Marius Werner (cc by-nc-sa 3.0)
Rast die deutsche Politik durch die Veränderungen in der Medienlandschaft ins Verderben? In 27 Gesprächen mit Politikern, Journalisten, Lobbyisten und Intellektuellen wird der Frage auf den Grund gegangen, welche Rolle die veränderte Medienlandschaft dabei spielt. Dabei fällt auf: Nicht alles ist gut, aber es ist auch nicht alles schlecht.
Was geschieht mit der Politik unter dem Druck einer Echtzeitberichterstattung? Wenn jedes noch so alte Zitat ausgegraben und in Sekundenschnelle um die Welt geschickt werden kann? Wenn selbst unausgereifte Gedanken aus der letzten, im kleinen Kreis geführten Diskussionsrunde prompt im Internet zu finden sind?
Nichts Gutes, befürchten Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke im Vorwort der neu erschienenen Interviewsammlung „Die gehetzte Politik“, die 27 Gespräche mit Politikern, Journalisten, Lobbyisten und Intellektuellen umfasst. Die Interviews führten 23 Tübinger Studierende. Angesichts der medialen Beschleunigung im Verbund mit immer komplexer werdenden Sachfragen im Bereich der Finanzpolitik drohe die Politik heute zu verflachen. Denn wo keine Zeit mehr zur Reflexion der bestehenden Verhältnisse und zum Entwickeln alternativer Handlungskonzepte bleibe, wird ein Abgeordneter anfällig für Pauschallösungen. „Politik besteht heute zu 5 Prozent aus Entscheidungsfindung und zu 95 Prozent aus Entscheidungsvermarktung“, kritisiert der Philosoph Richard David Precht. Sind die Online-Formen der Berichterstattung und Kommunikation so etwas wie der Sargnagel einer guten, gemeinwohlorientierten Politik?
Das Internet ist Schuld – oder?
So düster und medienpessimistisch die Thesen des Vorwortes auch sein mögen: bestätigt werden sie durch die nachfolgenden Interviews nicht. Ja, das Internet bewirke einen „permanenten Rechtfertigungsdruck“, so der Journalist Stefan Niggemeier, der vor allem für seinen medienkritischen BILDblog bekannt ist. „Die Nachrichtenprozesse haben sich drastisch beschleunigt“, pflichtet zudem der ehemalige stellvertretende Sprecher der Bundesregierung Thomas Steg bei. Und es stimmt auch, dass in den Online-Medien ein rauer Umgangston herrscht, der den Boulevardmedien in nichts nachsteht: „Das Internet bietet atemberaubende Möglichkeiten. Die gibt es aber nur im Paket mit oft unglaublicher Härte und Bösartigkeit, bedingt durch die Anonymität, die im Netz möglich ist“, sagt Daniel Cohn-Bendit, Co-Fraktionsvorsitzender der Grünen im Europaparlament.
Trotzdem überwiegt der Optimismus – und das nicht nur bei solchen Akteuren wie der Piratin Marina Weißband, bei der man Internet-Enthusiasmus ja quasi von Berufs wegen erwarten kann. Auch der ehemalige CDU-Politiker Christian von Boetticher erhofft sich vom Internet eine Emanzipationsleitung: weg von der bisherigen Geltungshoheit der klassischen Medien. Bisher sei ein Politiker von deren „Willkür“ abhängig gewesen, weil sie entschieden, welcher Ausschnitt aus einem Interview gesendet oder wie eine Presseerklärung präsentiert würde. „Durch die Internetplattform Facebook oder über das Online-Videoportal YouTube zum Beispiel kann ich plötzlich […] den Wählern zeigen, was ein Fraktionsvorsitzender eigentlich den ganzen Tag macht.“
Unrecht hat er damit nicht. Wenn Nachrichtensendungen beispielsweise wieder einmal zum Bild leerer Plenarsitze die alte Mär von den faulen Abgeordneten wiederkäuen, die alles Mögliche, aber nicht ihre Arbeit machten. Heute können Politiker diesem Vorwurf begegnen, indem sie „über Facebook und Twitter an den traditionellen Gatekeepern vorbei ihre Leistungen und Standpunkte dem Publikum direkt darstellen“, so Thomas Steg, der ehemalige stellvertretende Regierungssprecher.
Über die faszinierenden Gespräche mit so polarisierenden Persönlichkeiten wie Thilo Sarrazin, Stéphane Hessel oder Paul Nolte über das Spannungsfeld von Politik, Medien und Wirtschaft hinaus bietet der Band daher auch einen ganz erstaunlichen Befund: Mehrheitlich verbinden Praktiker wie Intellektuelle mit dem Internet große Hoffnungen. Um es mit den Worten des leider jüngst verstorbenen Widerstandskämpfers und Diplomaten Stéphane Hessel zu sagen: „Sie haben heute so viele Möglichkeiten, um sich zusammenzutun und gemeinsam für eine bessere Zukunft zu kämpfen.“
Bernhard Pörksen, Wolfgang Krischke (Hrsg.): „Die gehetzte Politik – Die neue Macht der Medien und Märkte“; erschienen im Herbert von Halem Verlag 2013; Preis: 19,80 €
Bild: Marius Werner (cc by-nc-sa 3.0)
CC-BY-SA