampagne ist.
Da es bis jetzt noch keine offizielle Werbeformate auf Tinder gibt und die kommerziellen Anzeigen im Tinderstream als einfaches Personenprofil auftauchen, können sie Überraschungsmoment hervorgerufen werden.

Und dieser Effekt wurde bereits auch im politischen Kontext aufgegriffen. Nichtregierungsorganisationen und staatliche Institutionen platzierten kommerzielle Profile auf Tinder, um auf Missstände hinzuweisen: zum Weltfrauentag machte Amnesty International Australien mit ihrer Kampagne auf das Thema Zwangsheirat aufmerksam, und die Einwanderungsbehörde von Irland nutzten die Dating-App, um Menschenhandel und Prostitution anzuprangern.

Und auch die die Flirt-App selbst wird politisch:  ,,Diese [US-Präsidentschaft-]Wahl ist die erste in der Geschichte, bei der alle Millennials alt genug sind zu wählen. Millennials werden sogar eine größere Rolle bei dieser Wahl spielen als in jeder anderen – von der großen Entscheidung bis zum weltweiten Dialog – deshalb haben wir für unsere Nutzer in aller Welt das Feature Swipe the Vote entwickelt.”

Nach dem Wahl-O-Mat-Prinzip konnten Nutzerinnen und Nutzer in den USA herauszufinden, mit welchen US-Präsidentschaftskandidaten sie die meisten Meinungen teilten. So beantworteten sie Fragen zu ihren Ansichten über u.a. Einwanderung, Homo-Ehe und Klimawandel und am Ende wurde die passendste Kandidatin oder der passendste Kandidat als Match angezeigt. Außerdem gab es Informationen, wo und wie sich die User zur Wahl anmelden konnten.

SwipeTheVote_Flow-1Das Swipe the Vote-Feature wurde auch in Großbritannien vor dem Brexit-Referendum eingeführt. Tinder gab nach dem Referendum bekannt, dass mehr als 20 Prozent der User das Wahr-oder-Richtig-Quiz in Großbritannien absolviert hätten. Ob Tinder die Funktion Swipe the Vote-Funktion auch im deutschen Wahlkampf anbieten wird, ist noch unklar.

Aber auch politische Kandidatinnen und Kandidaten auf lokaler, nationaler oder supranationaler Ebene nutzten die Möglichkeit eines einfachen Profils auf Tinder, um auf sich aufmerksam zu machen: nicht nur in den USA, in Australien oder in Kanada kam die App zum Einsatzt, sondern auch schon zur Europawahl, im österreichischen und im Schweizer Wahlkampf sowie bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus.

Auf ein Bier mit der Kandidatin

Aline Trede, Kandidatin für den Schweizer Nationalrats für die Grünen, nutzte die Form der Online-Wahlkampf-Werbung auf Tinder als erste im deutschsprachigen Raum. Sie hatte eine ausgereifte Marketing-Kampagne, so erschien auf ihrem Profil ihr Bild mit der Aufforderung, das grüne Herz zu drücken: ,,Grünes Herz. Gegen Rechts“. Sie lud ihre Matches daraufhin zu einem Bier und zu ihrer Bürgersprechstunde in eine Berner Kneipe ein. Die Tinder-Kampagne rief ein hohes Medienecho hervor.

screenshot_tinder_freierscreenshot_tinder_freierAuch Alexander Freier-Winterwerb, ehemaliger SPD-Anwärter für das Berliner Abgeordnetenhaus, nutze die Flirt-App und berichtete, dass er einige Matches erhalten habe und diese ihn dann nach Ansichten zu Familien- und Bildungsthemen befragt hätten. Tinder wurde im Berliner Wahlkampf auch von einem weiteren Politiker eingesetzt: Florian Nöll, CDU-Kandidat aus dem Wahlkreis Moabit, machte mit dem Slogan ,,Moabit macht Liebe“ und ,,Mobit hat die Wahl“ auf sich aufmerksam.

screenshot_tinder_merkerIn Deutschland wurde Tinder auch auf kommunaler Ebene im Wahlkampf eingesetzt. Matti Merker, hessischer Lokalpolitiker der SPD aus dem Landkreis Darmstadt Dieburg, nutzte Tinder im Wahlkampf: “Viele haben es nicht verstanden, dass ich nicht auf Partnerinnensuche bin und sondern Tinder nur für die politische Arbeit nutze. Spannend an Tinder war für mich erstens die Umkreissuche, bei welcher man wirklich sehr gut Menschen in einem bestimmten Umkreis findet, und zweitens die Zielgruppe – in der Regel junge Menschen von 18 – 35 Jahre. Man muss natürlich auch ehrlich sagen, dass Facebook immer noch das A und O ist. Matches hatte ich schon einige. Ich schätze, dass etwa 20 Prozent Kontakt aufgenommen haben und teilweise einfach Fragen gestellt haben wie: ,Was hat dich dazu gebracht dich zu bewerben?’,Was macht man als Kreistagsmitglied?’ ,Wie viel Zeit musst du investieren?’”.

Tinder für Parteien und Politiker

Grundsätzlich sollte die politische Person zu Tinder passen, so ist zu überlegen, ob ältere Politikerinnen und Politiker ihre Zielgruppe in der Dating-App erreichen. Es gibt zwei Varianten, Tinder im Wahlkampf zu nutzen: die kommerzielle Nutzung in Form von Ads, wie sie große Firmen bereits eingesetzt haben, oder in Form eines nichtkommerziellen Profils. Ersteres ist aufwändig und würde sich für Werbung auf Partei-Ebene oder große Kampagnen eignen.

Nutzt man Tinder mit einem normalen Profil, ist zu beachten, dass Werbung in einem nichtkommerziellen Profil nicht mit den AGBs (term of use §6) von Tinder in Einklang steht. Das Profil sollte klar als „Wahlkampf-Profil“ gekennzeichnet sein, Beschwerden von Usern können sonst zu einer Sperrung des Profils führen.

Ein Profil bei Tinder ist erstmal „unaufdringlich“, weil man die Politikerin oder den Politiker bei Desinteresse einfach wegwischen kann. Konkret kann der Tinder-Wahlkampf so aussehen: Die Kandidatin oder der Kandidat geben in ihren Such-Einstellungen Parameter wie Geschlecht, Alter und Reichweite (des Wahlkreises) ein (z.B. Mann und Frau, 18 bis 99, Umkreis: 20 Kilometer) und gibt allen Treffern ein Herz, dies kann mittels eines Tools über die API-Schnittstelle von Tinder auch automatisiert werden. APIs sind Programmierschnittstellen, welche von Plattformen angeboten werden, damit Dritte Anwendungen und Applikationen für diese entwickeln können. Zeigt ein User Interesse an dem politischen Profil, entsteht ein Match und die Möglichkeit, die potentielle Wählerin oder den potentiellen Wähler anzusprechen. Über die API-Schnittstelle ist es bei Tinder auch möglich, einen Messenger- bzw. Chatbot zu integrieren, der z.B. die Begrüßungen automatisiert.

Ob man nun das Profil auf die Person personalisiert oder bestimmte parteipolitische Themen in den Vordergrund rückt, wichtig ist immer, die Zielgruppe der App im Fokus zu behalten. Wenn man mit einer kreativen Ansprache einsteigt und Überraschungseffekte nutzt, kann man auch ernstere Themen wie Prostitution oder Geschlechtskrankheiten ansprechen.

Zwar kann man mit einem Profil auf Tinder nur eine begrenzte Reichweite erlangen, die dann stattfindenden Matches eignen sich aber, um die Leute auf persönlicher Ebene anzusprechen, auf eine Veranstaltung aufmerksam zu machen oder ins Wahlkampfteam einzuladen.

Fazit

Tinder eignet sich, um auf unkonventionelle Art und Weise Personen zu erreichen, die vielleicht mit anderen Instrumenten der politischen Kommunikation nicht erreicht werden können. Was ein Profil bei Tinder bis jetzt noch ausmacht, ist der Überraschungseffekt: Die Nutzerinnen und Nutzer werden da angesprochen, wo sie es nicht erwarten. Oft ist es die Neugier, welche die Tinder-User dazu bewegt, einem Politikerprofil ein ,,Herz” zu geben. So können gerade diejenigen, die wenig Interesse an Politik haben, niedrigschwellig mit der Politik Kontakt aufnehmen. Politikerinnen oder Politiker wiederum können mit potentielle Wählerinnen und Wählern ins persönliche Gespräch kommen und so eine intensivere Bindung aufbauen.

Im ersten Teil der Serie haben wir uns angeschaut, wie Politikerinnen und Politiker WhatsApp einsetzen, im zweiten Teil, wie sie Instagram und im dritten, wie sie Snapchat verwenden.

Titelbild: Public Bar, Smartphone via pixabay, CC0 public domain, bearbeitet von Daniel Schumacher

Bilder im Text: Screenshots von Matti Merker, Alexander Freier-Winterwerb, Tinder.

CC-Lizenz-630x1101