Pattie Maes hat scharfsinnige Visionen, sie zählt
zu den Menschen, die man beobachten und
denen man zuhören sollte, außerdem gehört sie
nicht nur zu den "100 Amerikanern für das nächste
Jahrhundert", sondern bestimmt für manche gar
den Lauf der Geschichte. Diese und zahlreiche
weitere, kaum weniger bewundernde Ehrentitel
wurden der 38jährigen Belgierin bereits
zuerkannt. Unter all diesen Auszeichnungen
drückt eine für viele verborgene Errungenschaft
am ehesten ihren Stellenwert aus: Am beinahe
schon sagenumwobenen Media Lab des
Massachussetts Institute of Technology (MIT) ist für
sie ein eigener Host-Rechner reserviert:
pattie.www.media.mit.edu.

Worauf gründet der weitreichende Ruhm der promovierten
Computerwissenschaftlerin? Eine durchaus spektakuläre
Forschungsbiografie brachte Maes nach ihrer Dissertation (1987)
an der Vrije Universiteit Brüssel an das dortige
Labor für Künstliche Intelligenz
unter der Leitung von
Luc Steels
. In ihrer Dienstzeit
arbeitete sie an einer "Kognitiven Architektur für autonome
Agenten", 1989 erhielt sie eine Gastprofessur beim
Artificial Intelligence Laboratory des MIT.
Im Hauptquartier der KI-Forschung – bezeichnenderweise am
"Technology Square" des vis-a-vis von Boston gelegenen
Cambridge angesiedelt – arbeitete sie gemeinsam mit den
Computer-Veteranen Marvin Minsky und Rodney Brooks: ihre
Aufgabe war es, einem insektenartigen Roboter mit sechs
Beinen das Gehen beizubringen. Das geschichtsträchtige
Ungetüm mit dem Namen "Genghis"
gehört inzwischen zur Sammlung der Smithsonian Institution.
Bereits 1990 wechselte Pattie Maes an das nur ein paar
Häuserblocks entfernte Media Lab.
Der wissenschaftliche Senkrechtstart führte schließlich zu
einer Anstellung als assoziierte Professorin und Projektleiterin
am wohl bekanntesten Denklabor in Sachen neueste und allerneueste
Medien. Und als wäre das nicht schon genug, hat Maes neben ihrer
Forschungs- auch noch eine Unternehmerkarriere gestartet.

Olli-Pekka Heinonen

Pattie Maes

Das eindrucksvolle Porträt ihrer kurzen, dafür umso steileren
Laufbahn entfaltet sich am besten über ihre digitale Heimstatt
http://pattie.www.media.mit.edu/people/pattie/, die bereitwillig
Auskunft über Projekte, Publikationen und Privatleben der
wißbegierigen Belgierin liefert. Doch der gradlinige
Karriereverlauf offenbart nur Eingeweihten, was Pattie Maes denn
nun eigentlich macht: zwar pflastern Schlagwörter wie Künstliche
Intelligenz, Robotik, autonome Agenten oder Digitales Leben ihren
Weg, doch für viele bleiben diese Begriffe wenn schon nicht
böhmische, so doch digitale Dörfer. An allem haftet der Geruch
von Informations- und Wissensgesellschaft, und Pattie Maes setzt
dabei nicht nur theoretische, sondern ganz praktische Duftmarken.

Ihr ehemaliger Chef Luc Steels hat dieses weitreichende
Arbeitsfeld einmal in drei große Bereiche unterteilt:
mögliche Entwicklungspfade in die "Zukunft der Intelligenz"
sind für ihn die technologische Erweiterung biologischer Körper
("Homo Cyber Sapiens"), die Entwicklung vollständig künstlicher,
menschenähnlicher Roboter ("Robot Hominidus Intelligens") oder
schließlich die Entstehung körperloser Intelligenzformen
("Software-Agenten").

In Belgien und auch noch in den ersten MIT-Jahren setzte sich Maes
mit den Problemen grobmotorischer Roboter auseinander, erkannte dann
jedoch schnell das große Potential der Computernetze für Roboter ohne
Körpergefängnis. "Software-Agenten, die in digitalen Umgebungen
operieren, erfordern ungleich interessantere und herausforderndere
Anwendungen als ihre Hardware-Gegenstücke." Für Maes sind Software-Agenten
zunächst einmal nicht mehr als "Computerprogramme, die Computer und
Computernetzwerke "bewohnen" und den menschlichen Benutzern dabei
helfen, ihre tägliche Arbeit am Computer zu verrichten." Dafür
stattet sie ihr menschlicher Befehlsgeber zunächst mit einer Reihe
personenbezogener Angaben aus, die zur Arbeitsgrundlage der
Software-Agenten werden. Dieser Datensatz kann danach automatisch
überwacht, aktualisiert, ergänzt oder geschützt werden, ebenso
können solche Informationen als Basis für agentenvermittelte
Suchaufträge oder zur Abstimmung des persönlichen
Kommunikationsverhaltens dienen. Was für den pfiffigen Daniel
Düsentrieb in Entenhausen noch eine Glühbirne auf zwei Beinen
erledigte, sollen in Maes´ vernetzter Welt zahlreiche digitale
Helferlein übernehmen.

Ein Clou ihres Agentenkonzepts ist dabei das Vertrauen auf
eine ganze Schar hilfreicher Geister: "Eine Vision, die ich
habe, ist die eines Haufens persönlicher Assistenten, die
mich begleiten. Sie sind für mich zusätzliche Augen und Ohren
sowie ein Extra-Gedächtnis. Sie achten darauf, daß ich nichts
verpasse, für das ich mich eigentlich interessiere." Dieses
Denken im Plural führte schließlich auch zum "collaborative
filtering", einem programmiertechnischen Kniff, mit dem
leistungsfähige und vor allem lernfähige Agenten entwickelt
werden konnten. Beim Fehlen einer wichtigen Information waren
derart programmierte Software-Agenten nicht mehr auf einen
Hinweis des allwissenden Benutzers angewiesen, sondern konnten
ihre Wissenslücke durch den Austausch mit einem digitalen
Kollegen schließen.

Der aufgeschlossene Ansatz eines vollständigen "Ökosystems"
digitaler Dienstgeister, die selbstbestimmt ihrer Arbeit
nachgehen, rief schnell die Kritiker auf den Plan. Einige
Berühmtheit erlangt hat in diesem Zusammenhang das "
Brain Tennis"-Match
zwischen Pattie Maes und "Virtual Reality"-Pionier Jaron
Lanier, mit dem sie sich im Sommer 1996 im Online-Magazin
HotWired ein hitziges Duell lieferte. Entlang der
Fragestellung, ob Software-Agenten zu einer
"Intelligenzvermehrung" oder einer "Verdummung" der
menschlichen User führen, diskutierten die beiden
Protagonisten die Vor- und Nachteile des Einsatzes
digitaler Agenten. Maes insistierte auf die feine
Unterscheidung, daß Agenten kein Ersatz für menschliche
Intelligenz sein sollten, sondern lediglich der
Unterstützung der Benutzer dienten: "Ich bin entschieden
gegen eine Mystifizierung der Mechanismen, die Agenten
verwenden, um die Benutzer zu unterstützen. Ich denke,
es ist sehr wichtig, daß die Benutzer verstehen können,
wie Agenten arbeiten und welches ihre Grenzen sind."

Im Unterschied zu anderen Mitglieder aus der Gilde der
High-Tech-Propheten gibt sich Maes nicht mit Visionen
und Gedankenexperimenten zufrieden. Mit ihrem Forschungsteam,
der Autonomous Agents Group,
entwickelte sie in den letzten Jahren funktionstüchtige
Prototypen solcher Software-Agenten: zu den bekanntesten
gehören der E-Mail-Filter "Maxims", der virtuelle Hund "
Silas" oder der preisgekrönte "Ringo".
Selbst bei einer kleinen Werkschau gerät immer wieder Maes’
Arbeitsstil in den Blick: ihre wissenschaftliche Neugier
reibt sich an den ganz konkreten Problemen und Problemchen
des alltäglichen Lebens und motiviert nicht selten
avancierte Lösungen. So war die erste Aufgabe für
"Ringo" nichts anderes, als den passenden Musik-Mix
aus der Bostoner Radiolandschaft herauszufiltern. Aus
diesem Algorithmus zur Katalogisierung, Kombination und
Empfehlung von Musikrichtungen erwuchs die Grundlage für
einen "spin-off" aus Pattie Maes Forschungsarbeit – die
erfolgreiche, mit namhaften Partnern (u.a. Yahoo!,
Amazon, Barnes&Noble) ausgestattete und im Frühjahr
1998 schließlich von Microsoft aufgekaufte Firma
Firefly Network.

Der Werdegang dieser Software-Schmiede illustriert
anschaulich die noch sehr ambivalente Stellung
intelligenter Agententechnologie: Ursprünglich war
Firefly als Anbieter einer konkreten Serviceleistung
angetreten – nach Eingabe des persönlichen Musikgeschmacks
in eine Datenbank wurden unter Mithilfe lernfähiger
Software-Agenten "passende" Titel und Interpreten
ausfindig gemacht. Inzwischen bietet die selbsternannte
"privacy company" eine ganze Reihe von Produkten und
Werkzeugen zur Erstellung von Kundenprofilen, zur
Personalisierung von Werbe- und Verkaufsangeboten,
aber auch zum Schutz persönlicher Daten an. Hier
offenbart sich ein Kernproblem bei der Funktionsweise
von Software-Agenten, denn erst die Bereitschaft zur
Freigabe sensibler Informationen ermöglicht den digitalen
Helferlein erfolgreiche Beutezüge durch die Datenwelt:
"If the software doesn’t have personal information about
you, it can’t give you any useful advice", faßt
Steven Johnson im
Online-Magazin FEED
das Agenten-Dilemma zusammen.

Trotz einer verzwickten Stellung zwischen den
Fronten unpersönlicher, aber intelligenter
Softwaretechnologie und fundamentalen
Persönlichkeitsrechten verweist der Erfolg von Firefly
für Pattie Maes in die richtige Richtung. Der wichtigste
Effekt der steigenden Verbreitung von Informations- und
Kommunikationstechnologien ist für sie noch immer die
wachsende Vernetzung von Menschen – und nicht etwa die
Entstehung einer Lebensumwelt für digitale Agenten.
Doch werden dieser Lebensumwelt beständig neue Facetten
hinzugefügt, und so haben Pattie Maes und ihre Kollegen
den elektronischen Handel als einen neuen Tummelplatz
für ihre Kreationen entdeckt. Im Rahmen der Intitiative
Agent-mediated Electronic Commerce
wurde bereits der erste agentenbevölkerte Handelsplatz ("Kasbah")
in Betrieb genommen und auch Hilfsprogramme zum Produkt-
und Preisvergleich ("PDA@Shop") oder dem Optimieren von
Verkaufsverhandlungen ("T-@-T" bzw. "Tete-a-Tete")
befinden sich bereits in der Testphase. Arbeiten die
Software-Agenten ähnlich originell wie ihre Erfinder
bei der Namensgebung, scheint das elektronische
Handelsvergnügen vorprogrammiert.

Zur Zeit verhält sich Pattie Maes ganz ähnlich wie ein
von ihr selbst programmierter intelligenter Agent: in
einem einjährigen Forschungsurlaub, den sie im
Septebmer 1998 begonnen hat, beobachtet sie aktuelle
Entwicklungen, paßt sich an eine veränderte Umwelt an
und wartet auf die nächsten Alltagsprobleme, die sie
zu einer Lösung herausfordern. Sie sammelt also Kräfte
für ihren nächsten intellektuellen Großangriff im Herbst,
über dessen Stoßrichtung es bereits erste Ankündigungen gibt.
Maes will sich mit der Entwicklung eines elektronischen
Marktplatzes befassen, auf dem sich alles um Wissen handelt –
im besten Wortsinne: "Ich will einen elektronischen Markt für
Wissen aufbauen und dafür Agenten entwickeln, die Studierende
und Experten zueinanderbringen und umgehend
Betreuungsverhältnisse aushandeln können." Dabei stehe ein
solcher "Wissensmarktplatz" als Stellvertreter für ein ganzes
Bündel von Technologien, die Maes unter dem Begriff der
"Community Ware" zusammenfaßt. Illustriert werde daran "ein
durch Computernetze aufgekommener Trend, der eine massive
Machtverschiebung weg von aktuellen "Autoritäten" bedeutet,
hin zu dezentralisierten Gemeinschaften, die sich selbst
organisieren." Dafür, daß in diesem Organisationsprozeß
Software-Agenten wichtige – und vor allem die richtigen –
Rollen übernehmen, will nicht zuletzt Pattie Maes sorgen.