"Die letzten Tage" – dieser Kinodokumentarfilm der Shoah Foundation,
gedreht vom Regisseur James Moll, ist ein aktuelles Beispiel dafür: Erinnert wird an den Holocaust auch
außerhalb der Gedenkstätten, etwa im Film. Wie sieht es damit im Internet aus? Wie weit hat sich
virtuelles Gedenken schon entwickelt?


Die Survivors of the Shoah Visual History Foundation wurde 1994 vom amerikanischen Starregisseur
Steven Spielberg gegründet. Ihr Ziel ist es, die Aussagen und Erinnerungen der letzten Überlebenden und
Augenzeugen des Judenmords aufzuzeichnen, solange das noch möglich ist. Mit Hilfe dieser Lebenszeugnisse
soll ein digitales Archiv aufgebaut werden, auf das sowohl Wissenschaftler, Studenten und Schüler als auch
Interessierte zugreifen können. Ferner sollen damit Museen, Ausstellungen und noch zu schaffende regionale
Videoarchive unterstützt werden. Eine entsprechende interaktive CD-ROM für Schüler und drei Dokumentationen,
darunter "Die letzten Tage", wurden bereits produziert.

Für dieses ehrgeizige Projekt waren bisher mehr als 3.500 speziell geschulte, freiwillige Interviewer und 1.000
Videofilmer unterwegs. Sie haben die Aussagen von über 50.000 Menschen aus allen Erdteilen aufgezeichnet, insgesamt
sind dabei mehr als 100.000 Stunden Archivmaterial zusammengekommen. Hinter dem Projekt verbirgt sich aber weit mehr
als reine Zahlenspielerei. Vielmehr verbindet sich damit eine andere Qualität historischen Gedenkens, die dem Thema
angemessener ist. Es geht nicht um die so genannte objektive Geschichtsschreibung, sondern vielmehr um das subjektive
Erleben, die Wahrnehmung des Einzelnen. Nirgendwo sonst ist es laut ZEIT-Autor Georg Seeßlen "so notwendig, das
individuelle Schicksal, das einzelne Menschen-Bild gegen die Mechanik und die Logik der Macht zu retten wie in der
Geschichte des Holocaust".

Die zentrale israelische Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem stellt die eigenen Aktivitäten
auf ihrer Homepage ausführlich vor, und auszugsweise ist das dort archivierte Material online verfügbar, so dass ein
kleiner Teil der Erinnerungsarbeit virtuell geleistet wird, auch wenn dort keine förmliche, virtuelle Gedenkstätte
errichtet wurde. Ein Bestandteil von Yad Vashem ist beispielsweise die "Halle der Namen", die die so genannten "Seiten
der Aussagen" (Pages of Testimony) beherbergt. Dabei handelt es sich um von Freunden oder Verwandten erstellte
Erinnerungsseiten mit den Namen, Daten und persönlichen Informationen ermordeter Juden, deren Andenken so auf eine
persönliche Weise bewahrt werden soll. Ein halbes Dutzend von ihnen ist stellvertretend für die vielen anderen
(Papier-) Seiten via Internet einzusehen. Sie sollen als symbolische Grabsteine dienen.

In naher Zukunft sollen alle diese Erinnerungsseiten zumindest online durchsucht werden können. Seit acht
Jahren werden diese Seiten auf Computer umgestellt. Wegen der noch nicht abgeschlossenen Umstellungsarbeiten
ist ein Internet-Zugriff, zum Beispiel für eine Namenssuche, zur Zeit noch nicht möglich.

Ferner sind Exponate aus den Fotoarchiven abrufbar. Mit ihnen wird nicht nur die Verfolgung dokumentiert,
gleichzeitig wird die Biografie der dort abgebildeten Verfolgten ausgeleuchtet. Auch hier wird das Bild des
einzelnen Menschen erkennbar, sein Name, Beruf, Lebensweg. Er ist nicht eines von zahllosen gesichtslosen
Opfern und Verfolgten – der Versuch der Nazis, alles auszulöschen, auch die Erinnerung an die Menschen, nicht
nur ihre physische Existenz, dieser Versuch wird nachträglich zumindest ein Stück weit zunichte gemacht. Die
Rettung des einzelnen Schicksals vor der Logik der Macht kann auch via Internet stattfinden.

Auf der Homepage findet man weiterhin eine besondere Fotodokumentation, die zwar weniger die individuelle
Dimension der Opfer betont, aber einen Eindruck vom KZ-Leben vermittelt: das Auschwitz-Album. Es umfasst
knapp 200 Fotos, die von SS-Soldaten 1944 aufgenommen und von einer Überlebenden nach der Befreiung in einer
Baracke gefunden wurden. Dieses Album zeigt den ganzen Ablauf der Ermordung und Ausbeutung der ungarischen
Juden mit Ausnahme der eigentlichen Tötung: von der Selektion an den Rampen über die Registrierung und Entlausung
der Arbeitsfähigen, Plünderung der Habseligkeiten bis hin zum Weg der Opfer zu den Gaskammern, die im Hintergrund
dunkel zu erahnen sind. Ergänzt wird das Album durch eine Luftaufnahme der US-Air Force, auf der sogar die
Rauchschwaden der Krematorien erkennbar sind. Markierte Punkte auf dem Bild führen zu den dazu passenden Fotos
des Albums, markante Orte wie die Rampe oder die Krematorien sind beschriftet. Dieses Album ist ein erschreckendes
und im negativen Sinne beeindruckendes Zeugnis der Ermordung, beispielsweise die Fotos alter versehrter Männer,
die die SS-Leute lakonisch als "nicht mehr einsatzfähige Männer" einstuften; die Fotos der Frauen an den Rampen
während der Selektion, unterschrieben mit dem harmlosen Zusatz: "Frauen bei der Ankunft". Die Arbeitsunfähigkeit
und die Selektion waren gleichbedeutend mit Todesurteilen, während die lakonischen Kommentare belegen, dass es den
Tätern kaum mehr abgerungen hat als ein paar nichtssagende Worte.

Die Homepages der meisten deutschen KZ-Gedenkstätten ähneln einander und bieten neben Basisinformationen für
Besucher, wie Öffnungszeiten, Anfahrtswege und Auskünften über Führungen, meist ausführliche Informationen
über Geschichte und spezielle Funktionen der einzelnen Lager. Die Aufmachung dieser Seiten ist dezent und sachlich,
ohne aufwendige Effekte, also dem Thema in seiner Schlichtheit angemessen.

Beispielhaft dafür ist die sehr übersichtlich und informativ gestaltete Homepage der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Deren Bedeutung als Modell-Lager und Mörderschule der SS unter
der besonderen Mitwirkung Theodor Eickes wird herausgestrichen, das Leben und Leiden der Häftlinge erschöpfend
in knappen Texten mit Originalkommentaren der Häftlinge und jeweils einem passenden Foto dokumentiert.
Neben Lageplan und Chronik des KZs wird auch der jeweiligen Opfergruppen gedacht.

Weit umfangreicher und bisweilen unübersichtlicher ist das Angebot der Gedenkstätte Buchenwald.
Neben der ausführlichen Forschungsdokumentation über das sowjetische Speziallager 2, das sich dort von 1945 bis 1950
befand, zeichnet es ein genaues Bild des Konzentrationslagers und des Lebens von Tätern und Opfern. Eine
Übersichtskarte mit den einzelnen anklickbaren Gebäuden und ihren detailliert erläuterten Funktionen vermittelt
eine plastische Vorstellung von dem Konzentrationslager, dessen Entwicklung mit seinen unterschiedlichen Opfergruppen
– erst Kriminelle, politische Gegner und Zeugen Jehovas, dann Juden und Kriegsgefangene – aufgezeigt wird. Ferner
werden die zahlreichen Außenlager berücksichtigt. Das Datenbankprojekt der Gedenkstätte greift dabei das Prinzip
der Fokussierung individueller Schicksale auf: Ein Gedenkbuch der KZ-Opfer mit ihren biografischen Angaben ist im
Aufbau und soll genauso digitalisiert werden wie ein Bildkatalog der rund 7.000 Fundstücke umfassenden archäologischen
Sammlung.

Ein weiteres Projekt dieser Art wird von der KZ-Gedenkstätte Mauthausen aufgebaut.
Innerhalb der nächsten fünf Jahre soll jeder der insgesamt 200.000 dokumentierten ehemaligen Häftlinge in der dortigen
Datenbank erfasst sein. Der computergestützte Nachweis ist häufig die einzige Möglichkeit der Opfer,
Entschädigungsansprüche für ihren Aufenthalt geltend zu machen. Des Weiteren versprechen sich die Projektinitiatoren
davon eine verbesserte Dokumentation bislang unbekannter Aspekte der Geschichte des Konzentrationslagers.

Gedenkarbeit verrichtet auch Jewish-Berlin-Online, ein "Servicemagazin für
das jüdisch-berlinische Stadtgeschehen": Dort wurde eine virtuelle Gedenkstätte für die ermordeten und verschollenen
Berliner Juden eingerichtet. Das Internetmagazin des Herausgebers Rafael Korenzecher verfolgt das Ziel, jüdisches
Leben transparenter zu machen sowie Verständnis und Miteinander von Juden und Nichtjuden zu fördern. Eine Datenbank
mit den Namen von über 55 000 Menschen ist Kernstück dieser Gedenkstätte, die eine Suchmaschine beinhaltet, mit der
nach bestimmten Namen gefahndet werden kann.


Lesen Sie zu diesem Thema auch das Interview mit dem Politikwissenschaftler
Dr. Erik Meyer
über die Perspektiven virtuellen Erinnerns.