(Artikel) Das Internet ist eine Zeitfressmaschine. Und für alle mit einer digitalen Identität erst recht. Julia Sommerhäuser berichtet in ihrem poldi-Journal über die Nebenwirkungen von Social Software – einem Leben als "Ich 2.0".

 

03.04.2006, 13.30 Uhr

Heute fange ich an – heute wird mein erster Eintrag online gestellt. Ab heute bin ich ein Blogger! Ich schreibe eine Dissertation und brauche einen virtuellen Kummerkasten. Damit ich meine Freunde nicht ständig mit meinen Fortschritten beim Schreiben oder Monologen über die lähmende Wirkung leerer Word-Dokumente nerve. Nun nerve ich eben mein Weblog. Ein Entschluss, der aus der Neugier heraus geboren ist. Ich will wissen, wie man ein richtiger Blogger wird. In den Büchern steht, dass jeder bloggen kann und alles ganz einfach ist. Also gut, dann mal los.

03.04.2006, 17.30 Uhr

Angemeldet bin ich, ein Layout habe ich auch, allerdings hapert es mit verschiedenen Features, die ich gerne noch in mein neu erstelltes Weblog einbauen möchte. Wie immer: Aller Anfang ist schwer – zumindest nicht ganz so leicht, wie es in den Büchern steht.

03.04.2006, 17.35 Uhr

Das erste
Posting ist online. Das typische erste Posting. Ich teile mit, um was es im „Sommerhaus am Stadtrand“ gehen soll. Ob es jemanden interessiert?

Andere Fragen drängen sich mir auf: Worüber schreiben Blogger überhaupt? Was ist ihnen wichtig? Und wer macht so was eigentlich noch außer mir? Um Antworten zu finden, stöbere ich eine Zeit lang in anderen Weblogs, doch ich kann keine Gemeinsamkeiten finden. Mal bloggt der Student, dann der Hausmeister oder eine Mutter – und alle berichten von was anderem.

Ich bin von meinem ersten Tag in der Blogosphäre ziemlich überrumpelt und versuche, mehr zu erfahren. Doch auch die großen Onlinemedien helfen mir nicht weiter. Ich beschließe, es wie der Weblogger
Markus Breuer zu halten. Der weiß: „Eine der ganz wenigen Aussagen, die mit ‚Die Blogger’ beginnt und uneingeschränkt stimmt, geht mit ‚betreiben ein Weblog’ weiter. Alles andere ist meist Bullshit.“ Beruhigt gehe ich ins Bett.

21.04.2006

Ich schreibe, regelmäßig, mal mehr, mal weniger ausführlich. Aber: Hallo Blogger?! Wo ist eure Reaktion?! Keine Zugriffe in den ersten Tagen … meine Statistik dümpelt bei Null. Nicht, dass mir eine große Leserschaft wichtig wäre – aber irgendwie träumt doch jeder von seiner persönlichen
Jambastory

22.04.2006, 11.39 Uhr

Der erste Kommentar! Jemand hat einen Kommentar hinterlassen! Ich fühle mich großartig und schreibe direkt eine Antwort. Ich habe tatsächlich jemanden dazu anregen können, meinen Beitrag zu kommentieren. Ich bin Journalist, ich bin Blogger! Ich bin der König des Web 2.0!

06.05.2006

Ich habe jetzt schon durchschnittlich zehn Leser pro Tag. Also schreibe ich mit Elan weiter, auch mehrmals täglich. Mittlerweile wohne ich fast vollständig im „Sommerhaus am Stadtrand“. Ich richte es ein: mit einer Wetterkarte, einer Biografie und Linklisten. Manchmal muss ich auch saubermachen; dann wird der ganze Spam rausgeschmissen.

10.05.2006, 21.23 Uhr

Der nächste Schritt in meiner Bloggerkarriere. Jemand sagt mir, dass er meinen Beitrag sehr gut findet und deswegen verlinkt hat. Ich habe mein erstes
Trackback bekommen!

21.06.2006

Meine Nutzerkommentare sind wie ein virtueller Gehaltscheck – eine Belohnung für erbrachte Leistungen. Ich freue mich, wenn ich meine Leser dazu anregen kann, etwas zu hinterlassen. Und ich habe auch schon meine eigene Jambastory – allerdings mit etwas weniger Kommentaren: zehn, um genau zu sein. Aber für den Erfahrungsbericht in Sachen
Pfand-Rücknahme würde ich mir schon den Pulitzer Preis zuerkennen ;-).

Inzwischen kontrolliere ich jegliche Weblog-Aktivitäten bereits vor dem Frühstück. Ich durchforste die Blogosphäre nach interessanten Geschichten, stelle meine Beiträge ein und schaue die
RSS-Benachrichtigungen durch. Und wo ich gerade dabei bin: Schnell noch beim
StudiVZ und bei
OpenBC die Kontakte pflegen, den
Lieblingspodcast herunterladen und vielleicht noch zwei, drei Zeilen in unserem
studentischen Wiki schreiben. Von Frühstück keine Rede mehr – ich verdrücke direkt das Mittagessen.

21.11.2006

Mein Alltag hat sich verändert.

Immer öfter rutscht mir raus: „Das muss ich gleich erst einmal bloggen.“ Sei es beim Einkauf, im Kino oder in der Uni – immer gibt es für das Auge des Bloggers etwas zu entdecken. Man fühlt sich wie ein Profireporter, nur eben ohne Presseausweis. ‘Amateur journalism’ nennt die Wissenschaft das. Ich würde sagen: Karla Kolumna in Echtzeit.

Manchmal fragen meine Eltern, was ich da auf meiner Webseite eigentlich so mache. Wenn ich ihnen erkläre, dass ich
user generated content poste, meine
social networks pflege und mich in der
Online-Community umsehe, erhalte ich nur ein verwirrtes „Aha“ als Antwort. Die neue Generation 2.0 ist da.

Wenn ich mein „Sommerhaus“ verlasse und mich an meine Dissertation zum Thema Weblogs setze, hält die Wissenschaft Einzug in meine Blogosphäre. Da heißt es dann ‘Weblogs als neuer Journalismus’, ‘Weblogs und Gegenöffentlichkeit’ oder ‘Qualitätssicherung in Weblogs’. Es werden Fragen gestellt: Ob Weblogs den Journalismus verdrängen und wie Qualität gesichert und kontrolliert werden kann.

Die Presse sei immer nur so frei wie ihr
Kontostand, steht da, und dass Weblogs deswegen so nützlich seien. Sie könnten ein Ersatz zu den kommerziell orientierten Medien und eine Verbesserung des
Web 1.0 sein. Nun würden keine Homepages mehr geschrieben, sondern Weblogs; es würden keine Onlinestreams mehr hoch-, sondern Podcasts runtergeladen.

Weblogs seien „Teil dieser heimlichen
Medienrevolution“. Das klingt hochtrabend, aber richtig. Ich fühle mich als Revolutionär, weil ich erzähle, was mich interessiert und was ich erlebe. Ich erzähle es auf meine Weise – ohne Redaktionsschluss, Verleger oder Linientreue. Und das Beste: Es gibt Menschen, die das lesen – als Blogger merkt man, dass auch das stinknormalste Leben spannend sein kann.