Die alte Idee der Gewerkschaften, dass sich Arbeitnehmer untereinander vernetzen, um mit vereinten Kräften etwas für den Einzelnen erreichen zu können, feiert zurzeit im Internet fröhliche Urstände. In vielen Unternehmen gedeiht der Online-Protest der Mitarbeiter gegen schlechte Arbeitsbedingungen. Mit teilweise fatalen Folgen für die Initiatoren. Denn ihnen droht oft, innerbe-trieblich durch Rausschmiss „offline“ gestellt zu werden. Geradezu ein Spiegelbild der Situation, in der sich Gewerkschaftsaktivisten zu Beginn der Arbeitnehmerbewegung im 19. Jahrhundert befanden.

 

So wurde der Software-Entwicklerin Inken Wanzek von Siemens fristlos im Oktober 2003 gekündigt. Begründung: Sie habe in einer eMail ihren Arbeitgeber geschmäht, in der ein Zusammenhang zwischen dem Selbstmord einer gekündigten Mitarbeiterin und dem Personalabbau im Konzern hergestellt wurde. Vorausgegangen war der Aufbau des heute größten Portals kritischer und unzufriedener Mitarbeiter eines einzelnen Unternehmens. Aus Angst um den Arbeitsplatz hatten im Herbst 2002 hundert Beschäftigte des Münchener IT-Riesen ein Netzwerk gegründet. Der Name war Programm: NCI steht für Network for Cooperation & Initiative und ergibt sich gleichzeitig, wenn man die Siemens-Netzwerksparte ICN rückwärts buchstabiert. Anfangs schrieb man nur Rundmails, doch im Februar 2003 veröffentlichte Wanzek auf ihrer Homepage Infos zum Arbeitsplatzabbau. In der Folge mauserte sich
nci.net.de zur Infoplattform mit Nachrichten über NCI, Siemens, einem Arbeitsrechts-ABC, einer detaillierten Übersicht über Arbeitsgerichtsprozesse im Konzern und sogar Tipps für die Jobsuche. Auf die hätte sich Wanzek nach ihrer Kündigung fast selbst machen müssen, doch das Münchener Arbeitsgericht konnte im Inhalt der Mail keinen Grund für eine Kündigung erkennen. Kürzlich verglich sich die Online-Aktivistin mit ihrem ehemaligen Brötchengeber. Die Software-Entwicklerin möchte sich jetzt eine selbstständige Existenz aufbauen.

Das Netzwerk umfasst 800 Teilnehmer. Zehn Siemens-Beschäftigte kümmern sich um die Website. „Solche Websites holen Arbeitslose aus der Isolation“, sagt die Psychoanalytikerin Christiane Bakhit, die regelmäßig den NCI-Newsletter bezieht. „Die direkte Umwelt ist meist wenig aufgeschlossen für deren Probleme.“ Wenig aufgeschlossen gibt sich auch der Konzern: Er war zu keiner Stellungnahme zu dem Portal bereit.

Während NCI zumindest anfangs noch von der IG Metall unterstützt wurde, initiierten Angestellte Berliner Banken und anderer Unternehmen nicht zuletzt aus Unzufriedenheit mit den Gewerkschaften im August 2002 die Adresse
frischerwind-online.de. Neben wirtschafts- und sozialpolitischen Infos kann man auf eine Datenbank mit Gerichtsurteilen zugreifen. Vor zwei Jahren gewann die Site den Preis „Silberne Spinne“, der alljährlich an die besten Internet-Auftritte von Arbeitnehmervertretungen verliehen wird. Auch bei FrischerWind-Mitinitiator Heiko Barten hatte das Online-Engagement drastische Folgen. Die Berliner Bankgesellschaft warf ihrem Betriebsratsvorsitzenden vor, in einem provokativen Banner den Vorstand verunglimpft zu haben und kündigte ihm fristlos. Er klagte dagegen und gewann in erster Instanz, verlor jedoch vor dem Landesarbeitsgericht. Die Revision vor dem Bundesarbeitsgericht findet voraussichtlich in den nächsten Monaten statt.

Der Ärger über die Gewerkschaften war auch die Initialzündung für das
Netzwerk IT. Es arbeitet eng mit mehreren Beschäftigteninitiativen aus anderen Branchen zusammen, zum Beispiel bei
UPS Nürnberg und Köln, dem Nutzfahrzeughersteller
MAN Salzgitter und dem Landmaschinenproduzenten
Welger in Wolfenbüttel. Dave Hollis, einer von drei Machern des Netzwerk IT, kann als Mitgründer der 1996 gestarteten Internet-Plattform LabourNet auf jahrelange Erfahrung als Aktivist im Netz der Netze zurückblicken: „Es dauert in der Regel zwei Jahre, eine Site bekannt zu machen. Sie wird dadurch mächtig, dass die Nachrichten permanent abrufbar sind und die Unternehmen so ständig nerven.“

Jüngstes Beispiel des digitalen Arbeitnehmerprotests ist der Weblog
verdi-blog.de/lidl. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di startete ihn Ende 2004, nachdem ihr „Schwarzbuch Lidl“ bei den Beschäftigten der Handelskette für Furore gesorgt hat. „Der Blog wird wie ein Forum genutzt. Ich bin über die große Resonanz überrascht“, sagt ver.di-Online-Redakteur Bernd Steinmann. Einziger Nachteil der fortschrittlichen Vernetzung: Die nötige Betreuung ist arbeitsaufwändig. „Für jedermann offene Blogs laden Verrückte geradezu ein. Wir müssen ständig kontrollieren, dass keine Beleidigungen und Beschimpfungen drinnen stehen“, seufzt DGB-Pressesprecher Hilmar Höhn.

Während viele Arbeitnehmer-Sites in Deutschland von den Gewerkschaften eingerichtet, von ihnen unterstützt oder in kritischer Abgrenzung zu ihnen ins Netz gestellt werden, sind es in den USA vorwiegend Einzelpersonen, die ihrem Unmut über den Brötchengeber in ihren privaten Weblogs Luft machen – und oft dafür gefeuert werden. Schlagzeilen machte vor wenigen Wochen der Google-Produktmanager Mark Jen, der in seinem Blog
99zeros.blogspot.com recht unverblümt über sein Angestelltenleben berichtet hatte und deswegen von dem Suchmaschinenbetreiber entlassen wurde. Ähnliche Fälle sind von Unternehmen wie dem Online-Netzwerk Friendster und der Tageszeitung Herald-Sun bekannt. Schlicht kurios ist die Kündigung der Stewardess Ellen Simonetti, die nach dem Geschmack ihrer Fluggesellschaft Delta für Fotos in ihrem Blog
„Queen of Sky“ zu freizügig in ihrer Uniform posiert hatte.

Inzwischen betitelt sie ihr amüsant geschriebenes Online-Tagebuch „Diary o
f a fired flight attendant“. Amerikanische Juristen wollen nun Klarheit schaffen und rufen nach Unternehmensrichtlinien für Mitarbeiter-Weblogs. Bislang haben nur wenige US-Firmen eine solche Regelung aufgestellt. Besonders fortschrittlich gibt sich Sun Microsystems. Neben einer entsprechenden
„Policy“ hat der IT-Riese sogar eine
Site für die Blogs seiner Angestellten eingerichtet – um damit für sich zu werben.