Blick auf Rio de Janeiro, ASSY via Pixapay, CC0, bearbeitet. Manuchi via Pixabay, CC0, bearbeitet.Der Begriff „Smart City“ suggeriert westlichen Wohlstand und kostspielige Investitionen. Die App „Smart Favela“ zeigt, dass auch weniger wohlhabende Gebiete von neuen Technologien profitieren können. Eine interaktive, dreidimensionale Stadtkarte ermöglicht den Bewohnerinnen und Bewohnern in den Slums der brasilianischen Großstadt, aktiv und basisdemokratisch an der Entwicklung ihrer Stadt mitzuwirken.

Egal an welchen Ort der Welt wir reisen, der Kartendienst unseres Smartphones ermöglicht uns direkte Orientierung vor Ort, unabhängig von Landessprache oder Stadtkenntnissen. Dank Google Maps wissen wir immer, wo wir uns gerade befinden und wie lange der Supermarkt um die Ecke heute noch geöffnet hat. Auch Wirtschaft und Politik profitieren von den Kartendiensten privater Anbieter. Dass Großmächte wie Google und Co. noch nicht alle Ecken und Enden dieser Erde kartographiert haben, erscheint gerade deshalb aus europäischer Perspektive kaum vorstellbar. Der erste Artikel unserer Sommerreihe stellt daher ein Projekt aus Rio de Janeiro vor, das sich zur Aufgabe gemacht hat, Stadtentwicklung mit Hilfe von interaktiven Kartendiensten zu demokratisieren. Das Projekt zeigt, wo Großkonzerne in Sachen Stadtplanung an ihre Grenzen stoßen und weshalb das Konzept „Smart City“ auch in weniger wohlhabenden Gebieten funktionieren kann.

Nicht kartographierte Gebiete bleiben Niemandsland

In Rio de Janeiro leben schätzungsweise 30% der Bevölkerung in sogenannten Favelas, den Slums der Stadt. Trotzdem wurden bis 2014 nur etwa 0,001% Prozent der Favelas kartographiert. Zahlreiche kleine Gassen, unentdeckte Abkürzungen und provisorische Unterkünfte prägen das Bild der Favelas als undurchdringbares Dickicht des Großstadtdschungels. Die soziale Spaltung der Bevölkerung Brasiliens macht sich demnach auch auf der Stadtkarte bemerkbar. Gebiete, die als schwarzer Fleck auf der Karte erscheinen, bleiben unsichtbar. Die fehlende Präsenz der Favelas auf den Karten steht dabei stellvertretend für das fehlende Bewusstsein über die Bedürfnisse ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Ein Gebiet, in dem weder Straßennamen, Kanalisation oder Orte der medizinischen Erstversorgung erfasst sind, bietet wenig Aufschluss darüber, wie die Situation der Menschen vor Ort verbessert werden kann. Dass ein Großteil der Bevölkerung in den Favelas mit dem eigenen Smartphone online ist, könnte jetzt genau das ändern. Denn auch wenn es an vielen grundlegenden Dingen wie Infrastruktur oder Wasserversorgung noch immer mangelt, das Smartphone zählt mittlerweile auch in den Slums zu den grundlegenden Helfern des Alltags.

Stadtplanung als Virtual Reality Game

Die Initiative „tá no mapa“ (zu Dt.: Es ist auf der Karte) versuchte bereits vor einigen Jahren, gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der Favelas umfassende Karten der Regionen zu erstellen. Das französische Tech-Start-Up „toolz“ wagt sich mit der App „Smart Favela“ noch einen Schritt weiter. Mit Hilfe ihres Smartphones können die Bewohnerinnen und Bewohner der Favelas selbst aktiv an der Gestaltung ihrer Umgebung mitwirken. Die App bildet einen digitalen Avatar der Favela ab, der alle Details dreidimensional wiedergibt.

Smart Favela Screenshot
Anwohnerinnen und Anwohner können direkt in der App über neue Investitionen abstimmen.

Doch die Gebiete sollen im Gegensatz zu vorangegangenen Projekten nicht vorrangig kartographiert, sondern mit Hilfe von „Smart Favela“ interaktiv gestaltbar werden. Stadtplanerinnen und Stadtplaner können zukünftige Investitionen innerhalb des 3D-Models problemlos visualisieren. Diese werden dann von der Bevölkerung in der App bewertet. Anwohnerinnen und Anwohner erhalten so die Möglichkeit, Anregungen oder Kritik zu üben oder selbst Vorschläge für neue Projekte einzureichen. Konzipiert ist die App in Anlehnung an ein Virtual Reality Game, in dem spielerisch ausprobiert werden kann, in welche Richtung sich eine Stadt effektiv entwickelt.

 

„Smart Favela“ ermöglicht Teilhabe und Entscheidungsfreiheit

Als die brasilianische Regierung vor wenigen Jahren in teure Seilbahnen investierte, die über die Favelas schwebten, zeigte sich die lokale Bevölkerung wenig beeindruckt. Der Vorwurf, lieber in prestigeträchtige Projekte zu investieren anstatt in die Bedürfnisse der Bevölkerung vor Ort, wurde laut. Auch ein Versuch des Anbieters Google Maps, die Favelas von Rio zu kartographieren, traf auf wenig Unterstützung in der Bevölkerung. Der Konzern hatte Straßen beispielsweise in Eigeninitiative benannt und sorgte so für erhebliche Missverständnisse. Im Gegensatz zu bisherigen Versuchen, Gebiete wie die brasilianischen Favelas zu kartographieren, bezieht die „Smart Favela App“ erstmals die Bewohnerinnen und Bewohner aktiv in den Gestaltungsprozess ihrer Heimat mit ein. Die Möglichkeit Vorschläge einzureichen schafft dabei ein besseres Bewusstsein für die Probleme der Anwohnerinnen und Anwohner. Zudem schafft die App, was bisher keinem der Großprojekte Rio de Janeiros gelang: Legitimation. Die Einbindung der Bevölkerung sorgt so auf simple Weise letztendlich auch für eine größere Akzeptanz der neuen Investitionen.

Data Crowdsourcing als Zukunftsmodell?

Viele Projekte, die die Städte von morgen intelligenter und digitaler machen sollen, stoßen schon heute auf erhebliche Finanzierungsprobleme. Die Währung, an der es mangelt, ist dabei nicht immer Geld, auch Daten sind knapp. Große Technikkonzerne verfügen sowohl über die finanziellen Mittel, als auch über zahlreiche Userdaten – beides erscheint unerlässlich, um Innovation zu schaffen. Der Ansatz des „Data Crowdsourcing“ erfreut sich deshalb nicht nur bei den Macherinnen und Macher der „Smart Favela“-App großer Beliebtheit. Dabei werden die Daten dort erhoben, wo sie entstehen: bei den Benutzerinnen und Benutzern einer Anwendung. Einfacher gesagt, unter „Data Crowdsourcing“ versteht man den Aufbau eines Datensatzes mit Hilfe einer großen Gruppe an Helferinnen und Helfern, die den Datensatz auf freiwilliger Basis nach eigenem Wissenstand optimieren und ergänzen.

Auch wenn „Data Crowdsourcing“ das Problem der Finanzierung zu schmälern weiß, so bleibt der Datenschutz der Benutzerinnen und Benutzer ein Problem. Unabhängig von der Quelle der Daten stellt sich die Frage, wie genau der digitale Avatar der Stadt beispielsweise privates Eigentum abbildet. Wie genau bildet die App meinen Hinterhof ab, wenn dieser an eine öffentliche Straße anschließt? Auch wenn sich mittlerweile andere Großstädte, wie beispielsweise Paris oder Bordeaux, interessiert an der „Smart Favela“ App zeigen, bleibt Datenschutz eine der zentralen Herausforderungen des Pilotprojektes. Das Prinzip des Data Crowdsourcing birgt trotzdem Zukunftspotential. Spätestens seit der Erfolgsgeschichte von Wikipedia steht außer Frage, dass Schwarmwissen in den unterschiedlichsten Kontexten gewinnbringend eingesetzt werden kann. Auch für die „Smart City“ bietet sich hier also eine Chance. Besonders da große Teile der Bevölkerung vielen neuen Entwicklungen in ihrem direkten Lebensumfeld noch immer skeptisch gegenüberstehen, bieten neue Formen des Feedbacks Chancen für einen verbesserten Austausch. Geplante Projekte könnten mit Hilfe von Virtual Reality beispielsweise erfahrbarer werden und auch Feedback könnte einfacher integriert werden. Hier bietet sich zumindest theoretisch die Chance, den Menschen mit Hilfe von Technik verstärkt in die Entwicklungen einzubinden, die sein direktes Lebensumfeld betreffen. Ob wirklich alle Bewohnerinnen und Bewohner offen wären, ein solches Angebot auch zu nutzen, ist dabei allerdings nicht gegeben.

Teil 2 befasst sich mit einem digitalen Marktplatz für öffentliche und private Daten in Kopenhagen. Die weiteren Stationen auf unserer Smart-City-Reise sind: Dubai, Wien und Satander. Zum Übersichtsartikel geht es hier.


Titelbild: ASSY via Pixabay, CC0, bearbeitet. Manuchi via Pixabay, CC0, bearbeitet.

Bild im Text: Screenshot toolz.fr

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