Nicht nur um Suchmaschinen geht es in dem Sammelband „Die Google-Gesellschaft“. Von Online-Beratung über Weblogs zu digitalen Archiven – ein buntes Kaleidoskop der internetbasierten Wissensgesellschaft wollten die Herausgeber fabrizieren. Schön ist es geworden, nur manchmal zerfällt das Bild.

Unsere Kommunikationswelt verändert sich. Nicht zuletzt die Bombenanschläge von London im Juli 2005 haben das deutlich gemacht: Nachrichten werden nicht mehr nur von großen TV-Stationen und Zeitungen produziert und veröffentlicht. PC und Internet ermöglichen es jedem Bürger zum Berichterstatter seiner Wirklichkeit zu werden. So war eine der aktuellsten und umfangsreichsten Quellen zu den Londoner Anschlägen der kollaborativ erstellte Wikinews-Eintrag (http://en.wikinews.org/wiki/Four_bombs_rock_London), viele der veröffentlichten Fotos (The Wallstreet Journal Online ) waren von Bürgern mit Kamera-Handys aufgenommen und in den Zeitungen der nächsten Tagen fanden sich zahlreiche Abdrucke von Weblog-Berichten (Süddeutsche Zeitung).
Kai Lehmann und Michael Schetsche geht es in ihrem Sammelband „Die Google-Gesellschaft“ um die Veränderungen im Verhältnis von Wissen und Gesellschaft. Wissen wird – so einer der Ausgangspunkte der Autoren – immer weniger über zentrale Institutionen vermittelt und immer mehr aus technisch-sozialen Netzwerken gezogen. „Google“ ist so nicht umsonst die griffige Metapher für den Titel des Bandes. Wir schauen nicht mehr im Brockhaus nach, sondern googeln nach einem Begriff und stoßen auf einen Wikipedia-Eintrag. Der Sammelband verhandelt also nicht nur den oben skizzierten Wandlungsprozess im Medienbereich oder die Rolle von Suchmaschinen – die Herausgeber wollen vielmehr eine aktuelle Bestandsaufnahme der internetbasierten Wissensgesellschaft liefern.
So springen die knapp 50 Beiträge von „zehn Prinzipien der neuen Wissensordnung“ über politische Kampagnen im Netz zu Online-Beratung, von den Problemen digitaler Archivierung über Verschwörungstheorien und Weblogs bis hin zu Netzkunst. Ein großes Feld, das die Herausgeber von ihren Autoren da beackern lassen – und dabei jedem nur wenig Raum zur Bearbeitung mitgegeben haben: die meisten Beiträge sind nicht länger als fünf bis sechs Seiten. Ausnahmen bilden die Artikel von Nina Degele, Christoph Neuberger und Rainer Kuhlen. Deren Beiträge sind länger und gleich auch wesentlich gehaltreicher als die restlichen (Kurz-)Beiträge des Bandes.
Vom Gatekeeper zum Navigator
Christoph Neuberger liefert eine sehr gelungene Einführung in den Wandel der Medien- und Nachrichtenlandschaft. Sind in den Massenmedien die Kanäle (also Radiofrequenzen, Sendeplätze, Zeitungsseiten) knapp, kann im Internet jeder publizieren. Die knappe Ressource ist nun die Aufmerksamkeit der Nutzer. Es braucht also weiterhin Vermittler, schreibt Neuberger. Ihre Funktion ist aber nicht mehr das Übertragen, sondern das Navigieren und Moderieren im endlosen Meer der verfügbaren Informationen. Und da spielen Suchmaschinen, neben den traditionellen Medienunternehmen eine immer wichtigere Rolle.
Macht Google autonom?
Auch Nina Degele beschäftigt sich mit dem Informationsüberschuss, den das Internet für den Einzelnen bereit hält. Zur zentralen Kompetenz wird das Abschätzen der Relevanz von angebotenen Informationen. Wissen zweiter Ordnung – also das Wissen über Wissen – wird bedeutender als faktisches Wissen. Zu wissen, was für einen wichtig ist und was nicht, wird die kompetenten und erfolgreichen Bürger der Google-Gesellschaft vom Rest unterscheiden.
Rainer Kuhlen geht es im Schlusswort um informationelle Autonomie: „Macht Google autonom?“ – und mahnt an, dass die Auslagerung von Informationsarbeit an Suchmaschinen und andere Dienste uns nicht von der Notwendigkeit entbindet, die angebotene Information zu beurteilen, zu vergleichen, sich als Wissen anzueignen und einzusetzen. Google ist für Kuhlen so eine „notwendige Bedingung für Autonomie in der Informationsgesellschaft, aber keinesfalls eine hinreichende.“
Viele kurze Beiträge – zu viel, zu kurz
Die zahlreichen anderen Beiträge liefern Einblicke in das so weit gefasste Themenfeld – leider selten mehr. Auf den meist nur fünf bis sechs Seiten kommen viele der Autoren über das Feststellen eines „digitalen Wandels“ nicht hinaus. Eine Analyse des „Wie“ und „Warum“ fehlt zumeist. So bleiben in der Kürze der Texte Aussagen stehen, die bei einer Vertiefung sicherlich spannendes zu Tage hätten bringen können, so aber eher verwundern. Etwa ist die Feststellung einer „fehlenden Innovationsbereitschaft “ bei Google angesichts der seit dem Börsengang im letzten Jahr fast im Wochentakt auf den Markt kommenden neuen Dienste (Video http://video.google.com/, Desktop Suche http://desktop.google.com/, Google Scholar http://scholar.google.com/, Google Maps http://maps.google.com/ …) kaum haltbar. Auch leidet die Analyse unter einer mitunter etwas zu lässig geratenen Sprache. Polemisch-lapidare Bemerkungen wie „Suchmaschinen präsentieren sich heutzutage wie allwissende Götter“ helfen dem Problemverständnis kaum weiter, auch wenn wichtige Gedanken darin stecken mögen.
Das Buch verhandelt also ein weites Feld – und das auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Neben den wissenschaftlichen Artikeln von Degele und Kuhlen finden sich etwa Interviews zur Geschichte freier Software oder knappe Anleitungstexte, wie sich über das Internet der Songtitel zu einer im Kopf herumschwirrenden Melodie finden lässt. Das lockert den Band hübsch auf und gibt ihm den Charakter eines hilfreichen Lesebuchs für Interessierte. Gleichzeitig zerfällt dadurch das Buch etwas. Um was geht es hier nochmal? Was hat Online-Beratung für Jugendliche mit dem digitalen Zeitungsmarkt oder Google zu tun? Ja – der Band mag ein „Kaleidoskop der Veränderungen“ liefern, ob sich aber aus der Zusammenschau für den Leser „ein Bild dessen, was uns in der Zukunft erwartet“ formiert, ist fraglich.
Der Sammelband ist ein Kaleidoskop, kein Navigator
Natürlich – was die neue Gesellschaftskonstellation ausmacht, ist auch gerade das: der informierte Bürger setzt sich aus den einzelnen Fundstücken selbst sein Bild zusammen. Vorgeformte Fertigprodukte, die es nur noch zu konsumieren gilt, verlieren an Bedeutung. Oder wie es David Weinberger für das Internet formulierte: Small pieces loosely joined (http://www.smallpieces.com/). Es ließe sich also anführen, dass das Buch das praktiziere, was es beschreibe, dass es der neuen Gesellschaftskonstellation angemessen sei, ein solches Sammelsorium an Geschichten und Einschätzungen anzubieten. Aber: der Reiz – und auch die Herausforderung – eines Buches ist es doch gerade, die Komplexität der Welt zu strukturieren, sie in eine lineare Form zu bringen. Auch der Google-Gesellschaft hätte ein klarer abgestecktes Thema, etwas mehr Struktur und ein stärkeres aufeinander Bezug nehmen der Beiträge gut getan.
Nichtsdestotrotz: Der Sammelband bietet vielfältige Einblicke in Aspekte der internetbasierten Wissensgesellschaft. Die Beiträge und Interviews sind selten schwer zu lesen und bieten meist hilfreiche Einführungen. Als Einstieg in das Thema ist der Band lesenswert und dem interessierten Laien zu empfehlen, Experten werden allerdings kaum Neues finden.