“Am Anfang … war die Befehlszeile” Was steckt hinter der blinkenden „Icon-Welt“ des Desktops? Neal Stephenson zeigt in seinem neuen Buch “Die Diktatur des schönen Scheins”, dass grafische Nutzeroberflächen von Windows und Konsorten den PC-User entmündigen.Neal Stephenson ist Kult – vor allem in der Hacker- und Science-Fiction-Szene. Seine Romane Cryptonomicon und Snowcrash, allen voran jedoch Diamond Age entwerfen komplexe Zukunftsszenarien gepaart mit visionärer Technik eines fortgeschrittenene Nano-Zeitalters. Seine Welt zerfällt in eine Vielzahl gesellschaftlicher Ordnungssysteme, organisiert in Kleinststaaten, autonome Zonen und Interessensverbünden ohne jedewede territoriale Integrität.
System der Betriebe
In seinem jüngsten, im September 2002 auf deutsch erschienenen, Werk geht es ebenfalls um die Verknüpfung technischer Fragen mit Ordnungssystemen. Allerdings nicht im Sinne einer Romanhandlung in einer technisch hoch entwickelten Zukunft, sondern um Vergangenheit und Gegenwart der vier konkurrierenden Betriebssysteme MacOS, Windows, BeOS und Linux. Nun wäre Stephenson nicht er selbst, würde er sich mit den technischen Aspekten der Fragestellung begnügen. Sein Ansatz sind die ideologischen Hintergründe, die gesellschaftlichen Mechanismen und die hinter der bunten Oberfläche der Betriebsysteme verborgenen Markt- bzw. Vertriebsstrategien der Konzerne.
Mündige User braucht das Land
Stephenson nimmt den Leser und Nutzer handelsüblicher Betriebssysteme an die Hand und führt ihn hinter die Kulissen des Systems. Mit Intelligenz, vergnüglichem Charme und provokanter Direktheit geht die Reise durch das Disneyland Microsoft, die Jurten und Tipis altruistischer Linux-Freaks, vorbei am Händler für BeOS (das Batmobil unter den Betriebssystemen) bis zu hochglänzend designtem MacO(neway)S. Stephensons Anliegen, auf knapp 200 Seiten delikat und höchst genüsslich serviert, liest sich als Plädoyer zugunsten des Ideals vom mündigen Menschen… mindestens jedoch seines kleinen, rechten Fingers, der dazu erfunden wurde, die Return-Taste einer Tastatur anzuschlagen. Was, fragt der Autor, steckt wirklich hinter den bunten Desktop-Icons?
Stephensons Essay beschreibt, wie grafische Benutzeroberflächen in die Grundkonstanten unserer Logik und ihrer metaphorischen Systeme eingreifen: ein Wort wird zur Möglichkeit, ein Dokument zur Version, die Sicherung zur Vernichtung. Realität wird ersetzt durch die perfekte Illusion – die, bis zum Snowcrash, mit all ihren farbenfrohen Icons, Sanduhren und schwungvollen Mausanzeigern den entmündigten Nutzer davor bewahrt, wirklich zu verstehen, was hinter den Kulissen vor sich geht. Wer’s nicht schon immer gewusst hat, sei hiermit ermutigt, ein Stück weit einzutauchen in die “Diktatur des schönen Scheins”.

Buch-Info:
Stephenson, Neil: Die Diktatur des schönen Scheins, Goldmann Verlag, München 2002.