Welche Macht hat der Wutbürger im digitalen Zeitalter wirklich und kann die Politik mit ihren hergebrachten Mustern auf diese Entwicklungen reagieren? Zu den Möglichkeiten der Partizipation und des Protests im digitalen Zeitalter sowie den Herausforderungen für die Parteien befragte politik-digital.de den Journalisten Hajo Schumacher.

 

Anonyme Rechercheure leisten in kollaborativen Online-Aktionen einen Beitrag zur Aufdeckung von Plagiaten in Doktorarbeiten prominenter Politiker. Eine in den vergangenen Monaten breit rezipierte Entwicklung, die der Publizist und Moderator Hajo Schumacher äußerst skeptisch sieht. Schumachers Argumentation: Nicht nur die Motive der Plagiatejäger sind häufig diffus, zur Qualität einer wissenschaftlichen Leistung gehören Parameter, die sich nicht immer ohne weiteres durch Plagiate-Wikis messen lassen. Auch den Einfluss, der über das Internet auf die Politik ausgeübt wird, beurteilt Schumacher einerseits insgesamt kritisch, andererseits sei die Politik in ihren Mustern des Umgangs mit der Netzgemeinde im vorigen Jahrhundert stehen geblieben. Ob aber das digitale Zeitalter die Demokratie erledigt oder befördert, sei noch nicht entschieden, so sein Fazit.

Herr Dr. Schumacher, diejenigen Internet-Nutzer, die ohne Nennung von Klarnamen recht “erfolgreich” in Politiker-Doktorarbeiten nach Plagiaten gesucht haben, wurden von Ihnen als “selbstgerechte digitale Blockwarte” bezeichnet. Ist es nicht aber eine Selbstverständlichkeit, dass Dissertationen von jedermann eingesehen bzw. überprüft werden können? Was stört Sie konkret an der digitalen Plagiatejagd?

Es ist ein großer Gewinn, dass die Technik die Plagiatejagd gleichsam vergesellschaftet. Mich stört dabei aber dreierlei:
Zum einen gehen die Medien viel zu oberflächlich mit den Informationen der Jäger um. Die plag-Gruppen differenzieren richtigerweise nach der Schwere des Vergehens. Wenn sich beispielsweise auf 25 Prozent der Seiten nur Halbsätze finden, deren Herkunft nicht ganz klar ist, wird daraus die Schlagzeile “Ein Viertel der Arbeit gefälscht” – das ist so wie brutto/netto zu verwechseln.

Hinzu kommt der klassische Abnutzungseffekt: Die ersten Enttarnten wie zu Guttenberg lösen noch ein Beben aus, die nächsten werden medial schon leiser behandelt und in ein, zwei Jahren werden weitere Fälle kaum noch zur Fußnote taugen. Gerecht geht anders.
Zweitens werden vorwiegend gesellschaftswissenschaftliche Arbeiten jüngeren Datums untersucht, die mit digitalen Hilfsmitteln zu prüfen sind. Was aber ist mit den ganzen Naturwissenschaftlern, deren Dissertationen bisweilen auf zweifelhaften Experimenten beruhen, Experimente, die den Regeln nach überall zu jeder Zeit wiederholbar sein müssen? Die kommen ungeschoren davon.Dr. Hajo Schumacher / Credits Dirk Bleicker
Und drittens erschreckt mich der Ton, der in den Foren zuweilen herrscht: Da sind bestimmt viele ehrbare Wissenschaftler am Werk, aber einige der Wortführer versprühen blanken Hass. Die wollen Blut. So wird die Plagiatsjagd eben auch zu einem Mobbing-Instrument. Denn am Ende findet sich in nahezu jeder Arbeit etwas, wie mir verschiedene Professoren bestätigten.
Die reine Quantifizierung der Zitiergenauigkeit ist aber nicht das einzige Kriterium für eine wissenschaftliche Arbeit, sondern ebenso Originalität, Stringenz, Schlussfolgerung. In der Öffentlichkeit erscheinen Fußnotenprobleme aber als einziger Maßstab. All diese Einordnungen gehen in der öffentlichen Debatte verloren. Am Ende bleibt der Eindruck: Alle Politiker bescheißen, alle Professoren prüfen nicht ordentlich – mit Stereotypen-Bediene ist aber keinem gedient. So stellt sich die ewig aktuelle Frage: Wer kontrolliert die Jäger? Die Medien kommen dieser Kernaufgabe jedenfalls nur unzureichend nach.

Bleiben wir noch kurz beim Thema “Plagiate” im weiteren Sinne: Die Facebook-Gruppe “Gegen die Jagd auf Karl Theodor zu Guttenberg” hat aktuell 370.000 Unterstützer. Bei der “analogen” Pro-Guttenberg-Demo waren die ernsthaften Fans des Freiherrn eindeutig in der Minderheit. Woran scheitert der Transfer von digitalen gesellschaftspolitischen Willensbekundungen in das “Leben 1.0” noch?

Den “like”-Button zu drücken, dauert eine Zehntelsekunde. Aber vor die Tür und zur Demo zu gehen, das braucht mindestens zwei Stunden. Click-Demokratie und echtes Mitmachen sind zwei völlig verschiedene Anforderungen. Insofern ist es leichtfertig, aus irgendeiner Facebook-Zahl mehr als einen Befindlichkeitsmoment abzulesen, der genauso schnell kommt wie er geht. Aus Realitätsschnipseln ergibt sich eben nicht zwangsläufig ein Puzzle, das Wirklichkeit abbildet. Deswegen ist die Theorie vom Transfer 2.0 zu 1.0 auch fragwürdig. Vielmehr überlagern sich verschiedene Phänomene, von denen nur eines sicher ist: Sie funktionieren nicht nach dem Pawlowschen Reiz-Reaktions-Schema, sondern bedingen, blockieren, verstärken sich oder laufen einfach parallel. Die Mechanismen sind noch nicht richtig erforscht. Das wäre mal ein gutes Thema für eine Dissertation.

Die Feststellung, dass das Engagement im Internet eine Generationenfrage sei, ist inzwischen eine Binsenweisheit. Durch was zeichnen sich für Sie die “neuen digitalen Aktivisten” denn vor allem aus?

Diese nach wie vor kleine Gruppe wird zusammengehalten durch das gemeinschaftliche Gefühl von technischer Avantgarde, dem guten alten Protestgestus und am Ende auch von der enormen öffentlichen Resonanz, die vor allem Anerkennung bedeutet und natürlich eine geheimnisvolle, unkontrollierbare Macht. Junge Leute, die heute etwas bewegen und die Etablierten aufmischen wollen, schließen sich Anonymous an. Was für Joschka Fischer und Jürgen Trittin die Putz- und K-Gruppen waren, das sind heute die vielfältigen digitalen Kommunen im Netz. Und die Politik steht genauso hilflos davor wie damals.

Die Bundespolitik beschäftigt sich seit dieser Legislaturperiode intensiver mit dem Wandel in der Informationsgesellschaft. Trotzdem ist die Arbeit der Enquete-Kommission “Internet und digitale Gesellschaft” kein Garant für eine rege Beteiligung. Wird das Thema nach Ihrer Ansicht nur auf der falschen Ebene diskutiert oder spielen Netzpolitiker und die “digitale Öffentlichkeit” einfach keine so große Rolle?

Es gibt keine falsche Ebene, Netzpolitik zu diskutieren: Das Thema geht alle an. Die Politik hat mehrere Probleme, das Phänomen zu fassen. Zunächst sitzen kaum Digital Natives an den entscheidenden Positionen. Zweitens betrachtet Politik vor allem den Rechtsrahmen, also Datenschutz und Datensicherheit, und weniger das Lebensgefühl und den Prioritätenkanon, der sich im Netz entwickelt hat und ständig verändert.
Parteien wiederum halten es für digitale Avantgarde, wenn die Wahlkandidaten bis zum Abend der Wahl Banales twittern und dann umgehend damit aufhören. Ein fundamentaler Fehler: Nachhaltigkeit ist auch und gerade für das fälschlicherweise als flüchtig angesehene Medium Internet ein zentraler Wert. Am Ende gilt wieder mal die Faustregel, dass gesellschaftliche Entwicklungen mit einer Generation Verspätung in der Politik ankommen. Die Regierung debattiert also derzeit auf dem Level der Neunziger Jahre.

Das Konzept der “Mitgliederpartei” ist seit Jahrzehnten etabliert. Die Willensbildung läuft vom Ortsvereinsstammtisch zum Bundesparteitag. Werden nicht aber vor allem die großen Parteien bei stetig abnehmender Basis geradezu gezwungen, auch politisch nicht festgelegte Bürger über (digitale) Partizipationskanäle anzusprechen?

Das Konzept der Mitgliederpartei schlittert in die Legitimationsfalle. Eines Tages wird sich das Land die berechtigte Frage stellen, ob alle politischen Posten von wenigen Hunderttausend Parteigängern verteilt werden dürfen. Andererseits tritt bei einer totalen Öffnung der Parteien womöglich das Relaunch-Paradoxon ein: Wie bei einer Tageszeitung, die sich von einem auf den anderen Tag total modern umgestaltet, verabschieden sich die alten Leser, dafür kommen aber keine neuen hinzu. Digitales Zeitalter hin oder her, demokratische Politik braucht Mitmacher, die bereit sind, Papiere zu schreiben, an Sitzungen teilzunehmen, Posten zu übernehmen. Das eklige Genörgel, das vor allem aus den Kommentarspalten der Online-Medien quillt, illustriert eine unglaublich defätistische Haltung: sowieso alles Mist, alles Mafia, geht eh alles den Bach runter.

Die Sehnsucht nach dem großen Diktator, der es “denen da oben” mal richtig zeigt, ist sehr viel größer als die Bereitschaft, sich mit konkreten Lösungen einzumischen. Die Vorstellung, das Internet erleichtere die konkrete politische Arbeit, ist eine Fata Morgana: Politik ist immer mühsam und nicht immer lohnenswert. Viel mehr als irgendwelche Online-Schulungen brauchen wir das grundsätzliche Bewusstsein, dass Demokratie ein schützenswertes, teures und oft auch anstrengendes Gut ist, wichtiger als Umweltschutz oder Menschenrechte. Demokratie bildet das Fundament für alle anderen Werte und Ziele. Ob das digitale Zeitalter die Demokratie erledigt oder befördert, ist noch nicht entschieden. Der Mob ist immer und überall.