Am
22. März war Dietmar Bartsch, Bundesgeschäftsführer
der Linkspartei.PDS und Mitglied des Bundestages, zu Gast im tagesschau-Chat
in Kooperation mit politik-digital.de. Er sprach über die Fusionspläne
mit der WASG, den anstehenden Parteitag und die linke Politik der
Zukunft.

Moderator: Herzlich
willkommen zu 60 Minuten tagesschau-Chat. Zu Gast im ARD-Hauptstadtstudio
ist heute Dietmar Bartsch. Er ist Bundesgeschäftsführer
der Linkspartei.PDS, für die er auch im Bundestag sitzt. Derzeit
bereitet Bartsch die Fusion seiner Partei mit der WASG vor. Beide
Parteien halten am Wochenende in Dortmund einen Parteitag ab. Vielen
Dank, dass Sie gekommen sind, Herr Bartsch. Unsere Leser werden
Ihnen Fragen aus allen Politikbereichen stellen. Können wir
beginnen?

Dietmar Bartsch: Ja. Sehr gerne.

Hurgel: Können Sie kurz erklären, wie
jetzt der aktuelle Stand der Vereinigung von PDS und WSAG aussieht?
Im Bundestag ist es ja eine Fraktion „Die Linke" und
wie sieht es auf Parteiebene aus?

Dietmar Bartsch: Also, im Bundestag gibt es bereits
diese eine Fraktion, auf der Parteiebene existieren beide Parteien,
die die Gründungsdokumente für die neue Partei erarbeitet
haben.
Diese sollen in Dortmund beschlossen und dann per Urabstimmung bestätigt
werden. Am 15. und 16.Juni findet dann der Gründungsparteitag
von „Die Linke" statt.

pdssympi: Sind die alten Westlinken mit der bisherigen
PDS-Klientel eigentlich vereinbar? Das sind zwei völlig unterschiedliche
Kulturkreise?

Dietmar Bartsch: Die PDS ist nicht homogen, die
Westlinke ist nicht homogen. Natürlich gibt es Unterschiede
und Gemeinsamkeiten. Ich gehe davon aus, dass alle Beteiligten die
Chance einer neuen Linken wahrnehmen.

Zottel: Hat die PDS mehr Angst vor der Fusion
als die WASG?

Dietmar Bartsch: Ängste gibt es sicherlich
auch, aber es werden vor allem die Chancen gesehen.
Deshalb gehe ich von einer hohen Zustimmung in beiden Parteien aus.
Die Parteibildung ist Mittel zum Zweck, mehr politischen Einfluss
in Deutschland zu gewinnen.

thomas.l: Glauben sie, dass die neue Linkspartei
alle WASGler integrieren kann und will?

Dietmar Bartsch: Ich glaube, dass das unmöglich
sein wird. Einige werden einen anderen Weg gehen, aber ich wünsche
mir vor allem Attraktivität, dass viele neue Mitglieder und
Wählerinnen und Wähler zur neuen Linken stoßen.

Moderator: Eine Nachfrage:

Barsch: Klar gibt es Chancen, aber Sie wurden
gerade nach den Ängsten gefragt. Können sie auch dazu
was antworten?

Dietmar Bartsch: Ja. Die Ängste in der PDS
sind vor allen Dingen damit verbunden, dass die neue Partei westdeutsch
ausschließlich gewerkschaftlich orientiert und männerdominiert
ist.
Die Ängste der WASG kenne ich weniger. Aber sie liegen vor
allen Dingen darin, dass 60.000 Mitglieder der Linkspartei numerisch
eine große Mehrheit in der neuen Partei darstellen.

thomas.l: Warum kann man in Berlin so wenig vom
Einfluss der PDS beziehungsweise Linkspartei bemerken?

Dietmar Bartsch: Das ist sicherlich eine Frage
der Betrachtung. Ich glaube schon, dass die Politik der Linkspartei
in Berlin sichtbar ist. Ein Sozialticket, gebührenfreie Kitas
für sozial Schwächere, Kulturtickets sowie ein öffentlicher
Beschäftigungsbereich sind einige Aspekte.

Özgür1: Was wird denn
neu bei der neuen Linken sein? Faktisch sind es doch die Mitglieder
der beiden alten Parteien.

Dietmar Bartsch: Die Linke wird die Frage, was
neu ist, beantworten müssen. Wir werden eine intensive programmatische
Debatte führen. Neu ist aber zum Beispiel der Erfolg bei den
Bundestagswahlen sowie die Erfolge bei den Kommunalwahlen in Niedersachsen
und Hessen. Hinzu kommt erstmals eine Stabilität bei den Mitgliedern
in der Linkspartei. Letztlich, das Neue an der Linken ist für
uns Aufgabe.

thomas.l: Kann es zu einer eventuellen neuen konkurrierenden
Partei von nicht integrierbaren WASGlern kommen?

Dietmar Bartsch: Das ist möglich. Jedoch
sage ich einer solchen Partei Einflusslosigkeit voraus.

lenin: Die Berliner WASG wirft der Linkspartei
neoliberale Politik vor, beispielsweise durch die Abschaffung des
Ladenschlusses, den Verkauf der Berliner Sparkasse oder die Stimme
für die EU-Verfassung im Bundesrat. Das alles hat die Berliner
Linkspartei ja auch viele Stimmen gekostet. Können Sie sich
zu diesen Vorwürfen äußern?

Dietmar Bartsch: Natürlich. Wir müssen
zur Kenntnis nehmen, dass wir bei den Wahlen eine herbe Niederlage
einstecken mussten. Da liegen sicherlich auch Ursachen bei meiner
Partei. Den Vorwurf neoliberaler Politik jedoch weise ich zurück.
Wir haben in Berlin Regierungsverantwortung übernommen als
die Stadt nach einem Bankenskandal riesig verschuldet war und scheinbar
kein Ausweg möglich war. Deshalb musste es einige schmerzhafte
Einschnitte geben. Der EU-Verfassung hat auch die Berliner Linkspartei
nicht zugestimmt. Dass die Sparkasse veräußert werden
muss, liegt an der vorherigen großen Koalition und ist Aufgabe
der EU. Meine Partei wird in Berlin alles dafür tun, dass der
Charakter einer Sparkasse erhalten bleibt.

Özgür1: Herr Bartsch,
glauben Sie wirklich, dass Ihre neue Partei mit vorgesehenen zwei
Vorsitzenden wirklich handlungsfähig sein wird?

Dietmar Bartsch: Das glaube ich. Wie kein anderer
steht Lothar Bisky für die Identität der Linkspartei und
für Ostdeutschland. Oskar Lafontaine ist die Verkörperung
unserer Chance im Westen. Wir werden drei Jahre zwei Vorsitzende
haben und das ist eine sinnvolle Entscheidung.

laffi: Wie stehen Sie zu Lafontaine?

Dietmar Bartsch: Ich habe Oskar Lafontaine in
den letzten anderthalb Jahren insbesondere als Fraktionsvorsitzenden
kennen gelernt. Er verfügt über Erfahrungen wie niemand
von uns in der Partei. Und ich arbeite mit ihm gut zusammen.

rolledrops: Was hält die Basis im Osten eigentlich
von Oskar Lafontaine?

Dietmar Bartsch: Ich kann nur von den Auftritten
Oskar Lafontaines während des Wahlkampfes und bei Veranstaltungen
jetzt berichten, dass es einen großen Zuspruch gibt. Die Sehnsucht
der Parteibasis im Osten nach einem Erfolg im Westen lässt
auch über manchen kulturellen Unterschied hinwegsehen.

hannes-: Wird der Medienmensch Lafontaine nicht
am Ende alle anderen an die Wand drücken?

Dietmar Bartsch: Wir sind eine demokratische Partei
und wir haben aktuell kein so bekanntes Gesicht wie Oskar Lafontaine.
Er wird niemanden an die Wand drücken, weil wir den Erfolg
nur gemeinsam mit vielen Frauen und Männern erreichen können.

SebLin: Warum sollte der westdeutsche Wähler
die neue Linke wählen? Sieht sich die Partei nicht noch immer
als eine Partei an, die sich den Belangen der Ostdeutschen verpflichtet
fühlt?

Dietmar Bartsch: Auch die Linkspartei wird sich
aufgrund der großen Diskrepanz zwischen Ost und West weiterhin
den ostdeutschen Interessen in besonderer Weise widmen müssen.
Wahlargumente habe ich hunderte. Aktuell etwa unsere Positionierung
gegen die Rente mit 67, den sinnlosen Einsatz von Tornados, der
Deutschland zur Kriegspartei in Afghanistan macht und den wir ablehnen,
unsere Alternativen zur Unternehmenssteuerreform, und und und…

rene: Gibt es Ziele für die nächste
Bundestagswahl, was die dann vollbrachte Fusion aus beiden Lagern
zu erreichen gewillt ist?

thomas.l: Ist das Ziel der neuen Linkspartei in
erster Linie mitzuregieren oder die Benachteiligten zu vertreten?

Dietmar Bartsch: Mein Ziel für die Europa-
und Bundestagswahlen 2009 sind zweistellige Ergebnisse. Und das
politische Ziel ist, in Deutschland und Europa die Achse der Politik
nach links zu bewegen, für soziale Gerechtigkeit, Frieden und
Emanzipation zu streiten.

rene: Wäre es nicht vielleicht sinnvoller,
so eine Art CDU/CSU für Linkspartei/WASG aufzubauen, bei dem
sich die Lager auf die jeweiligen Bundesländer (neu/alt) konzentrieren
können?

Dietmar Bartsch: Diese Frage ist anders entschieden.

Özgür1: Wir reden hier immer über
Lafontaine. Was ist mit dem Star der PDS, Gysi? Wird er noch in
der neuen Partei eine Rolle spielen? Er hat doch im Westen auch
mindestens so viel Einfluss wie Lafontaine.

Dietmar Bartsch: Gregor Gysi ist und bleibt einer
der beiden Fraktionsvorsitzenden. Und er steht der Partei als einer
der Spitzenkandidaten für 2009 zur Verfügung. Wir brauchen
seine politischen medialen und menschlichen Fähigkeiten.

André Jastrzembski: Empfinden Sie auch
Wehmut, wenn mit der Konstituierung der neuen Partei Die Linke die
relativ kurze Zeit der PDS zu Ende geht?

Dietmar Bartsch: Natürlich empfindet jemand
wie ich, der lange Jahre Schatzmeister und Bundesgeschäftsführer
der Partei war, auch ein Stück weit Wehmut, weil die PDS über
viele Jahre die spannendste und emotionalste Partei der Bundesrepublik
war. Wir haben die europäische Linkspartei gegründet,
wo wir die Erfahrungen von Spanien über Italien bis nach Norwegen
zur Kenntnis nehmen und auf europäischer Ebene für ein
friedliches und sozial gerechtes Europa streiten. Dieser Prozess
soll auch durch die Bildung der Linken intensiviert werden.

Özgür1: Nach etlichen Nullrunden hat
die Bundesregierung die Renten um 0,56 Prozent erhöht. Das
ist doch ein Witz. Wie denkt Ihre Partei darüber?

Dietmar Bartsch: Wir haben kritisiert, dass es
über viele Jahre faktische Rentenkürzungen gegeben hat.
Allein die Mehrwertsteuer-Erhöhung frisst diese Witz-Erhöhung
auf. Deshalb bleibt jeder Euro Erhöhung für den Einzelnen
wichtig, aber wir brauchen eine grundsätzliche Reform des Rentensystems,
die die Lebensleistungen der Älteren anerkennt und dauerhaft
finanziert werden kann. Das ist möglich. Wer anderes behauptet,
sagt die Unwahrheit.

SebLin: Sieht sich die Linkspartei eher als mögliche
Opposition nach der Bundestagswahl 2009 an, oder würde man
sich – ähnlich wie in Berlin – auch an einer Koalition mit
der SPD beteiligen?

Dietmar Bartsch: Die Frage der Konstellation wird
nach politischen Inhalten entschieden. Eine Partei, die zu Wahlen
antritt, muss nach meiner Auffassung auch bereit sein, Regierungsverantwortung
zu übernehmen. Wenn also die Auslandseinsätze der Bundeswehr
beendet werden, Hartz IV nachhaltig korrigiert wird und das Steuersystem
grundsätzlich verändert wird, ist auch eine Regierung
auf Bundesebene mit unserer Beteiligung denkbar. Aufgrund der aktuellen
Situation in der SPD sehe ich das für 2009 allerdings nicht.

kummerling: Lieber Herr Bartsch, sie kritisieren
die Rentenkürzung. Ein Konzept haben Sie gegen die Entwicklung
aber auch nicht, oder setzen Linke mehr Kinder in die Welt?

Dietmar Bartsch: Wir haben ein Rentenkonzept,
das präzise durchgerechnet ist, eine solidarische Bürgerversicherung,
die allerdings alle einbezieht – auch Abgeordnete, Beamte, Freiberufler,
die die Beitragsbemessungsgrenze anhebt, rentenfremde Leistungen
aus dem System ausgliedert und damit eine Finanzierung möglich
macht. Dass unsere Gesellschaft kinderfreundlicher werden muss,
gehört letztlich auch dazu, wenn wir ein stabiles Rentensystem
wollen. Mein Beitrag mit zwei Kindern ist vielleicht etwas zu gering.

Özgür1: Gestern wurde bekannt, dass
das deutsche Bildungssystem bei der UNO angeklagt wurde. Als Berliner
Vater und Opa finde ich es gut, dass hier gemeinsames Lernen favorisiert
wird. Wie denken Sie darüber? Mal was ganz persönliches,
haben Sie Kinder?

Dietmar Bartsch: Ich habe zwei Kinder und finde,
dass in der Frage des Bildungssystems wir nicht nach Skandinavien
schauen müssen, sondern die Erfahrungen des Bildungssystems
in der DDR verstärkt nutzen sollten.

thomas.l: War es nicht mal Ziel der PDS, Hartz
IV abzuschaffen? Warum jetzt nur noch verändern?

Dietmar Bartsch: Hartz IV muss weg, war eine richtige
Forderung in unseren Wahlkämpfen. Unser Einsatz hat mit dazu
geführt, dass die Regelsätze Ost/West angeglichen worden
sind. Wir haben aber eine Rechtssituation, wo es um die Überwindung
von Hartz IV gehen muss.

SebLin: Wie stehen Sie zu Europa beziehungsweise
zur EU?

Dietmar Bartsch: Die Linkspartei wird eine pro-europäische
Partei sein. Links ist immer internationalistisch und die Solidarität
ein wichtiger Wert. Die entscheidende Frage für Europa ist,
wie dieses Europa gestaltet sein wird. Demokratisch? Friedlich?
Sozial?

waldo: Wird die neue Partei eine veränderte
Programmatik haben? Wenn ja, welche?

Dietmar Bartsch: Die Parteien haben sich vor dem
Dortmunder Parteitag auf programmatische Eckpunkte verständigt,
die im Internet nachzulesen sind. Nach der Parteibildung im Juni
werden wir uns ein neues Programm geben, das hoffentlich vor den
zentralen Wahlen des Jahres 2009 verabschiedet wird. Nach meiner
Auffassung muss dieses Programm durch den Gedanken des demokratischen
Sozialismus geprägt sein.

Kiuss: Warum ist es denn so schwierig, die beiden
Parteien zu vereinen? Eigentlich treten sie doch für die gleichen
Ziele ein. Wer wehrt sich da denn am meisten?

Dietmar Bartsch: Es ist ein demokratischer Prozess.
Es wehrt sich niemand. Es gibt große Zustimmung in beiden
Parteien. Aber anders als alle anderen Parteien wollten wir eine
gleichberechtigte Vereinigung organisieren, keine Übernahme.

leipzig: Was kann die Bundesrepublik von der DDR
lernen?

Dietmar Bartsch: Viele Dinge. Die Gleichberechtigung
von Frauen und Männern war zum Beispiel weiter ausgeprägt.
Die Kinder hatten alle einen Kita-Platz. Jede und jeder konnte kostenfrei
studieren. Und so weiter und so fort.

SebLin: Wie wichtig ist der Linkspartei das Thema
Bildung?

Dietmar Bartsch: Das Thema Bildung ist in einem
Land wie Deutschland, das über wenige Naturressourcen verfügt,
ausgesprochen wichtig. Die lebenslange Bildung, gleichberechtigte
Zugangsmöglichkeiten, gut ausgestattete Schulen, Hochschulen
und Universitäten und eine exzellente Forschung sind für
Deutschland ausgesprochen wichtig.

Moderator: Viele Menschen wurden in der DDR erst
gar nicht zum Studium zugelassen. Haben Sie das vergessen?

Dietmar Bartsch: Nein. Dort, wo aus religiösen
oder anderen Gründen Menschen nicht zugelassen worden sind,
war und ist das inakzeptabel. Das gehört zu den schwer wiegenden
Defiziten. Allerdings will ich auch feststellen, dass unabhängig
vom Geldbeutel der Eltern in der DDR studiert werden konnte.

TheH23: Aber konnten denn nicht nur „Systemtreue"
Vorteile der DDR nutzen?

Dietmar Bartsch: Das kann, glaube ich, nur jemand
behaupten, der nicht in der DDR gelebt hat. Es gab schwere demokratische
Defizite. Es gab eine Wirtschaft, die nicht effizient genug war.
Aber die Möglichkeiten der meisten, zu studieren, waren groß.

frizzante: Sie sind ja Wirtschaftswissenschaftler
und haben in der DDR studiert. Was halten Sie von Marktwirtschaft?

Dietmar Bartsch: Die staatssozialistische Planwirtschaft
der DDR, der Sowjetunion und anderen Ländern ist gescheitert.
Eine soziale Marktwirtschaft, die nicht profitdominiert ist, ist
auch im Programm der PDS festgehalten.

Friseur: Wie sehen Sie die Pläne von Ursula
von der Leyen, mehr Kita-Plätze zu ermöglichen? Ist das
ein Schritt einer Mitte-Rechts-Politikerin nach links? Hätte
der Vorschlag nicht genauso von der PDS stammen können?

Dietmar Bartsch: Nein. Zum Verdienst von Frau
von der Leyen gehört, dass sie diese Debatte angestoßen
und in der CDU für Wirbel gesorgt hat. In den neuen Ländern
haben wir als Relikt der DDR eine höhere Versorgung mit Kita-Plätzen.
Letztlich geht es hier um mehr als um die Kita-Frage: Es geht um
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, insbesondere für Frauen
und letztlich um die Wertvorstellungen unserer Gesellschaft. Und
da gibt es auch zu den Vorschlägen von Frau von der Leyen erhebliche
Differenzen. Mehr für Bildung im frühkindlichen Bereich
zu tun, ist jedoch ein richtiger Ansatz.

GustavV: Wie stehen Sie zu der Aussage: „In
der Politik muss der christliche Glaube beziehungsweise das Prinzip
der christlichen Nächstenliebe eine größere Rolle
spielen"?

Dietmar Bartsch: Unter christlicher Nächstenliebe
wird leider sehr viel Unterschiedliches verstanden. Die Gedanken
des neuen Testaments sollten auch bei den christlichen Parteien
eine durchaus größere Rolle spielen.

TheH23: Und welche konkreten Idealvorstellungen
einer Familie haben Sie?

Dietmar Bartsch: Das sollten vor allem die Familienangehörigen
selbst bestimmen. Vorgaben der Politik sind fehl am Platze.

SebLin: Wie realistisch sind eigentlich in Ihren
Augen noch Vorstellungen vom Sozialstaat Deutschland in einer sich
zunehmend globalisierenden Welt, in der es sich gegen Länder
aus Fernost durchzusetzen gilt?

Dietmar Bartsch: Der Sozialstaat ist eine wesentliche
Voraussetzung für die Entwicklung in Deutschland, auch im Wettbewerb
mit anderen Ländern. Er ist einer der entscheidenden Standortvorteile
und sollte ausgebaut werden. Das ist möglich, auch finanzierbar.

Özgür1: Stichpunkt Wirtschaft: Heute
reden Telekombosse mit der Arbeitnehmervertretung. Finden Sie es
richtig, dass die Telekom jetzt so viele Arbeitsplätze auslagert,
faktisch vernichtet?

Dietmar Bartsch: Die Herangehensweise, Unternehmensgewinne
zu erhöhen und gleichzeitig Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
zu entlassen oder mit massiven Lohnkürzungen zu bedrohen, gibt
es leider in vielen Unternehmen. Bei der Telekom sind offensichtlich
schwer wiegende Managementfehler gemacht worden, bei denen es nicht
sein kann, dass sie nunmehr zu Lasten der Beschäftigten korrigiert
werden.

Moderator: Eine Nachfrage zum Sozialstaat:

SebLin: Finanzierbar zum Beispiel mit einer höheren
Besteuerung von Unternehmen?

Dietmar Bartsch: Wir haben, was die Finanzen der
Bundesrepublik Deutschland betrifft, sehr konkrete Vorschläge,
auch in den Deutschen Bundestag, eingebracht. Einige Beispiele:
Eine reformierte Erbschaftssteuer – in den nächsten Jahren
werden zwei Billionen vererbt – würde bei hohen Freibeträgen
(500.000 Euro) jährlich bis zu 50 Milliarden in die Haushalte
bringen können. Eine Börsenumsatzsteuer, die nur die Gewinne
aus Aktienpapierverkäufen besteuert und die in vielen europäischen
Ländern erhoben wird, würde Milliardenbeträge bringen.
Die Unternehmenssteuerreform, die nicht kleinere und mittlere Unternehmen,
sondern Banken und Konzerne bevorteilt und den Haushalt zwischen
sechs und zwölf Milliarden Verluste bringt, sollte verhindert
werden. Die Wiedererhebung der Vermögenssteuer – bei auch wiederum
hohen Freibeträgen – sollte erwogen werden. Letztlich gilt
der Ansatz von Willy Brandt: Stärkere Schultern sollen auch
stärker zum Erhalt des Gemeinwohls beitragen.

richie_köln: Was halten Sie davon, die Arbeitgeberbeiträge
zukünftig nicht mehr an der Höhe der Löhne, sondern
an der Höhe der Unternehmensgewinne – eventuell in Relation
zur Zahl der Beschäftigten – zu bemessen?

Dietmar Bartsch: In meiner Partei wird das Thema
der Wertschöpfungsabgabe weiter diskutiert. Meiner Auffassung
nach ist das ein kluger Ansatz, der Unternehmen in schwierigeren
Zeiten entlastet und die Personalkosten nicht nur als Kostenfaktor
darstellen lässt. Eine Bindung an die Gewinne wäre aufgrund
der Gestaltungsmöglichkeiten von Unternehmen falsch. Wichtig
ist mir jedoch, dass das Verständnis, dass Arbeitgeber- und
Arbeitnehmerbeiträge faktisch Lohnbestandteile sind, nicht
verloren geht.

Christin: Zum Wahlkampf in den USA: Welcher Kandidat
ist Ihr Favorit? Barack Obama? Wen würden die Linken gerne
an der Spitze sehen?

Dietmar Bartsch: Ich vermute, dass von den Kandidaten,
die in der Öffentlichkeit sind, kaum jemand unsere Unterstützung
erhalten würde. Ich bin sehr froh, dass die Zeit von George
W. Bush zu Ende geht und würde vermutlich einem demokratischen
Kandidaten – wenn denn nur die Auswahl zwischen Zweien wäre
– zuneigen. Ob er nun Obama, Edwards oder Clinton hieße.

thomas.l: Setzt sich die neue Linkspartei für
eine Offenlegung der Bezüge aller Parlamentarier ein?

Dietmar Bartsch: Ja. Das ist eine Forderung, die
die PDS seit 1990 erhebt und die auch die neue Linke weiterhin einfordern
wird.

thomas.l: Was hält die neue Linkspartei vom
bedingungslosen Grundeinkommen?

Dietmar Bartsch: Dies ist eine der spannenden
Debatten innerhalb meiner Partei. Es gibt Mitglieder, die sich nachhaltig
für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzen. Diese Position
ist aktuell nicht mehrheitsfähig. Ich persönlich unterstütze
das Konzept einer Grundsicherung. Wir werden diese Frage in der
Programmdebatte der Partei hoffentlich spannend diskutieren.

engels: Glauben Sie, dass irgendwann einmal die
Linkspartei in der Bundesregierung sitzen wird? Oder sehen Sie sie
als komplette Oppositionspartei?

Dietmar Bartsch: Wir stellen nicht die Konstellation
in den Vordergrund, sondern wir wollen Deutschland nach unseren
Wertvorstellungen verändern. Wer zu Wahlen antritt, sollte
auch die Bereitschaft zur Regierungsmitverantwortung haben.

Moderator: Die Stunde ist auch fast schon wieder
vorbei. Eine letzte Frage:

mork: Sie waren ja auch bei einer Zeitung Geschäftsführer.
Was reizt Sie daran, Politiker zu sein?

Dietmar Bartsch: Die Herausforderung im Verlagswesen
ist eine sehr spannende, weil man die täglichen Ergebnisse
auf dem Tisch hat. Die Politik ist insbesondere in meiner Aufgabe
als Bundesgeschäftsführer mit den vielen Facetten und
in meiner Partei vermutlich eine der anstrengendsten und spannendsten
Aufgaben, die es derzeit in unserem Lande gibt.

Moderator: Das war unser tagesschau-Chat für
heute. Wir bedanken uns bei allen, die mitgemacht haben. Unsere
Bitte um Verständnis an jene, die wir mit ihrer Frage nicht
berücksichtigen konnten. Unser besonderer Dank gilt Dietmar
Bartsch, der sich die Zeit genommen hat, zum Chatten ins ARD-Hauptstadtstudio
zu kommen. Das Transkript dieses Chats finden Sie in Kürze
auf www.tagesschau.de. Ihnen allen wünschen wir noch einen
schönen Tag.

Dietmar Bartsch: Ich bedanke mich bei allen Fragenden
und bitte um Verständnis, dass ich aufgrund der gewünschten
kurzen Antworten nicht immer in der vermutlich gewünschten
Breite antworten konnte. Einen schönen Tag für Sie alle.