Mindestens einmal am Tag, meistens wenn ich abends im Bett sitze, öffne ich eine Notiz-App auf meinem Handy und beginne zu tippen. Tagebuch-ähnliche Einträge entstehen dann, Gefühle, geschält und getrocknet, durchgekaut vom Tag. Ich tippe sie und meine Nägel klicken und klackern auf dem hell erleuchteten Display. So persönlich, wie wenn ich sie mit meinem Lieblingsbleistift in mein Tagebuch kritzle, werden die Einträge nicht. Und doch sind sie nicht für fremde Augen gedacht. Wenn ich mit dem Schreiben in mein Tagebuch fertig bin, mache ich es zu, binde das Gummiband um den Einband und lege es in meine Nachttischschublade. Irgendwann geht meinen Tages-Gedanken die Luft aus. Dann mache ich mein Handy aus und lege es auf meinen Nachttisch. Zwischen fremden Augen und meiner inneren Welt sind entweder ein paar Handgriffe oder ein paar Klicks; wenn jemand meine Zeilen lesen will, muss er die knarzende Holzschublade öffnen und in ihr wühlen, oder meine Passwörter knacken. 

Ich schreibe zwar für mich, und doch ertappe ich mich oft dabei mehr zu kontextualisieren als ich müsste. Ist Ich schreibe zwar für mich, und doch ertappe ich mich oft dabei mehr zu kontextualisieren als ich müsste. Ist das, was ich schreibe, für mein zukünftiges Ich oder doch für jemanden anderen? Wenn ich einmal sterbe, wird man mein Tagebuch finden, aber auch mein Handy. Zweiteres höchstwahrscheinlich zuerst. Was soll damit passieren? Wird jemand mein Passwort knacken oder wird es bereitgestellt sein? Wird eine Wegbeschreibung zu meinem Tagebuch irgendwo verzeichnet sein? Wird doch jemand wissen, was ich digital hinterließ? 

Digitale Nachlässe sind schon seit Jahren relevantbleiben aber unbeachtet 

Ein Testament habe ich noch nicht, aber auch nichts, was mein digitales Erbe regelt. Damit bin ich nicht allein – laut einer im Jahr 2024 von der Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analyse durchgeführten, repräsentativen Umfrage haben 3% der 18 bis 29-jährigen in Deutschland ihren digitalen Nachlass geregelt, also dafür gesorgt, dass Hinterbliebene Zugriff auf ihre digitalen Daten haben werden. Für meine Generation, die Gen Z, die wir nicht nur mit, sondern im Internet aufgewachsen sind, aber vor allem für folgende Generationen wird das Nachdenken über unser digitales Erbe immer essenzieller. 

Bereits im Jahr 2011 schrieb Johannes Thumfart in der Zeit über sogenannte „Digitale Zombies“ – Accounts von Verstorbenen, die nie gelöscht wurden und somit noch immer das digitale Land bevölkern. Thumfart machte sich auch damals schon Sorgen um die Zukunft: es bräuchte digitale Müllkippen, spätestens wenn es zukünftig mehr tote als lebende Facebook-Nutzer gäbe. Man kann bei Facebook unter Vorlage einer Todesanzeige und eines Nachlassbriefs oder einer Vollmacht die Entfernung eines Accounts beantragen oder ihn in einen Gedenkzustand versetzen lassen; der Account bleibt bestehen, hinter dem Namen des Verstorbenen steht jedoch „in Gedenken“. Es ist ebenso möglich als aktiver Facebook-Nutzer einen Nachlasskontakt festzulegen, der nach dem Tod für das Profil zuständig ist. Bisher war es bei meta, zu dem unter anderem Facebook und Instagram gehören, als Erbe oder Erbin nur möglich das Recht zu bekommen einen Account anzuschauen, nicht aber ihn aktiv zu nutzen. Das änderte sich im Dezember 2024, als das Oberlandesgericht Oldenburg in einem Präzedenzfall entschied, dass Erb*innen volles Nutzungsrecht für das Instagram-Profil eines verstorbenen Angehörigen bekommen können. 

Wie ist es aber mit meinen E-Mails oder meiner Notiz-App? 
Auch E-Mail Accounts mitsamt Mails können vererbt werden, jedoch gibt Google keine Zugangsdaten an Hinterbliebene, es sei denn man wurde vom Verstorbenen bevollmächtigt Zugriff auf den Account zu bekommen. Und was meine Notiz-App betrifft: das Passwort müsste wohl hinterlegt sein. Das wohl sinnvollste, wenn es um unsere zurückbleibenden Daten, digitale Briefe oder auch Dating-Apps geht, ist es sich selbst darum zu kümmern, dass unsere Angehörigen lesen können, was sie lesen sollen und sehen können, was sie sehen sollen. Es ist deswegen ratsam in einem verschlüsselten Dokument oder einem Passwort-Manager Zugangsdaten zu hinterlegen und das Passwort für diese entweder jemandem nahen mitzuteilen oder es an einem sicheren Ort zu hinterlegen und einer vertrauten Person von besagtem Ort zu erzählen. 

Vorsorge kann Selbstfürsorge sein

Wir scheuen uns vor dem Tod, vor unserem Ableben – ich selbst habe in diesem Text lieber den Begriff „Angehörige*r“ verwendet als „Erblasser*in“. Es ist eine unangenehme, gar bedrängende Vorstellung sich selbst als die Summe seiner Daten zu begreifen. Doch die Realität, gerade für uns Anfang- Mitte Zwanzigjährigen ist eine, in der unser Schaffen oftmals ein nahezu ausschließlich digitales ist. Die Spuren unserer Leben, Hobbys und Arbeit weben sich in Netzen durch das Internet, statt sich in Papierform auf unseren Schreibtischen zu stapeln. Wir fahren in die Ferien und halten unsere Urlaubserinnerungen mit den Kameras unserer Handys fest. Wir laden diese Fotos in unsere Clouds und verwenden sie vielleicht später, um mit Algorithmen Freunde oder Liebschaften zu finden. Wir schreiben nicht in Zeitungen, sondern auf Blogs und unsere Musik ist gesammelt in Spotify-Playlisten, nicht aber auf Mixtapes und Schallplatten. Meine Gefühle erstrecken sich zwar über ein prall gefülltes Tagebuch, aber auch ellenlange scrolls einer Notiz-App. 
Und morgen räume ich mein Wohnzimmer auf. Nachdem ich den Esstisch freigeräumt und abgewischt habe, staube ich meinen Schallplattenspieler ab und gieße die Pflanzen. Dann setzte ich mich hin und lösche ein paar E-Mails, Fotos und alte Dokumente. Nicht die E-Mails meiner besten Freundin von vor vier Jahren oder die Fotos die ich vor einem Monat von den Bergen gemacht habe. Auch nicht mein Zeugnis aus der dritten Klasse. Aber die Newsletter-Mails von vor einem Jahr, die dritte Version eines Spiegel-Selfies und das Dokument von vor sechs Monaten, welches ich nie wieder brauchen werde. 

Ich lebe nicht nur mit ständigem Blick auf meine Pflanzen und dem Staub auf meinem Schallplattenspieler. Ich lebe auch mit mehreren tausend Bildern in meiner Camera Roll und einem sich füllenden E-Mail-Cloudspeicher – und ich werde damit sterben. Jemand wird durch meine Fotos swipen und meine Mails lesen. Beides wird in Teilen gelöscht werden. Ich weiß noch nicht, wer diese Aufgabe übernehmen wird, aber ich weiß, dass ich es dieser Person einfacher machen möchte. Und solange ich die Einzige bin, die auf meinem Handy scrollt, swiped, klickert und klackert möchte ich es auch mir einfacher machen. Ich möchte saubere Luft atmen, auf eine blühende Pflanze schauen, einfach meine E-Mails finden und nicht durch zwanzig Selfies klicken müssen, um Berge sehen zu können. 
Bevor ich heute ins Bett gehe, überlege ich mir, wer mein Master-Passwort bekommen soll.  

Foto Copyright: Noomi Lucia Blumenberg