Am Donnerstag,
den 27. April, war Michael Sommer, DGB-Vorsitzender, zu Gast im
tagesschau-Chat in Kooperation mit politik-digital.de.
Er diskutierte mit den Usern über das Frühjahrsgutachten,
Mindestlöhne und die Entwicklung des Arbeitsmarktes.

Moderator: Liebe Chatgemeinde, unser
Gast im ARD-Hauptstadtstudio ist heute Michael Sommer, Chef des
Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Wie immer versuchen wir, dem
Chat Struktur zu geben und nach Themen zu sortieren. Deshalb keine
Sorge, wenn eine Frage nicht sofort auftaucht. Herr Sommer, können
wir beginnen?

Michael Sommer: Wir können beginnen.

optimist: Korrektur der Wachstumsprognosen nach
oben (stärkstes Wachstum seit 2000), leichtes Sinken der Erwerbslosenquote
im Vergleich zum Vorjahr: Ist das ein momentaner Höhenflug
oder ein wirklicher Anlass zur Freude?

Michael Sommer: Es ist erstmal positiv, dass ganz
offensichtlich die Konjunktur angekurbelt wird. Wir müssen
das jetzt bestätigen. Neben vielem anderen erwarte ich von
den Arbeitgebern, die Impulse aufzunehmen und ihrerseits mit Investitionen
neue Arbeitsplätze zu schaffen. Im Übrigen gilt das alte
Sprichwort: Eine Schwalbe macht noch keine Sommer.

Moderator: Wird es jetzt nicht auch Zeit, dass
sich die Gewerkschaften ein bisschen zurück nehmen mit ihren
Lohnforderungen?

Michael Sommer: Im Gegenteil. Der Metallabschluss
von drei Prozent kann mithelfen, die Binnenkonjunktur anzukurbeln,
denn das erste Mal seit langer Zeit haben die Metaller mehr Geld
als im Vorjahr.

winter: Glauben Sie wirklich an diese Prognosen?
Da ist doch auch ganz viel Psychologie drin. Von vermeintlichen
Aufschwüngen habe ich in den letzten Jahren immer wieder gehört,
aber es wurde dann doch nie was raus. Oder ist das jetzt eine andere
Situation?

Michael Sommer: Die Ökonomen haben schon
relativ verlässliche Instrumente, um real die wirtschaftliche
Entwicklung festzustellen. Und das sind ja auch keine Politiker,
die vor Wahlen immer etwas anderes erzählen, als sie nach Wahlen
zugeben müssen. Deswegen glaube ich schon, dass das Gutachten
relativ realistisch die Lage widerspiegelt.

lib-art: Sind die Prognosen nicht auch ein Marketingtool,
mit dem eben die Konjunktur ein bisschen Rückenwind erhalten
soll?

Michael Sommer: Selbst wenn es so wäre und
es würde klappen, wäre es doch gut. Wir sollten wirklich
Interesse daran haben, die Lage zu verbessern und sie nicht schlecht
zu reden. Ich bin kein Anhänger des Grauschleiers.

june: Wie erklären Sie sich dann die Diskrepanzen
zwischen vorhergesagtem Wirtschaftswachstum und tatsächlichem?

Michael Sommer: Weil natürlich zusätzliche
Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung kommen, z.B. die
Bereitschaft der Menschen mehr zu kaufen, und die Auftragseingänge
der Importindustrie sind anscheinend wirklich gut. Das kann man
nur bedingt vorher sagen und im Prinzip muss monatlich eine Vorhersage
nachbearbeitet werden, weil das Leben an sich dynamisch ist.

Aldi: Die Prognosen für die Wirtschaft stehen
alle auf "Daumen nach oben". Wann wird sich dies voraussichtlich
auf den Arbeitsmarkt auswirken?

Michael Sommer: Hoffentlich bald. Aber mir fehlt
der Glaube. Eine deutliche Verbesserung wird es wirklich nur geben,
wenn die Arbeitgeber in neue Produkte und Dienstleistungen investieren
und neue Arbeit schaffen. Und da habe ich die Hoffnung, dass das
insbesondere dem Mittelstand gelingen kann. Aber wie gesagt, das
ist nur eine Hoffnung.

Redkiller: Herr Sommer, die Gewerkschaften sind
an vielen Unternehmen beteiligt. Können Sie uns sagen, wie
viele Arbeitsplätze dort geschaffen wurden?

Michael Sommer: Wir sind kaum noch an einem Unternehmen
beteiligt, wir haben alle unsere Beteiligungen verkauft bzw. verkaufen
müssen. Deswegen ist die Frage quantitativ kaum zu beantworten.
Allerdings habe ich die Parole ausgeben: Bei jeder Stelle im Gewerkschaftsbereich
zu versuchen, sie zu erhalten und nicht abzubauen.

Aldi: Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen
Konjunktur und Mitgliedszahlen der Gewerkschaften?

Michael Sommer: Es gibt einen indirekten Zusammenhang
in der Hinsicht, dass durch das Wachstum der Wirtschaft neue Arbeitsplätze
und damit auch Organisationsmöglichkeiten für die Gewerkschaften
geschaffen werden.

malocher: Die Streiks machen doch nur Arbeitsplätze
kaputt. Warum heizen Sie das soziale Klima weiter an? Wollen sie
Zustände wie in Paris?

Michael Sommer: Von Pariser Zuständen sind
wir in Deutschland weit entfernt, sowohl was die Vorstädte
angeht, als auch die Innenstädte. Und unsere Tarifforderungen
sind alles andere als das Ende des Abendlandes.

Moderator: In Deutschland scheint das Thema Kündigungsschutz
die Menschen kalt zu lassen. Kaum jemand geht auf die Straße,
anders als in Frankreich. Hat der DGB ein Mobilisierungsproblem?

Michael Sommer: In dieser Frage ja, weil ganz
offensichtlich ganz viele Menschen in Sachen Kündigungsschutz
resigniert haben. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Wenn die
Menschen begreifen, dass sie in jedem Beschäftigungsverhältnis
zwei Jahre geheuert und gefeuert werden, werden sie sich auch wehren.

htw: Sind die Gewerkschaften noch zeitgemäß?
Braucht unserer Gesellschaft, wie sie in der heutigen Form besteht
und sich in Zukunft entwickeln wird, noch Gewerkschaften?

Michael Sommer: Ja, aber wahrscheinlich werden
die Gewerkschaften sich genauso wandeln müssen, wie die Gesellschaft
selbst. Das heißt, dass wir uns neben den klassischen Feldern
wie Tarifpolitik und Mitbestimmung insbesondere um Fragen spezifischer
Beratungsmöglichkeiten kümmern müssen. Die Idee gewerkschaftlicher
Solidarität ist zeitlos. Im Vatikan hat es 2000 Jahre gedauert,
bis es eine Gewerkschaft gab. Jetzt hat Benedikt XVI auch eine.

matzek: Wie erklären Sie sich die Tatsache,
dass der Hauptteil von Betroffenen (Arbeitslose) in Deutschland
kein Interesse am Protest hat?

Michael Sommer: In der Tatsache, dass die Leute
hoffnungslos sind und resigniert haben. Und dagegen müssen
wir angehen.

Moderator: "Dagegen angehen" klingt
floskelhaft – wie konkret?

Michael Sommer: Wir müssen Arbeitslose organisieren,
wir müssen ihre Interessen gegenüber der Politik vertreten
und wir dürfen uns nicht widerstandslos mit der Existenz der
Arbeitslosigkeit abfinden. Solange es Massenarbeitslosigkeit gibt,
werden wir sie skandalisieren.

Kaivanboxen: Wo sehen Sie, Herr Sommer, die Grenzen
des Vertretbaren für die Streikenden erreicht? Mein Vater streikt
in Düsseldorf nun schon seit Wochen. Ihm nimmt dieser Streik
mittlerweile mehr mit als die Arbeit es je getan hat.

Michael Sommer: Das kann nur die örtliche
Streikleitung beantworten. Ich weiß, wie schwierig die Situation
ist, wenn man lange Zeit streiken muss. In Düsseldorf haben
die Beschäftigten von Gate Gourmet 150 Tage streiken müssen,
bis sie erfolgreich waren. Wenn man einen Streik vorzeitig abbricht,
macht er die Situation nicht besser, sondern für die Betroffenen
schlechter. Deshalb müssen wir jede Unterstützung leisten,
damit die Streikenden durchhalten können.

hedon: Herr Sommer, danke dass Sie sich im Chat
den Fragen stellen! Das Image der Gewerkschaften ist seit Ihrer
Amtszeit nicht besser geworden. Woran liegt das?

Michael Sommer: Ich glaube, dass das Klima für
soziale Politik in diesem Land insgesamt sich verschlechtert hat
und dass wir größere Schwierigkeiten haben, uns in Medien
und Wissenschaft anständig zu platzieren. Und was mich selbst
betrifft, nehme ich ihre Frage zum Anlass, weiter nachzudenken.

mfrechen: Wenn ich Sie richtig verstehe, ist die
Aufweichung des Kündigungsschutzes, um es mit Ihren Wortes
zu sagen, "das Ende des Abendlandes ". Aber ist Kündigungsschutz,
so wie wir ihn haben, denn sozial gerecht? Provokant gesagt werden
dadurch oft Leute geschützt, die es eigentlich gar nicht verdient
haben, weil sie nicht mehr die Leistung bringen können oder
bringen wollen, und Leute, die eigentlich höher motiviert und
besser geeignet sind, werden geblockt.

Michael Sommer: Der Kündigungsschutz sagt
nicht mehr und nicht weniger, als dass niemand willkürlich
und ohne Begründung gekündigt werden darf. Wenn jemand
schlecht arbeitet oder dauerhaft fehlt, ist jederzeit eine Kündigung
möglich. Die Frage, ob Arbeitgeber davon Gebrauch machen, ist
deren Problem. Unsere Aufgabe ist es, Menschen vor Willkür
zu schützen.

Physikstudent: Der DGB behauptet immer, mehr Lohn
würde zu mehr Kaufkraft und daher zu mehr Wirtschaftswachstum
führen. Warum erhöhen dann nicht die Gewerkschaften ihre
Lohnforderungen dramatisch?

Michael Sommer: Weil wir realistische Politik
betreiben. Es nützt nichts, utopische Forderungen zu stellen
und sie dann nicht umsetzen zu können.

Ein Selbstständiger: Wann werden Sie sich
persönlich, Herr Sommer, für ein Ende der sinnlosen Streiks
einsetzen? Erst dann, wenn die Streikkassen leer sind oder bereits
dann, wenn Sie eingesehen haben, dass ihre Streikbemühungen
ins Leere laufen? Es ist doch eine Unverschämtheit, dass vor
dem Hintergrund von fünf Millionen Arbeitslosen für bezahlte
Zigarettenpausen gestreikt wird!

Michael Sommer: Ich empfehle Ihnen, mal einen Tag
an einem Band zu arbeiten, mit Überkopfarbeit und hoher Lärmbelastung.
Glauben Sie mir, Sie sind für jede kleine Pause dankbar. Im
Übrigen sind unsere Streikkassen gut gefüllt, also keine
Sorge.

Erhan: Herr Sommer, können Sie uns verraten,
wie hoch Ihr Einkommen ist?

Michael Sommer: Ja. Ich verdiene im Monat 11.000
Euro brutto und das 13,5-mal im Jahr.


Ein Selbstständiger: Was hat das Land denn
von einem restriktiven Kündigungsschutz, der kleine Betriebe
daran hindert, nach Bedarf einzustellen?

Michael Sommer: Kleine Betriebe dürfen heute
schon nach Bedarf einstellen. Es geht um die Frage, ob man nach
Bedarf oder Tagesform entlassen darf. Zu meinem Bedauern gilt der
Kündigungsschutz für Betriebe bis zu 10 Beschäftigten
nicht. Das sollte aber kein Tipp, sondern nur eine Information sein.

Kassenpatient: Was können Gewerkschaften
in einer globalisierten Welt überhaupt noch ausrichten? Sind
die Wirtschaftsvertreter nicht schon lange viel besser organisiert
(Lobbyarbeit)?

Michael Sommer: Ja, aber so schlecht sind wir
auch nicht. Wir haben gerade in den vergangenen Jahren unsere internationale
Zusammenarbeit wesentlich gestärkt. Wir werden aus drei internationalen
Gewerkschaftsbünden im November einen machen. Auch mit dem
Ziel, unseren Einfluss auf internationale Organisationen wie die
Weltbank, dem Internationalen Währungsfond, die Internationale
Arbeitsorganisation wesentlich zu verstärken.

UEK: Was passiert denn jetzt eigentlich mit Ihrer
Kollegin Engelen-Kefer? Nachdem schon die Nachfolger im Gespräch
waren, ist jetzt wieder Ruhe auf dem Gebiet. Wäre es nicht
gut, Frau Engelen für eine weitere Amtszeit zu gewinnen, weil
sie dem DGB ja doch auch ein starkes Profil gegeben hat und in der
Öffentlichkeit sehr beliebt ist?

Michael Sommer: Ursula Engelen-Kefer hat eine
gute Arbeit geleistet. Dafür danken wir ihr. Aber sie wird
Anfang Juli 63 Jahre alt und dann gilt auch für Menschen in
Gewerkschaften die Weisheit aus dem Buch der Prediger: Alles hat
seine Zeit.

Juling: Wie stehen Sie zu dem Thema Grundeinkommen?
Sie haben sicher schon davon gehört. Kein Mensch bräuchte
Existenzängste haben. Arbeitnehmer hätten eine stärkere
Verhandlungsposition gegenüber den Arbeitgebern. Ein freier,
flexibler Arbeitsmarkt würde entstehen, der seinen Namen auch
verdient, da Angebot und Nachfrage unbeeinflusst aufeinander träfen
und den Preis (Lohn) bilden würden. Die Gewerkschaften würden
allerdings an Einfluss einbüßen.

Michael Sommer: Dass wir dieses Instrument für
fragwürdig halten, hat mit ihrer letzten Feststellung nicht
zu tun. Ein Grundeinkommen für jeden wäre a) sehr schwer
zu finanzieren und b) wahrscheinlich auch ungerecht, weil die Leistung,
die jemand bringt, der arbeitet, nicht mehr in einem angemessenem
Verhältnis stehen würde zu dem, der nicht arbeitet. Und
die Utopie des wissenschaftlichen Kommunismus, dass unsere Gesellschaft
so produktiv ist, dass jeder im Reich der Freien leben kann, dürfte
noch für Jahrtausende eine Utopie bleiben.

Schtyle: Was halten sie von der Einführung
von Kombilohn-Modellen im Niedriglohnsektor?

Michael Sommer: Relativ wenig. Ich halte sie dann
für denkbar und richtig, wenn man die Zeit befristet einsetzt
und für besonders extreme Problemgruppen bei den Langzeitarbeitslosen.
Konkret: es geht um die Gruppe der Über-50-Jährigen und
der Unter-20-Jährigen. Für sie könnte ein zeitlich
befristetes Kombilohnmodell durchaus die Brücke in die reguläre
Beschäftigung sein.

htw: Was halten Sie davon, dass es mittlerweile
eine Zwei-Klassen-Gesellschaft bei den Arbeitnehmern gibt: Gewerkschaftlich
Organisierte und die, die zu Billiglöhnen arbeiten müssen?

Michael Sommer: Ergänzung zu Schtyle: Im
Übrigen würde eine flächendeckende Einführung
von Kombilöhnen nicht bezahlbar sein und nur dazu führen,
dass die Arbeitgeber einen Teil ihrer Lohnverpflichtung an den Staat
abdrücken würden.

Zu htw: Die Grenze der Zweiklassengesellschaft verläuft anders,
weil wir auch im Bereich der Billiglöhne Gewerkschaftsmitglieder
haben. Das gesellschaftliche Phänomen, dass wir Menschen haben,
die von einer Vollzeitbeschäftigung nicht leben können,
ist ein Skandal und muss beseitigt werden. Ich hoffe sehr, dass
es gelingen wird, in diesem Jahr politisch eine klare Grenze nach
unten zu ziehen, z.B. durch einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50
Euro pro Stunde.

Moderator: Wird das die Forderung des DGB-Bundeskongresses
im Mai sein?

Michael Sommer: Ja.

BobMailman: Wie beurteilen Sie den Fall SAP, wo
nun ein Betriebsrat mit Gewerkschaft eingeklagt wird? Im Vergleich
steht SAP mit Mitarbeiterzufriedenheit und Gehältern auch ohne
Gewerkschaft sehr gut da.

Michael Sommer: Das eine schließt das andere
nicht aus. Man kann zufrieden sein und einen guten Betriebsrat haben.
Das ist in den meisten Unternehmen auch der Fall. Bei SAP gibt es
einen Arbeitgeber, der faktisch seit Existenz der Firma versucht,
organisierte von ihm nicht zu kontrollierende Interessenvertretungen
zu verhindern. Fragen Sie sich mal, warum der das tut. Doch mit
Sicherheit nicht, um seinen Beschäftigten mehr Rechte zu geben.

joste: Sind 7,50 Euro Mindestlohn nicht zu niedrig
im Vergleich mit anderen Ländern?

Michael Sommer: Ja und nein. Frankreich wird im
Juni bei 8,15 Euro liegen. Da müssen wir auch irgendwann hinkommen.
Aber wir sollten nicht vergessen, dass es Bereiche gibt, in denen
heute millionenfach Menschen weniger haben als 4,50 Euro die Stunde.
7,50 Euro wäre der Einstieg und dann geht es weiter.

Arbeiter: Kennen sie z.B. das "Bocholter
Modell ", bei dem den Siemens Mitarbeitern bis zu 30 Prozent
des Gehalts gekürzt wurde? Wie konnte das passieren, und wie
kommt man da wieder heraus? Jeder kann sich mal selber ausrechnen,
ob er mit 30 Prozent weniger Gehalt pro Monat noch zurechtkommt.

Michael Sommer: Das so genannte Bocholter-Modell
war das Ergebnis einer miesen Erpressung, mit der Drohung von Werksschließung.
Diesem Modell folgten viele Arbeitgeber nach und wir haben gelernt,
dass wir uns dagegen wehren müssen. Die AEG in Nürnberg
ist ein Musterbeispiel, wie man sich wehren kann. Und derzeit streiken
hier in Berlin 600 Beschäftigte der Firma CNH, früher
Ohrenstein und Koppel (Baumaschinen) für ihre Existenz. Und
das heißt, für einen anständigen Arbeitsplatz bei
anständiger Entlohnung.

paul rewila: Bei 7,50 Euro ist klar: Einfache
Montagetätigkeiten gehen ab nach Osteuropa.

Michael Sommer: Bei 7,50 Euro ist klar: Dieser
Lohn gilt für jeden, der in Deutschland beschäftigt wird.
Kein gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland kann verhindern, dass
Arbeit ins Ausland verlagert wird. Der Verzicht übrigens auch
nicht.

DerBenutzer: Viele Jugendliche haben in Frankreich
keine Arbeit – viele Experten, auch Gewerkschaftler, führen
das auf den hohen Mindestlohn zurück. Ist es denn dann überhaupt
sinnvoll, einen generellen Mindestlohn einzuführen, wenn er
Beschäftigung verhindert?

Michael Sommer: Ich kenne diese Experten nicht.
Das Gegenteil ist der Fall. Der gesetzliche Mindestlohn in Frankreich
oder Großbritannien hat auf mittlere Sicht nicht Arbeit verhindert,
sondern Beschäftigung stabilisiert.

TimS: Herr Sommer, ist es nicht Zeit vom tot gerittenen
Gaul der Erwerbsarbeit abzusteigen und neue Konzepte zu diskutieren
und zu fördern? Wären Sie bereit für eine neue Sicht
und einen Paradigmenwechsel, der auch Ihre Macht kosten könnte?

Michael Sommer: Ja, wenn Sie mir den Ersatzgaul
beschreiben können.

coogy: Wenn auf dem deutschen Arbeitsmarkt weder
genügend Fachkräfte noch Spargelstecher vorhanden sind,
warum haben wir dann überhaupt Arbeitslosigkeit?

Michael Sommer: Weil Menschen in Arbeitslosigkeit
entlassen wurden und teilweise ihre Qualifikation verloren haben.
Wir haben über 60.000 arbeitslose Ingenieure, die mit jedem
Monat Arbeitslosigkeit in der sich rapide ändernden Arbeitswelt
ein Stück Qualifikation verlieren. Und was das Spargelstechen
angeht: Wenn es anständig bezahlt wird, finden sie auch in
Deutschland Spargelstecher. Und seitdem die polnische Regierung
darauf besteht, für polnische Saisonarbeiter auf deutschen
Spargelfeldern 30 Prozent Sozialversicherung nach Polen zu überweisen,
hat sich das Weltbild manches deutschen Spargelbauers deutlich verändert.

homeboy: Wie sehen Sie die Zusammenarbeit mit
der jetzigen Regierung, vor allem natürlich mit der SPD? Würden
Sie sich da eine stärkere Unterstützung wünschen?

gewerkschaftler: Herr Sommer, wie ist das für
Sie in einer Großen Koalition? Sie scheinen sich ja ganz gut
arrangiert zu haben, nachdem Sie der SPD im Wahlkampf nicht wirklich
unter die Arme greifen wollten und damit die Große Koalition
mit verursacht haben?

Michael Sommer: Wir haben mit der Großen
Koalition in weiten Bereichen die Möglichkeit vernünftig
zusammenzuarbeiten. Und die politische Konstellation einer Großen
Koalition ist nicht schlecht für uns. Dennoch, auch mit dieser
Regierung werden wir Konflikte haben und austragen, von der Rente
bis zum Kündigungsschutz. Und persönlich bin ich dem Wähler
dankbar, dass er dem deutschen Volk Guido Westerwelle als Vizekanzler
erspart hat.

stefan_sys: Die Wirtschaft arbeitet global, aber
Gewerkschaften sind immer noch in erster Linie national tätig.
Kann Gewerkschaftsarbeit so überhaupt wirkungsvoll sein?

Michael Sommer: Die nationale Gewerkschaftsarbeit
stößt immer mehr an ihre Grenzen. Deshalb werden wir
zwei internationale Projekte wesentlich vorantreiben: Die Zusammenarbeit
der Gewerkschaften in der EU, die noch konkreter und noch ergebnisorientierter
geführt werden muss. Aber unser Kampf gegen Lohndumping in
der Dienstleistungsrichtlinie war ein deutlicher Hinweis, was wir
machen müssen und was wir auch erfolgreich schaffen können.
Noch schwieriger ist eine universelle Zusammenarbeit der Gewerkschaften,
weil sie vor allem auch Solidaritätsarbeit für die Ärmsten
der Armen ist. Aber auch hier machen wir Fortschritte.

Moderator: Kurz zurück zum Spargel:

paul rewila: Gegenargument: Wenn Spargelstechen
in Deutschland "anständig " bezahlt wird, verliert
der Spargelbauer auch noch seinen Job. Dann kaufen die Deutschen
halt Spargel aus Griechenland.

Michael Sommer: Ich glaube, der deutsche Spargel
ist so gut, dass die Deutschen auch bereit sind, zehn Cent mehr
pro Pfund zu bezahlen. Und generell ist die Vorstellung, dass man
Arbeit so billig machen muss wie Dreck, eine, die mit einer zivilisierten
Welt nichts zu tun hat.

weiss: Wenn die Gewerkschaften nicht endlich etwas
für ihre Senioren-Mitglieder tun, treten sie aus der Gewerkschaft
aus. Allein bei Verdi sind über 400.000 Senioren organisiert.
Diese Senioren könnten theoretisch eine eigene Gewerkschaft
– wie in Italien und Spanien – gründen, um sich endlich Gehör
zu verschaffen. In der DGB-Satzung werden die Senioren mit keiner
Silbe erwähnt.

Michael Sommer: Das stimmt nicht ganz. Die Seniorenarbeit
ist Teil des DGB. Aber im Unterschied zu Spanien oder Italien sind
die Senioren genauso Gewerkschaftsmitglieder wie Arbeitslose oder
Berufstätige. Denn sie haben zu den Interessen ihrer anderen
Kollegen auch sehr enge Berührungspunkte. Ich glaube, dass
eine Seniorengewerkschaft nicht wirklich eine bessere Interessenvertretung
der Senioren bedeuten würde. Aber wir können unsere gewerkschaftliche
Seniorenarbeit noch verbessern.

Redeekers: Der Weg zur Abschaltung der Kernkraftwerke
in Deutschland hat den Strompreis in Deutschland unwahrscheinlich
verteuert, Energie kostet in Deutschland mehr als anderswo in Europa.
Dadurch werden mehr Jobs abgebaut und Arbeitnehmereinkommen reduziert,
als durch andere politische Maßnahmen. Wo war da eigentlich
der DGB?

Michael Sommer: Es sind ja kaum Atomkraftwerke
bisher abgeschaltet wurden und die steigenden Strompreisen kommen
vor allem von den gestiegenen Öl- und Gaspreisen. Und der DGB
ist dort, wo es um Energieeinsparungen und die Nutzung neuer Energiequellen
wie Windkraft geht.

Moderator: Matthias Platzeck wollte das Verhältnis
der SPD zu den
Gewerkschaften entkrampfen. Jetzt kommt Kurt Beck. ändert das
etwas für Sie?

Michael Sommer: Nein, ich glaube, dass wir auch
mit Kurt Beck das Verhältnis der Gewerkschaften zur SPD wieder
normalisieren können. Dennoch: Ich hätte gern mit Matthias
Platzeck weiter gearbeitet.

Moderator: Das waren 60 Minuten tagesschau-Chat.
Herzlichen Dank an alle User für ihr Interesse und die Bitte
um Verständnis an jene, die mit ihrer Frage heute nicht durchgekommen
sind. Besonderen Dank an unseren Gast Michael Sommer, der sich die
Zeit genommen hat, mit uns zu chatten.

Michael Sommer: Machen Sie es gut und unterstützen
Sie die Gewerkschaften.