Eine stille Revolution steht bevor – Die Zukunft des geistigen Eigentums wird dieser Tage entschieden.
Die Ironie wurde uns zu spät bewusst: Es war der Traum von der totalen Freiheit, von Wissen und Wohlstand für jedermann, der uns in die Unmündigkeit lockte. Freiheit braucht Kontrolle. Und die Verbreitung von Raubkopien, Viren und Schund im Internet war ja ein reales Problem. Die Lösung, die kommendes Jahr, so wie es aussieht, fast unbemerkt vollendet werden wird, besteht eigentlich nur aus einer subtilen Abwandlung der juristischen Definition von “geistigem Eigentum” und einer technischen Neuerung. So leicht wird es sein, die mächtigsten Demokratien durch einen zentral gelenkten Industrietrust – der TCP-Alliance – zu ersetzen. Bleibt die Frage, ob sich dies noch verhindern lässt.
Dabei wurde über den Wert von “geistigem Eigentum” immer gestritten, nie formulierte ein Rechtsphilosoph eine logisch konsistente und durchsetzbare Definition. Lange Zeit behalf man sich mit einem Kompromiss: Der rechtliche Schutz sollte umfassend genug sein, damit geistige Arbeit attraktiv bleibt und die Urheber nicht aus Angst vor Plagiaten ihre Erfindungen geheim halten. Andererseits darf dieser Rechtsschutz nicht die Weiterentwicklung von Gesellschaft und Geist verhindern.
Wer mit dem geistigen Werk eines anderen Geld verdienen wollte, musste es dem Urheber abkaufen. Nur für Wissenschaft, Bibliotheken oder den privaten Tausch war es frei. Und die Marktforschung konnte zeigen, dass den Urhebern durch die freien Kopien kein Schaden entstand. Viele jugendliche Menschen wurden durch das freie Kopieren später zu Käufern. Zudem blieb den Urhebern für die privaten und wissenschaftlichen Kopien ein Entgelt – durch Pauschalabgaben auf Kopierer und Speichermedien.
Dann kam das Internet. Anfangs schaffte es viele kleine Verbesserungen, ersparte die Fahrt zur Bibliothek, digitale Kopien ließen sich ohne Qualitätsverlust herstellen. Alle Grenzen, die den freien Zugang zum öffentlichen Wissen verhindert hatten, schienen zu fallen. Aber zugleich berichteten die Rechteverwerter der Popstars und Hollywoodstudios von Umsatzeinbußen – die wahrscheinlich auch durch Raubkopien entstanden waren. Außerdem waren die digitalen Speichermedien nicht mit einer Schutzabgabe belegt, so dass die Rechteverwerter nicht durch das Geschäft mit CD-Rohlingen entschädigt wurden.
Die ersten Abwehrmaßnahmen wirkten eher lächerlich. Fast konnte man Mitleid bekommen mit den Goliaths aus der Musikindustrie im Kampf gegen Computerdavids, die alle Schutzmechanismen knackten. Mal ging die Industrie gerichtlich gegen Tauschbörsen vor, doch kurz darauf entstanden zehn neue. Mal versuchten sich die Konzerne selbst in der Guerillataktik und mischten unter die raubkopierten Werke Computerviren. Dies, immerhin, machte den Austausch von Raubkopien überaus mühselig.
Trotzdem sahen viele schon das Ende der kommerziellen Verwertung von geistigem Eigentum nahe. Mancher Philosoph phantasierte von einer Zukunft, da Arbeit nicht mehr mit Geld bezahlt werde, sondern mit der neuen Währung des Internets namens “Aufmerksamkeit”. Aber hätte es wirklich ernste Nachteile gehabt, wenn sich die Raubkopien als unausrottbar erwiesen hätten? Wäre uns deshalb auch nur ein Song von Madonna erspart geblieben? Das Popgewerbe wäre ein gutes Geschäft geblieben, nicht nur durch den Verkauf von Konzertkarten und Merchandising-Produkten.
Doch es kam anders. 1994 beschloss die Welthandelsorganisation, “geistiges Eigentum” als gewöhnliche Handelsware zu definieren, mit im Wesentlichen gleichen Rechten im kapitalistischen Wirtschaftssystem wie beim materiellen Eigentum. Wo diese Gleichheit nicht besteht, sollten technische Vorkehrungen sie künstlich herstellen. Schrittweise wurden diese Grundsätze in nationales Recht umgewandelt – mit dem “Digital Millenium Copyright Act” der USA von 1998 und anschließend mit der sperrigen “Richtlinie zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Rechte in der Informationsgesellschaft” der EU vom Sommer 2001. Bis zum 22. Dezember 2002, so war darin festgelegt, musste sie in allen Mitgliedsstaaten zu gültigem Recht werden.
Allein Deutschland verspätete sich – aber nicht aus Einsicht in die Tragweite der Gesetzesinitiative. Zwar beklagten einige Abgeordnete, dass das neue Urheberrecht nichts zum Schutz öffentlicher Bibliotheken und legaler Privatkopien unternähme. Aber der wesentliche Punkt ist bisher allen Volksvertretern entgangen. Die Radikalität der Neudefinition von “geistigem Eigentum” verblasst vor der unscheinbaren Sonderregel zu einem Einzelfall, der im hinteren Teil der EU-Richtlinie und aller anderen Gesetze behandelt wird. Sie betrifft ein kleines, aber ungewöhnliches Produkt geistiger Arbeit, nämlich eine elektronische Erfindung zum “Management digitaler Rechte”. Nie war eine rechtliche Revolutionierung subtiler formuliert, nie war sie mächtiger.
Im Detail: Die Gesetze fordern den Rechteverwerter auf, zum Schutz geistigen Eigentums eine weltweit einheitliche technische Systemlösung zu entwickeln und bei jedem Nutzer zu installieren. Diese Lösung soll geistigem Eigentum eben jene fehlenden Eigenschaften verleihen, die notwendig ist, damit es dem materiellen Eigentum gleichsteht. Insbesondere soll jede Kopie zu einem “individuierbaren” Gegenstand gemacht werden, der jederzeit nur mit Zustimmung des Eigentümers von ihm namentlich bekannten Kunden verwendet werden kann. Die Betreiber dieses globalen Schutzmechanismus werden ermächtigt, das System zu betreiben und zu kontrollieren. Sie dürfen gerichtlich gegen jeden Versuch vorgehen, den Schutzmechanismus zu umgehen, ja sie können den Delinquenten sogar den Internetzugang verwehren und damit eben den Zugang zu geistigem Eigentum. Alle Staaten werden verpflichtet, Polizei und Justiz zur Bestrafung von Rechtsbrüchen einzusetzen.
Ein gigantischer Verwaltungsaufwand! Aber gibt es nicht Hacker, die das System knacken? Ist es überhaupt realisierbar? Ja. Es bedarf nur des festen Willens und des koordinierten Vorgehens aller größeren Computer- und Softwarehersteller mit allen größeren Entertainment-Konzernen – und genau diese haben sich Jahre vor dem großen Coup unbemerkt in der “Trusted Computer Platform Alliance” zusammengeschlossen. Die Technik wurde im Sommer 2002 fertig entwickelt und besteht aus einer einfachen Kombination von bekannten Verfahren der Verschlüsselung und “digitaler Wasserzeichen”.
Mit diesem Wasserzeichen lässt sich bei jeder Kopie der rechtmäßige Eigentümer und der letzte rechtmäßige Besitzer des Werkes ausfindig machen. Die Verschlüsselung garantiert, dass jede Nutzung nur mit Zustimmung des Schlüsselinhabers stattfindet. Die Schlüssel verwaltet ein zentraler Computer. Der gewaltige Datenverkehr, wenn gleichzeitig eine Milliarde Menschen den neuesten Hit von Madonna hören will, ist technisch ein inzwischen gelöstes Problem. Eher hat man Angst, dass die Einführung des Systems durch einen Boykott der Kunden scheitern könnte, weshalb man behutsam vorgeht.
Erst 2001 hatte der Marktführer Microsoft eine erste Version des Schutzmechanismus in seine Betriebssysteme eingebaut. Ab Herbst 2003 könnte man vermutlich praktisch alle Festplatten, Hauptplatinen, CD- und DVD- Laufwerke mit dem Mikrochip ausstatten, der jeden Datenfluss auf die digitalen Wasserzeichen hin kontrolliert, die Schlüssel abfragt und bei fehlender Legitimation unterbindet. Dem Etikett “TCPA approved” auf den Geräten dürfte kaum jemand Beachtung schenken. Erst wenn die TCP-Alliance sich ihres Monopols sicher ist, wird der Schlüsselverwaltungscomputer eingeschaltet und die Nutzung aller Werke ohne die Einzellizensierung unterbunden werden.
Das “Trusted computing platform” bedeutete nicht, dass der Benutzer seinem Computer vertrauen kann, sondern umgekehrt, dass der Konzern dem Computer seines Kunden vertraut – weil er die Kontrolle über den Datenverkehr besitzt. Aus den einst anarchistischen Heimcomputern wird eine Jukebox mit Münzeinwurf vereint mit einem Orwellschen “Televisor”. Und alles wird so praktisch. Verbreitet etwa ein Computerbesitzer unliebsame Satiren, könnte man ihn des Copyrightverstoßes anklagen und ohne Gerichtsverhandlung von der Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke ausschließen. So gelänge es der TCP-Alliance binnen kurzem, konkurrierende Firmen zu beseitigen. Bis diese Firmen vor Gericht den Vorwurf des Copyright-Verstoßes entkräftet hätten, wären sie längst pleite. Das Wissen und fast die gesamte Wirtschaftsleistung der Menschheit liegt in den Händen eines Konzerns.
Vielleicht wird es im Jahr 2030 einer namenlosen Untergrundguerilla von Hackern gelingen, in den bestgeschützten Computer der Welt einzubrechen und seinen Datenbestand zu löschen: den Schlüsselverwaltungscomputer. Auf einen Schlag wäre die größte Macht, die das geistige Eigentum der Welt regierte, verschwunden – und mit ihr das gesamte kulturelle und wissenschaftliche Erbe der Menschheit mit Ausnahme einiger vergilbter Bücher in den wenigen verbliebenen Bibliotheken. Wir wären frei. Um Gedanken auszutauschen, wird es wieder Zeitungen geben, die wir, solange wir noch ohne Elektrizität auskommen müssen, bei Kerzenschein lesen. Es bleibt die Frage: Wird es sich verhindern lassen?
Zuerst erschienen in Süddeutsche Zeitung, 14. Dezember 2002, Seite 14″
Mit freundlicher Genemigung des Autors Ulrich Kühne und des Verlages.
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Erschienen am 23.01.2003
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