Mathias Müller von Blumencron ist Chefredakteur von Deutschlands erfolgreichstem Online-Nachrichtenmagazin. In unserem Interview spricht er unter anderem über die Relevanz von Blogs, eigene Fehler, Kooperationspartner und das Durcheinander mit der Rechtschreibung.

Mathias Müller von Blumencron wurde am 23. Juli 1960 in Hamburg geboren. Nach einem Jura-Studium in Hamburg und Kiel und einem Jura-Referendariat absolvierte Müller von Blumencron die Hamburger Journalistenschule. 1989 wurde er Redakteur bei “Capital” in Köln und wechselte 1990 als Korrespondent zur “Wirtschaftswoche”, zunächst in Zürich, später in Berlin. 1992 kam er zum „Spiegel“ ins Ressort Deutschland II und wurde 1996 dessen stellvertretender Leiter. Im Oktober 1996 ging er als Wirtschaftskorrespondent des „Spiegel“ nach Washington, seit August 1998 berichtete er aus New York. Seit dem 1. Dezember 2000 ist Müller von Blumencron Chefredakteur von
Spiegel Online.

Mrazek: Ihr Angebot gilt als Aushängeschild des deutschen Onlinejournalismus. Trotzdem scheint es immer noch ungewiss, dass selbst Sie – wie anvisiert 2006 – in die Gewinnzone kommen. Passen Internet und Journalismus zumindest von der ökonomischen Seite her nicht zusammen?

von Blumencron: Doch – und wir sind auf dem Weg das zu beweisen. Die Wirtschaft erkennt, dass das Internet ein ausgezeichnetes Medium für Werbebotschaften ist. Mittlerweile orientiert sich die Hälfte der Deutschen im Netz; Nachrichtengucken bei Spiegel Online hat mittlerweile eine Reichweite von wöchentlich 1,6 Millionen Lesern. Die Zielgruppe ist exzellent, eine extrem gut gebildete und arrivierte Leserschicht, also ein sehr interessantes Publikum auch aus ökonomischer Sicht. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir demnächst die ökonomische Basis haben, um dieses Projekt zügig auszubauen.

Mrazek: Dafür waren schon zehn Jahre Zeit …

von Blumencron: Vor zehn Jahren bestand Spiegel Online aus einer Internet-Seite, die von einem Mann betreut wurde. Heute sind wir über 30 Redakteure, dazu Grafiker, Techniker, Producer. Überlegen Sie doch mal: Wie lange hat eine vernünftige Tageszeitung gebraucht, um in die Gewinnzone zu kommen, wie lange hat das Radio gebraucht? Für das Privatfernsehen ist es immer noch schwierig. Es ist ja nicht so, dass wir ein Investmentbanker-Modell sind oder ein Software-Haus, dass nach drei Jahren Gewinne abwerfen muss.

Mrazek: Online-Redakteure gelten häufig in Medienhäusern als „fünftes Rad am Wagen“ – wie sehen Sie das?

von Blumencron: Das sehen wir bei Spiegel Online überhaupt nicht so. Das wird sicher noch in manchen Bereichen so sein, etwa bei einigen traditionellen Verlagshäusern, aber das ist deren Problem. Und die Abrechnung dafür wird kommen – das Internet ist das Medium der Zukunft und wer da nicht investiert, ist auf Dauer draußen.

„99 Prozent der Blogs sind Müll“

Mrazek: Stichwort „Medium der Zukunft“. Kürzlich erschien mit
„Blogs!“ ein Buch, in welchem einer der Autoren, Don Alphonso, behauptet, dass Blogs künftig „den Journalismus im Internet aufmischen“ werden. Sehen Sie das auch so dramatisch?

von Blumencron: Ich glaube Blogs sind eines der Hype-Themen, die wir alle paar Jahre haben. Mal ist es Paid Content, 1999/2000 war es die Konvergenz von TV und Internet – alles wird eins, hieß es damals. Das sind schöne Phantasien. Und genauso verhält es sich mit der These, dass Blogs den Journalismus verdrängen oder grundsätzlich revolutionieren werden. Das ist für mich völliger Nonsens! Blogs sind wichtig, wenn sie gut gemacht sind und interessante neue Stimmen liefern. Aber so revolutionär sind sie in vielen Dingen dann auch nicht. Seit es das Internet gibt, gibt es auch interessante Autoren, die mit ihren Homepages im Netz sind; es gibt Kolumnen oder Tagebücher, die vom üblichen Stil etwa einer Tageszeitung abweichen. Aber heutzutage muss eben alles Blog heißen. Dazu kommt, dass 99 Prozent der Blogs einfach nur Müll oder zumindest journalistisch einfach nicht relevant sind. Es handelt sich um eine interessante Entwicklung, die aber den Journalismus nicht grundsätzlich verändern wird.

Mrazek: Aber sehen sie in den Blogs nicht eine Chance, mit der sich der Onlinejournalismus weiter entwickeln kann? Der Redaktionsleiter von Handelsblatt.com etwa sieht in den Blogs eine Möglichkeit Formate unterzubringen, die sonst nicht im Blatt oder auf der Website Raum finden, sogar die Tagesschau experimentiert damit?

von Blumencron: Selbstverständlich sehen wir darin eine Möglichkeit, wir nennen es nur nicht Blog. Wir haben eine Kolumne, die von unseren Korrespondenten in den USA betreut wird –
„Bush-Messer“. Darin zeigen die Kollegen, relativ unkonventionell geschrieben, wie die Stimmung der Amerikaner ist. Wir bieten auch Tagebücher von unseren Kollegen zum Beispiel aus Bagdad an. Dass im Online-Bereich verschiedene Stilelemente möglich sind oder auch etwas flapsiger als im Print-Bereich geschrieben wird, das ist nichts Neues, da ist schon so, seit wir Texte ins Internet stellen.

Mrazek: Kurzum, wir werden also das Etikett „Blog“ bei Spiegel Online nicht sehen?

von Blumencron: Henryk M. Broder, einer unserer wichtigsten Autoren, hat eine
eigene Website, die man in den USA Blog nennen würde. Diese Seite betreibt er seit mehreren Jahren, sie finden dort tagesaktuelle Notizen, kleine Fetzen, Beobachtungen – sie ist also richtig bloggermäßig. Broder war kürzlich zu einem Blogger-Kongress in Wien (
BlogTalk 2.0) eingeladen. Eine Woche vorher fragte er mich: „Sagen Sie mal, was ist eigentlich ein Blog?“ Mal schauen, vielleicht nennen wir irgendwann auch mal etwas Blog; nur um jetzt auf diesen Zug aufzuspringen, machen wir das bestimmt nicht.

Mrazek: Mal etwas salopp gefragt: Nerven Sie manchmal die Blogs? Kürzlich wurde einem Ihrer Autoren unterstellt, dass er bei Wikipedia „abgekupfert“ habe, was in Teilen der
deutschen Blogosphäre für einige Aufregung sorgte.

von Blumencron: Ich halte Blogs, wie zum Beispiel das
BILDblog, für ein interessantes Korrektiv. Wir gehen solchen Vorwürfen, ob die nun per E-Mail kommen oder in einem Blog geschrieben werden, sofort nach. Und wenn es stimmt dann ändern wir das auch auf unserer Seite und passen auf, dass so etwas nicht noch mal passiert. Als Korrektiv können Blogs also durchaus funktionieren. Wir sind nicht so empfindlich gegenüber Kritik wie das bei andere Medien in Deutschland gemeinhin der Fall ist. Wir stehen zu unseren Fehlern und versuchen aus diesen zu lernen.

„Halt ein bisschen bunter als in anderen Bereichen“

Mrazek: Wenn sich Journalisten über Spiegel Online unterhalten, taucht immer wieder als Kritikpunkt das Stichwort Boulevardisierung auf. Sie sagten selbst kürzlich, dass ihre Leser im Büro “ruhig mal schmunzeln” sollen. Dagegen ist ja nichts einzuwenden. Aber wie verhält es sich mit folgenden Headlines? Ich habe zum Beispiel in einem Seminar zu Onlinejournalismus meinen Studenten einen Artikel von Markus Deggerich die Zitatüberschrift
“Fickificki one Dollar” als Negativbeispiel dafür genannt, wie offenbar der Klickzahlen willen, schlagkräftige Headlines produziert werden. Für ebenso unpassend halte ich:
“New Orleans hält 10.000 Leichensäcke bereit”.

Wie stehen Sie dazu?

von Blumencron: Wenn ein hochgefährlicher Sturm wie Hurrikan „Ivan“ auf New Orleans zurast und dort Vorbereitungen dieser Art getroffen werden, dann finde ich das eine durchaus legitime Headline. Bei der Geschichte von Markus Deggerich, die ein Korrespondentenbericht aus Bagdad war, fand ich die Überschrift in dieser Form grenzwertig, aber durchaus machbar. Der Bericht hat das durchaus getragen, es war ja keine platte Geschichte die da folgte. Wir konnten damals sehr viel dazu beitragen, unseren Lesern die Atmosphäre in dieser Stadt näher zu bringen. – Die Beispiele finde ich falsch. Die ganze Diskussion um Boulevardisierung halte ich für eine der absurdesten in der letzten Zeit. Jede Tageszeitung hat eine Sektion Vermischtes. Und diese Sektionen haben wir auch, da geht es halt ein bisschen bunter zu als in anderen Bereichen. Was ist das für ein merkwürdiger Vorwurf? Wer unserer Seite vorwirft, dass wir generell eine Boulevard-Seite machen, dem muss ich sagen, da kann es um den Boulevard-Journalismus ja nicht so schlecht bestellt sein. Um auf die beiden Beispiele, die Sie genannt haben, zurückzukommen: Sicherlich kann man sich über die eine oder andere Überschrift streiten, sicherlich passiert der eine oder andere Grenzübertritt, wie das in jedem Medium passiert. Wir werden häufig von Lesern darauf hingewiesen, dass dieses oder jenes doch zu hart ist. Und wenn wir der Meinung sind, dann nehmen wir auf solche Leser-Mails dann auch Rücksicht und schwächen eine Überschrift ab. Möglicherweise haben wir die Überschrift in ihrer Härte so nicht wahrgenommen, weil wir eben ständig mit harten Nachrichten arbeiten.

Mrazek: Bei den „harten Nachrichten“ bringen Sie ja auch Kooperationspartner wie die „Financial Times“, „Brandeins“, „Kicker“ und andere mit ein. Laufen Sie da nicht Gefahr, dass die Marke Spiegel Online verwässert?

von Blumencron: Diese Bedenken höre ich jetzt zum ersten Mal. Wir haben eine sehr starke Marke im Internet und diese hält es aus, dass wir mit anderen Medien kooperieren. Das ist was Neues und da schauen Leute aus der alten, traditionellen Medienwelt schräg drauf und fragen: „Darf man denn das?“ Jaaa, man darf das! Stellt euch vor, ein „Geo“-Text steht auf Spiegel Online. – Warum? Weil es der Leser toll findet und ihn bei
„Geo“ nicht gefunden hätte. Wir haben eine Zusammenarbeit mit
„Mare“.. Das ist eine wunderschöne Zeitschrift mit tollen Reportagen, sie hat allerdings eine relativ geringe Verbreitung und es ist ein kleiner Verlag. Erstens verhelfen wir diesem Magazin zu mehr Bekanntheit, indem wir seine Geschichten bei uns reinstellen; zweitens bieten wir unseren Lesern damit exzellenten Lesestoff, den sie normalerweise nicht gefunden hätten. Ob das Stück nun von einem „Mare“-Autor kommt und in „Mare“ gedruckt wurde oder es aus dem „Spiegel“ kommt, ist den meisten Lesern ziemlich egal. Dem Leser kommt es darauf an, guten Stoff auf der Seite zu finden und den bieten wir ihm damit.

„Eigenartige Kultur was Fehler im Journalismus angeht“

Mrazek: Es gab jetzt aber auch Geschichten von Kooperationspartnern, die fehlerbehaftet waren. Da können Sie ja keine eingängige Qualitätskontrolle mehr machen, da können Sie nur darauf vertrauen, dass Ihnen dieses Medien etwas Gescheites anliefert …

von Blumencron: Genau so ist es. Wir haben unsere Kooperationspartner sorgfältig ausgewählt. Ich glaube es wäre vermessen zu sagen, dass wir bei Spiegel Online eine bessere Qualitätskontrolle als etwa bei „Geo“ haben. Da verlassen wir uns in der Tat auf die Partner. Natürlich, jeder macht Fehler; ob es der „Stern“, der „Spiegel“, die „Süddeutsche“ oder die „FAZ“ ist. Es ist ja in Deutschland eine ganz eigenartige Kultur was Fehler im Journalismus angeht. Fast jede amerikanische und britische Zeitung hat eine Spalte „corrections“.. Warum haben wir die in Deutschland eigentlich nicht?

Mrazek: Wie sieht das Modell mit den Kooperationspartnern aus?

von Blumencron: Wir versuchen ein, maximal zwei sehr hochwertige Kooperationspartner pro Ressort zu haben.

Mrazek: Wie erfolgt der finanzielle Ausgleich mit den Kooperationspartnern?

von Blumencron: Dazu möchte ich nichts sagen.

Mrazek: Die Netzeitung wird demnächst, ähnlich wie bei einigen Suchmaschinen, eine
erweiterte Nachrichtensuche anbieten. Man öffnet sich dem Netz. Bei Spiegel Online sind hingegen die meisten Artikel nach einem Monat nur noch kostenpflichtig abrufbar. Glauben Sie, dass Sie mit dieser Strategie Ihre große Resonanz beibehalten können?

von Blumencron: Das glaube ich schon. Es kommt darauf an, was man hat und wie qualitätshaltig das eigene Produkt ist. Wir sind Bestandteil eines großen Verlagshauses und verfügen daher über entsprechende Ressourcen. Wir haben deshalb deutlich mehr Hintergrundstücke, tiefere Analysen, Reportagen, Features, Berichte von Auslandskorrespondenten. Die Netzeitung macht ein Nachrichtenprodukt. Da sind kurze, schnelle Nachrichten, die irgendwoher kommen und die in zwei, drei Absätzen zusammengefasst werden. Das hat von der Zusammensetzung her nicht so eine starke Identität wie das Produkt Spiegel Online. Deswegen ist es ganz natürlich, dass die Netzeitung diese Linkstrategie verfolgt, die wir ja bei
Google News schon haben. Ein interessanter Ansatz, den wir aber erst mal nicht gehen werden.

Mrazek: Was halten Sie speziell auf Ihr Medium bezogen von der Rückkehr zur alten Rechtschreibung?

von Blumencron: Das wäre knifflig, weil wir zum Beispiel die Agenturen in neuer Rechtschreibung bekommen. Wir haben unsere Kooperationspartner, die ihre Inhalt ebenfalls überwiegend in neuer Rechtschreibung liefern. Der „Spiegel“ wartet jetzt erst einmal ab, wie die Reform weitergeht und ob die schlimmsten Fehler nicht noch korrigiert werden. Es soll ja einen „Rat für deutsche Rechtschreibung geben“, dessen Beratungen werden wir beobachten und dann entscheiden.