Barbara Stolterfoht
Die Vorsitzende
des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Barbara Stolterfoht
,
ist am 6. November 2003 zu Gast im
tacheles.02-Chat
von tagesschau.de und poltik-digital.de.

Moderator:
Liebe Politik-Interessierte, herzlich willkommen im tacheles.02-Chat.
Die Chat-Reihe tacheles.02 ist ein Format von tagesschau.de und politik-digital.de
und wird unterstützt von tagesspiegel.de und von sueddeutsche.de.
Im ARD-Hauptstadtstudio begrüße ich heute Barbara Stolterfoht,
Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Der Paritätische
Wohlfahrtsverband ist der Dachverband der zahlreichen Verbände in
Deutschland, die soziale Arbeit leisten. Viele sind davon in Pflege und
Betreuung tätig. Können wir beginnen Frau Stolterfoht?

Barbara Stolterfoht:
Ja.

Moderator:
Die rot-grüne Koalition hat heute ein Rentengesetz verabschiedet,
das für die Rentnerinnen und Rentnern im kommenden Jahr weniger Rente
im Geldbeutel bedeutet. Aus ihrer Sicht ein Fehler?

Barbara Stolterfoht:
Ja, das ist ein Fehler. Das mag für Rentner mit der Maximalrente
hinnehmbar sein, für Kleinrentnerinnen und Kleinrentner ist das eine
Katastrophe.

halligallimit67:
Heute hat der Bundestag über ein Notprogramm entschieden, das die
deutschen Rentner kommendes Jahr in eine Nullrunde schicken wird. Zusätzlich
sollen die Rentner auch noch den kompletten Pflegebeitragssatz übernehmen.
Von wem wurde der vorher bezahlt? Und wem kommt das Geld zu Gute? Wird
es auf alle Pflegebedürftige umgelegt, oder nur auf ältere Menschen?

Barbara Stolterfoht: Die Hälfte des Pflegeversicherungsbeitrags
wurde bisher von den Rentnerinnen und Rentnern bezahlt, die andere Hälfte
von den Rentenversicherungen. Das heißt, die Rentenversicherungen
sparen Geld und die Rentnerinnen und Rentner werden stärker belastet.
Berücksichtigen muss man dabei auch noch, dass Rentnerinnen und Rentner
mehr Zuzahlungen und mehr Eigenleistungen für ihre Gesundheit aufbringen
müssen. Da kann es für manche schon eng werden.

Tom:
Betrifft das auch Menschen mit einer Erwerbsunfähigkeits-Rente?(Frührentner)

Barbara Stolterfoht:
Im Prinzip alle. Aber bei der Gesundheitsreform gibt es Obergrenzen bei
der Zuzahlung.

Fritzchen:
Wie hätte sie Rente ihrer Meinung nach finanziert werden sollen wenn
es keine Nullrunde geben würde?

Barbara Stolterfoht:
Der Staat garantiert die Rentenzahlungen. Eine Alternative wäre eine
Anhebung der Beitragssätze gewesen, eine andere eine Erhöhung
des Staatszuschusses – als Notprogramm wohlgemerkt. Für eine langfristige
Absicherung der Rente braucht es andere Strategien.

HarleyDavidson:
Private Vorsorge wird immer wichtiger, lese ich. Was kritisieren sie daran?
Wir können uns nicht länger auf den Staat verlassen und müssen
selber was tun. Finde ich gar nicht so schlimm.

Barbara Stolterfoht:
Ich kritisiere die private Vorsorge überhaupt nicht. Auch die Pflichtbeiträge
zur Rentenversicherung sind ja ein Stück weit private Vorsorge. Die
Alterseinkommen der Zukunft werden wahrscheinlich aus drei Säulen
bestehen – der Rentenpflichtversicherung, der betrieblichen Rentenversicherung
und privaten Ansparungen. Wichtig ist mir aber, dass jede und jeder sich
das private Sparen auch leisten kann. Mit Minijobs und Niedriglöhnen
geht das nicht. Da braucht man jeden Pfennig zum Leben.

Moderator:
Ein Kommentar und eine Frage:

Betriebsratawoberlin:
Auch wir sind in großer Sorge um unseren Sozialstaat und befürchten,
dass durch die Agenda 2010 noch mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft
gedrängt werden und im Abseits stehen. Aus unserer Sicht bedeutet
dies dann auch großer emotionaler Sprengstoff, der sich irgendwann
auch entladen wird.

Wolfgang S.:
Die grundsätzlich vorhandene öffentliche Akzeptanz für
die Beschneidung des Sozial- (und damit Lebens-) standards steht und fällt
mit der Gerechtigkeitsfrage. Was konkret schlagen Sie vor um die "stärkeren
Schultern" der Besserverdienenden und Eigentümer großer
Vermögen stärker zu belasten, damit dem Eindruck einer sich
öffnenden "Belastungsschere" glaubwürdig begegnet
werden kann?

Barbara Stolterfoht:
Also, jetzt erst einmal den Betriebsrat: die Sorge des Paritätischen
Wohlfahrtsverbandes ist es, dass die jetzt auf den Weg gebrachten "Reformen"
zu Lasten der Ärmeren und Arbeitslosen – Stichwort Hartz4 – und zu
Lasten der Kranken gehen, die nicht nur mit der Krankheit, sondern auch
noch mit erhöhten Zuzahlungen zu kämpfen haben. Besonders schlimm
ist es für chronisch Kranke. Ich bin überzeugt, dass eine solche
Politik der Ausgrenzung nicht zukunftsfähig ist.

Zur Frage von Wolfgang
S. Die Gerechtigkeitsfrage ist bei all diesen Fragen die zentrale. Ich
finde es nicht gerecht, wenn durch die Hartzgesetze bei den Arbeitslosen,
die jeden Pfennig brauchen, drei Milliarden eingesammelt werden und mit
der Steuerreform, den Menschen mit überdurchschnittlichen Einkommen
in Höhe von mehreren tausend Euro, Steuern erlassen werden. Ich finde
es auch nicht gerecht, wenn Städte und Gemeinden Schulen und Kindertagesstätten
verfallen lassen müssen, weil sie kein Geld haben und auf der anderen
Seite die Einnahmen aus der Körperschaftssteuer um 20 Milliarden
einbrechen. Zu den konkreten Vorschlägen: Die jetzige Krankenversicherung
muss zur Bürgerversicherung weiterentwickelt werden. Das senkt die
Beitragslast. Durch ein transparentes und gerechtes Steuersystem müssen
alle Bürgerinnen und Bürger nach ihrer Leistungsfähigkeit
herangezogen werden und durch eine höhere Erbschaftssteuer auf höhere
Vermögen und eine moderate Vermögenssteuer könnte der Staat
in die Lage versetzt werden, seine Aufgaben besser zu erfüllen.

Kopfloser:
Sie waren ja auch mal in einem politischen Amt (Sozialministerin). Können
Sie in Ihrer jetzigen Position was bewirken?

Barbara Stolterfoht:
Ja, Sozialministerinnen haben es in Kabinetten, die sparen müssen,
besonders schwer, können aber trotzdem einiges bewirken. Jetzt ist
meine Aufgabe Beratung und Beeinflussung der Politik und kritische Stimme
des Teils der Bevölkerung zu sein, für die die gegenwärtigen
politischen Entscheidungen eine untragbare Belastung sind. Das ist ein
anderer aber ebenso spannender Wirkungskreis und meine Erfahrung ist,
dass man eine Menge bewirken kann.

Moderator:
Heißt kritische Stimme im heutigen Politbetrieb: eine möglichst
laute Stimme sein?

Barbara Stolterfoht:
Also an Lautstärke kann ein Sozialverband es weder mit der Pharmalobby
noch mit den Arbeitgeberverbänden aufnehmen. Die haben öffentlich
und hinter verschlossenen Türen mehr Einfluss als alle Sozialverbände
zusammen. Aber wir tun unser Bestes, um gehört zu werden.

Rosa Luxemburg:
Müssten die Wohlfahrtsverbände nicht angesichts einer Allparteienkoalition
zum Sozialabbau sich stärker auch mit den Ansätzen zu außerparlamentarischem
Widerstand und Protest befassen, bzw. diesen mitentwickeln und unterstützen?

Barbara Stolterfoht:
Ja.

Moderator:
Und was tun Sie konkret?

Barbara Stolterfoht:
Also, es war bisher erstaunlich ruhig in Deutschland. Das scheint sich
jetzt zu ändern. Wohlfahrtsverbände unterstützen Initiativen
und Aktionen im Interesse der Menschen, die sie vertreten. Der Paritätische
kooperiert mit den anderen Verbänden, wie zum Beispiel dem Kinderschutzbund
und dem VDK, mit den Gewerkschaften und mit Attac. Ich bin überzeugt,
dass in Deutschland eine ungerechte Politik keinen Bestand haben wird.

Moderator:
Welche Partei macht Ihrer Ansicht nach noch eine gerechte Politik?

Barbara Stolterfoht:
Keine der großen Volksparteien – und die kleinen Parteien schon
gar nicht – tut sich zur Zeit mit einer Politik zu Gunsten der Durchschnittsverdiener
und der Schwächeren in der Gesellschaft hervor. Es gibt allerdings
Unterschiede: Ich finde die Pläne der CDU und der FDP zum Fürchten.
Diese Pläne gefährden in der Tat den sozialen Frieden in Deutschland.

BerlinerStudi:
Und wen würden Sie unterstützen?

Barbara Stolterfoht:
Als Vorsitzende eines großen Wohlfahrtsverbandes unterstütze
ich gar keine Partei sondern fordere eine sozial gerechtere Politik bei
allen Parteien ein.

Freundfeind:
Sind die Parteien also gegenüber der Wirtschaft offener als gegenüber
den Bürgervertretungen?

Barbara Stolterfoht:
Es ist etwas komplizierter. Die Politik hat nicht den Mut gegenüber
mächtigen Bevölkerungs- und Wirtschaftsgruppen Opfer zu verlangen.
Das Schicksal der Gesundheitsreform hat das mehr als deutlich gezeigt.

Judith:
Es heißt immer mal wieder, dass Deutschland sich im Würgegriff
der Verbände befindet. Was halten sie von der These?

Barbara Stolterfoht:
Auch das würde ich wieder etwas differenzierter sehen. Es ist unglaublich
schwierig in einer pluralistischen Gesellschaft, politischen Konsens zu
organisieren. Hinzu kommt, dass eben manche Interessen ungehinderteren
Zugang zu politischen Machtzentren haben als andere und dass insgesamt
eine Politik zu Gunsten des Sozialstaates und zu Lasten von Wirtschaftsinteressen
kaum noch möglich ist. Ob das ein Sachzwang ist oder ein änderbarer
Tatbestand ist, darüber wird die politische Diskussion in den nächsten
Jahren gehen.

Krückstock:
Unionsfraktionschefin Angela Merkel konterte gegenüber der Regierung,
Rot-Grün flüchte sich bei der Rente zum wiederholten Mal in
„Notoperationen“. Der CSU- Sozialexperte Horst Seehofer attackierte
die rot-grünen Rentenpläne massiv. Geht es hier wirklich um
unser Wohlergehen, oder doch wieder nur um Wahlkampf?

Barbara Stolterfoht:
Angesichts der Tatsache, dass in 16 Jahren Regierung Kohl, notwendige
Reformen permanent verschlafen worden sind, finde ich dies nur Wahlkampfpolemik.

Ortrud:
Was kann man denen sagen, die durch die Komplexität des Problems
überfordert sind und die wichtige kontroverse Diskussion – z.B. in
der SPD – als Zerstrittenheit wahrnehmen und sich in Verdrossenheit gegenüber
allen Entscheidern "da oben" zurückziehen?

Barbara Stolterfoht:
Tja, das ist eine schwere Frage. Weitermachen und kämpfen für
das was man für richtig hält, in Parteien und Verbänden,
in Initiativen und Selbsthilfegruppen. Das ist das einzige, was hilft.
Resignieren nützt nur denen, die zielgerichtet ihre Interessen verfolgen.
Um es mit einem Zitat von Brecht zu sagen: "Lege Deine Finger auf
jeden Posten, frag wie kommt er dahin…"

Moderator:
Während der Zeiten niedrigerer Arbeitslosigkeit konnte die Politik
es sich eher leisten, Reformen liegen zu lassen. Jetzt haben wir 4,15
Millionen Arbeitslose:

mmmm:
Bei einem Festakt an der Berliner Humboldt- Universität sagte Eichel,
langfristig dürfe die „Rente mit 67“ kein Tabu sein.
Außerdem soll die Arbeitszeit verlängert werden, damit Deutschland
im internationalen Wettbewerb mithalten könne. Wie passt das mit
unserer Arbeitslosigkeit zusammen?

Barbara Stolterfoht:
Gar nicht. Ich halte es für absurd, über die Rente mit 67 Jahren
zu diskutieren und längere Arbeitszeiten zu fordern in Zeiten hoher
Arbeitslosigkeit. Was wir brauchen, ist die Chance für über
55-jährige in den Betrieben zu bleiben. Sie sind ja reihenweise aussortiert
worden, mit einer teuren Frühverrentungspolitik. Was wir brauchen,
ist eher Arbeitszeitverkürzung als Arbeitszeitverlängerung.
Um das Arbeitsvolumen auf mehr Hände und Köpfe zu verteilen.
Und was wir brauchen, sind Unternehmer, die mit Innovationskraft, Phantasie
und Mut neue Arbeitsplätze schaffen. Und übrigens, es wäre
ja schon fast ein Wunder, wenn in unserem Lande alle Menschen arbeiten
könnten und Arbeit hätten bis 65. Das tatsächliche Renteneintrittsalter
liegt weit darunter, nämlich knapp über 60.

T. Heinz:
Arbeitsvolumen ist doch ein völlig falscher Begriff. Arbeit schafft
Arbeit. Wenn man produktiv ist und so mehr verdient als man kostet, können
auch wieder mehr Menschen eingestellt werden. Wirtschaftswachstum heißt
das und hat uns schon mal Vollbeschäftigung gebracht. Arbeit ist
zu teuer, daher schrumpft die Nachfrage danach.

Barbara Stolterfoht:
Das halte ich für ein Gerücht und eine gern gepflegte Legende.
Bei den Schweden ist die Arbeit teurer als bei uns, gleichwohl ist die
Arbeitslosigkeit wesentlich geringer. Bei den Polen kostet die Arbeitsstunde
4 Euro 50 Cent und die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 20 Prozent. Wir
wären auch kaum Exportweltmeister, wenn unsere Arbeit tatsächlich
zu teuer wäre. Es kommt wesentlich auch auf andere Faktoren an, wie
den Bildungsstand der Arbeitnehmerschaft und die Produktivität des
einzelnen Arbeitsplatzes. Wir brauchen auch an diesem Punkte eine differenziertere
Betrachtungsweise.

Wilfried:
Das eigentliche, oder vermutlich das einzige Problem momentan in diesem
Staate ist ja dessen Verschuldung – wenn die Ausgaben für Zinszahlungen
für andere Zwecke zur Verfügung ständen, wären alle
strukturellen Probleme vermutlich lösbar. Ist es da nicht sinnvoll,
bis 2010 in den sauren Apfel zu beißen und auf Teufel oder Eichel
komm raus zu sparen (auch wenn es weh tut und sozial völlig ungerecht
ist), um wieder handlungsfähig zu werden?

Barbara Stolterfoht:
Ein Beispiel dafür, dass sparen mit Augenmaß betrieben werden
muss ist die hessische Landesregierung: Sie fördert weiterhin Vertriebenenverbände
und streicht sämtliche Zuschüsse für Schuldnerberatungsstellen.
Es gibt Bereiche in denen nicht gespart werden darf, wenn man zukünftigen
Generationen keinen Schaden zufügen möchte. Dazu gehört
Bildung, dazu gehört eine verlässliche soziale Sicherung für
alle und eine zukunftsfähige Infrastruktur. Ansonsten ist die Verschuldung
des Staates seit mindestens 25 Jahren ein politisch verleugnetes Problem,
das als erstes Hans Eichel wirklich angepackt und thematisiert hat.

Moderator:
Sie haben vorhin ein transparentes und gerechtes Steuersystem gefordert:

Roswita:
Was halten Sie vom Steuerreformvorschlag von Friedrich Merz?

Barbara Stolterfoht:
Klingt gut, schauen wir mal, ob er nicht im Kampf der Interessengruppen
auf der Strecke bleibt. Ich bin nicht sicher, ob die Durchschnittseinkommen
wirklich entlastet werden, wenn ihnen alle Vergünstigungen von Entfernungspauschale
bis steuerfreie Nachtzuschläge gestrichen werden.Viele Arbeitnehmer
haben nur deswegen ein einigermaßen erträgliches Einkommen,
weil sie nachts und Schicht arbeiten.

AltundWeise:
In der Rürup-Kommission stimmten Sie als einziges Mitglied dem Abschlussbericht
der Kommission nicht zu. Was sagen sie dann erst zur Herzog-Kommission?

Barbara Stolterfoht:
Schöne Frage. Ich war mit den Ergebnissen zu wenig einverstanden,
um zustimmen zu können. Aber eins muss man der Rürup-Kommission
lassen, und insbesondere ihrem Vorsitzenden: da wurde solide gearbeitet
und gerechnet und die Vorschläge hatten Hand und Fuß und passten
zusammen. Die Vorschläge der Herzog-Kommission sind unsolide und
unsozial.

Merker:
Sind die Frauen die Verlierer der Agenda 2010?

Barbara Stolterfoht:
Ja. Frauen verdienen weniger und werden härter getroffen, wenn soziale
Leistungen gestrichen werden und mehr zugezahlt werden muss. Frauen haben
schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, wenn die Leistungen der Bundesanstalt
für Arbeit zusammengestrichen werden und Frauen leiden mehr unter
Rentenkürzungen, weil ihre Renten ohnehin nur die Hälfte der
Männerrenten ausmachen und sie über betriebliche Renten und
private Rentenversicherungen wesentlich schlechter abgesichert sind. Nicht
alle Frauen verfügen über einen Ehemann, der all diese locker
finanziell auffangen kann.

Moderator:
Unsere Chat-Stunde ist um, vielen Dank für Ihr Interesse. Vielen
Dank Frau Stolterfoht, dass Sie zu uns gekommen sind. Das tacheles.02-Team
wünscht allen noch einen schönen Tag!

Barbara Stolterfoht:
Danke für die Einladung, es hat Spaß gemacht.