In der ersten Hälfte des "Superwahljahres" 2011 ist der Online-Wahlkampf der Parteien weitgehend unspektakulär verlaufen. Nicht nur in Hamburg, wo aufgrund der vorgezogenen Wahlen die nötige Vorlaufzeit fehlte, fanden die Internet-Kampagnen der Parteien wenig Beachtung. politik-digital.de sprach mit dem Bamberger Wissenschaftler Andreas Jungherr über die Möglichkeiten und Grenzen digitaler Wählermobilisierung. 

Andreas Jungherr ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl
für Politische Soziologie an der Universität Bamberg. Dort arbeitet
er über die Auswirkungen des Internets auf die politische
Kommunikation.

Neben dieser Tätigkeit begleitet er politische Parteien bei der
Planung und Umsetzung von Online-Kampagnen. In dieser Funktion
arbeitete er unter anderem für das "webcamp09", das "teAM Deutschland"
und "NRW für Rüttgers". Er schreibt den Blog "Too Bad You Never
Knew Ace Hanna
".

Herr Jungherr, blicken wir auf die bisherigen Landtagswahlen zurück: Warum gab es – mit wenigen Ausnahmen wie der twitternden CDU-Kandidatin Julia Klöckner aus Rheinland-Pfalz oder der 3-Tage-Wach-Aktion der Grünen – so wenig Online-Wahlkampf der Parteien? 

Wenn man genau hinsieht, gibt es schon etwas mehr Online-Wahlkampf als man zuerst vermuten mag. Allerdings stimmt es, dass diese Kampagnenelemente selten große Aufmerksamkeit außerhalb des Internet erreichen.

Was lässt sich mit dem Online-Wahlkampf erreichen? Eher die Mobilisierung eigener Wähler oder das Hinzugewinnen neuer Wähler?

Andreas_JungherrIn Deutschland werden Online-Elemente von politischen Kampagnen bisher mit zwei Funktionen genutzt. Einerseits kann es gelingen, Parteiunterstützer regelmäßig über die Kampagne zu informieren und dadurch an die Kampagne zu binden. Außerdem helfen Unterstützerzahlen auf eigenen Webseiten oder sozialen Netzwerkplattformen, um den Medien und der Öffentlichkeit zu signalisieren, wie stark die Unterstützung für die eigene Sache oder den eigenen Kandidaten ist. Onlinekampagnen informieren also Unterstützer und inszenieren gleichzeitig Unterstützung.

Wie erklären Sie sich, dass parteipolitische Angebote auf so geringe Resonanz stoßen? 

Wenn man auf die potentiellen Wirkungen von Online-Kampagnen schließen will, muss man sich des Kommunikationsumfelds der Nutzer bewusst werden. Im Internet hat jeder eine Vielzahl von Informationsangeboten, die er wahrnehmen kann. E-Mails laufen im Postfach ein, der RSS-Reader quillt mit ungelesenen Nachrichten über, das Lieblings-Nachrichtenportal wechselt unerbittlich die Schlagzeile und auf Facebook gibt es die neuesten Fotos aus dem Freundeskreis zu sehen. In diesem Umfeld ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein Nutzer zufällig oder einfach mal aus Spaß auf die Angebote einer politischen Partei stößt. Diese muss man schon gezielt aufsuchen. Das lässt mich vermuten, dass Parteien mit ihren Online-Angeboten in erster Linie eigene Unterstützer erreichen. Gelingt es Parteien aber im Laufe des Wahlkampfs, unentschlossene Wähler durch bewusste Themensetzung zu politisieren, ist es durchaus möglich, dass Wähler sich im Netz über Parteien informieren. Genauso mag es sein, dass eine Partei einen spektakulären Online-Stunt abfeiert, der es dann in die klassischen Medien schafft und dadurch potentielle neue Wähler auf die Online-Angebote aufmerksam macht. Oder aber, dass Nutzer auf Online-Angebote von Parteien aufmerksam werden, da ihre Kontakte in sozialen Netzwerken Online-Inhalte der Parteien auf ihren persönlichen Profilen weiterverbreiten. 

Ist ein solcher Effekt einigermaßen planbar oder herrscht in den sozialen Netzwerken eine Eigendynamik, die auch nicht durch professionelle Strategien zu überlisten ist?

Die Antwort ist recht leicht: Interessante Inhalte posten, die werden dann auch weiterverbreitet! Ich halte recht wenig von geplanten viralen Inhalten. Oder "Kommunikationsstrategen" mit Charts, zwischen welchen Uhrzeiten an welchen Wochentagen welche Twitter-Nutzer angeschrieben werden müssten, um eine bestimmte Anzahl an Retweets oder Facebook-Likes zu erhalten. Es ist zwar verführerisch zu glauben, dass Online-Kanäle die konzeptionelle oder inhaltliche Arbeit durch automatisierte Netzwerkeffekte ersetzen, glücklicherweise bleibt es online aber genauso wie offline: Wer Aufmerksamkeit und positive Reaktionen will, muss interessante und relevante Inhalte bieten. 

Gibt es besonders gute oder unterdurchschnittliche Online-Kampagnen, die Ihnen in den vergangenen Landtagswahlen aufgefallen sind?

Einzelne Kampagnen auf Landesebene haben spannende Ideen ausprobiert. Das webcamp09, an dem ich beteiligt war, hat Anfang 2009 ein spannendes Konzept umgesetzt, in dem freiwillige Unterstützer von Roland Koch den Wahlkampf auf der Webseite webcamp09 begleiteten und dort selbstständig kommentierten, Videos veröffentlichten und Kampagnenveranstaltungen dokumentierten. Seitdem wurde dieses Format auch von der CDU im Saarland und in NRW genutzt. Die CDU NRW hat während der Kampagne zur letzten Landtagswahl gezielt mit ihrem Newsletter experimentiert und zeigt jetzt, wie man als Partei einen Newsletter produzieren kann, der tatsächlich auch gelesen wird. Spannend ist auch das 3-Tage-Wach-Format der Grünen, das nun bereits in unterschiedlichen Wahlkämpfen ausprobiert wurde. Hier ist es, ähnlich wie bei den Unterstützerteams der CDU-Landesverbände, immer interessant zu sehen, wie einzelne Landesverbände das Format aufgreifen, auf sich anpassen und weiterentwickeln. Auf Seiten der SPD finde ich es am spannendsten, wie dort im Bereich Webseitendesign experimentiert wird. Also zum Beispiel der aktuelle Relaunch der spd.de-Seite, der ein mutiger Versuch ist, auszuprobieren, wie es aussehen könnte, wenn eine Partei ganz gezielt versucht, als Informationsanbieter und Informationsportal im Netz aufzutreten. Ähnlich interessant fand ich das Design der Kandidatenseite von Hannelore Kraft im NRW-Wahlkampf, das die Kandidatin sehr individuell und menschlich präsentierte. 

Welchen zeitlichen und finanziellen Aufwand erfordert ein guter Online-Wahlkampf nach Ihrer Erfahrung? In Hamburg schien die Zeit nicht zu reichen.

Zeit ist tatsächlich ein entscheidender Faktor. Es gilt in den meisten Fällen, die Online-Angebote der Parteien im Bewusstsein der Unterstützer zu verankern. Wenn ich nicht weiß, dass meine Partei spannende Informationen auf ihrer Webseite anbietet, werde ich diese nicht initiativ aufrufen. Hierauf müssen Parteien weit im Vorfeld einer Kampagne versuchen einzuwirken. Wenn die Wahl nur noch ein paar Wochen entfernt ist, ist es schwierig, die zeitlichen Ressourcen freizuschaufeln, um diese Grundlagenarbeit zu leisten. Während der Kampagne selbst muss sichergestellt sein, dass Mitarbeiter Online-Angebote redaktionell betreuen können. Newsletter, Blogbeiträge, Facebook-Updates und Tweets schreiben sich genauso wenig von selbst wie eine Presseerklärung. Ernsthafte Onlinekampagnen erfordern ernsthafte Betreuung…

… was nur von Parteien ab einer gewissen Größe zu leisten ist…

…oder von Parteien mit stark motivierten Freiwilligen, denen die Partei im Wahlkampf genug Freiraum gibt.

Abgesehen von den finanziellen und personellen Möglichkeiten: Welche Unterschiede gibt es zwischen Kommunal-, Länder- und Bundesebene, die für den Online-Wahlkampf relevant sind? 

Der größte Unterschied dürfte im Grad der Politisierung der Kampagnenumgebung liegen. Bundestagswahlen politisieren in der Regel stärker als Landtags- oder Kommunalwahlen und erregen mehr Medieninteresse. Außerdem haben Wahlen auf Bundesebene ein größeres potentielles Publikum als Wahlen auf den anderen Ebenen. Andererseits führt genau dies auch dazu, dass die Freiheit, zu experimentieren, in Landtags- und Kommunalwahlkämpfen höher ist. Hier können also Kampagnen-Elemente ausprobiert werden. Online-Kampagnen auf diesen Ebenen können also als Testläufe von neuen Kampagnen-Elementen genutzt werden.

Kommen wir von der Partei-Ebene auf den einzelnen Politiker. In Prozent: Wie sollten Politiker klugerweise Online- und Offline-Wahlkampf gewichten?

Das kommt ganz auf die jeweilige Situation des Politikers an. Ist mein Wahlkreis so strukturiert, dass ich tatsächlich mögliche Wähler oder Unterstützer erreiche? Passt Online-Aktivität in mein politisches Profil? Und nicht zuletzt: Fühle ich mich als Politiker bei der Nutzung von Online-Werkzeugen wohl? Eine Antwort, die auf alle Politiker passt, gibt es hier nicht. Auch wenn Kommunikationsberater dies gerne vergessen.

Die Social-Media-aktiven Politiker nutzen das Internet auch außerhalb des Wahlkampfes als Kommunikationskanal. Lassen sich Online-Aktivitäten von den eher offline agierenden Politikern auf den Wahlkampf beschränken?

Die Basis für jeden Politiker – egal wie online aktiv oder nicht – sollte eine gut gepflegte Webseite mit aktuellen Informationen und Kontaktmöglichkeit sein. Darüber hinaus ist die Nutzung vieler anderer Social-Media-Dienste möglich, aber nicht verpflichtend. Politiker sollten die Dienste wählen, mit denen sie sich am wohlsten fühlen und von denen sie wissen, dass sie diese auch außerhalb des Wahlkampf-Ausnahmezustands zeitlich nutzen können.

Worauf sollte sich der einzelne Politiker konzentrieren? Oder ist es nur sinnvoll, wenn man alle Kanäle gleichzeitig und auf ihre Weise nutzt?

Die Zeit des medienfreundlichen Kampagnen-Twitterns scheint mir vorbei. Dafür ist der Nachrichtenwert eines weiteren twitternden, facebookenden oder 4squarenden Politiker inzwischen zu niedrig. Die Wahl der Online-Kommunikationsmittel sollte sich also mehr nach dem persönlichen Nutzen als dem erwartenden Schauwert richten.