PiratenBundesparteitagAm vergangenen Wochenende traf sich die Piratenpartei in Neumarkt zum Bundesparteitag. Die Zusammenkunft stand unter großem Druck, weil die noch junge Partei in aktuellen Umfragen auf unter fünf Prozent abgestürzt ist. Es gelang ihr zwar durchaus, sich thematisch breiter zu positionieren. Besondere Aufmerksamkeit erregte aber, dass die Einrichtung einer ständigen Online-Mitgliederversammlung scheiterte – wenn auch nur knapp an der Zweidrittelmehrheit. Haben die Piraten ein Identitätsproblem? Oder sind die neu verabschiedeten Online-Abstimmungen zwischen den Parteitagen Erfolg genug? Der Demokratie-Beauftragte der Piraten, Jens Kuhlemann, stellt sich im Interview den Fragen der pol-di-Redaktion und verteidigt die Innovationskraft seiner Partei.
politik-digital.de: Hat die Ablehnung einer ständigen Mitgliederversammlung (SMV) Signalwirkung für onlinegestützte Diskursverfahren? Wie reagieren Sie auf diese Art von Kritik: „Selbst die sogenannte Netzpartei will keine ständigen Online-Mitgliederversammlungen mit Stimmrecht!“
Jens Kuhlemann: Ich muss widersprechen: Der Bundesparteitag hat eine Regelung beschlossen, die verbindliche Online-Abstimmungen der Mitglieder zwischen den Parteitagen ermöglicht! Basisentscheide können laut Entscheidsordnung mehrmals im Jahr stattfinden. Zwischen zwei Abstimmungsstichtagen müssen lediglich vier Wochen liegen. Dabei beträgt der Abstimmungszeitraum bei Online-Abstimmungen zwei Wochen und endet mit dem nächst folgenden Stichtag. In besonders dringenden Fällen kann die Frist zwischen Einbringung eines Antrags und Ende des Abstimmungszeitraums sogar auf eine Woche verkürzt werden.
Das neue Instrument des Basisentscheids kommt den Vorschlägen, die unter dem Begriff „SMV“ kursieren, sehr nahe. Es gibt aus meiner Sicht lediglich drei nennenswerte Unterschiede:
1.) Auf Antrag werden Vorlagen geheim und offline abgestimmt; 2.) mit Blick auf delegierte Stimmen muss das jeweilige Votum vor der endgültigen Stimmabgabe von den Delegierenden bestätigt werden; und 3.) Online-Abstimmungen finden nicht mit Klarnamen statt, sondern mit Pseudonymen. Die Abstimmungsleitung und ggf. das Schiedsgericht kann diese den jeweiligen Personen zuordnen, um die Echtheit der Stimmabgabe zu überprüfen. Keine Partei verfügt – weder online noch offline – über ein derartiges Verfahren, damit die Mitglieder außerhalb von Parteitagen Beschlüsse fassen können.

Jens Kuhlemann, Jahrgang 1970, ist Demokratie-Beauftragter der Piratenpartei. Der promovierte Historiker bringt neben seinem akademischen Hintergrund auch Organisations- und PR-Erfahrung mit ins Amt ein. Er war Sprecher und Büroleiter bei “Mehr Demokratie e. V.” – Basisdemokratie ist ihm ein wichtiges Anliegen. Daneben befürwortet er eine stärker bürgerbeeinflusste europäische Verfassung und möchte auch generell, dass Bürger auf EU-Ebene mehr mitzubestimmen haben.

politik-digital.de: Was ist nach Ablehnung der digitalen Abstimmung jetzt noch innovativ an den Piraten? Schließlich wurden die Piraten bisher eher wegen ihrer neuen Beteiligungsmöglichkeiten gewählt – und weniger wegen Inhalten.
Jens Kuhlemann: Entgegen Ihrer Aussage haben die Piraten, wie eben dargelegt, als erste Partei in Deutschland verbindliche digitale Abstimmungen eingeführt. Wenn das nicht innovativ ist, weiß ich nicht, was es sonst sein soll. Es ist erstaunlich, dass viele Journalisten verbindliche Online-Abstimmungen nur dort vermuten, wo „SMV“ draufsteht. Aber auch ins Bewusstsein zahlreicher Piraten sind die Möglichkeiten des neuen Beteiligungsinstruments Basisentscheid noch nicht vorgedrungen. Im Übrigen bezweifle ich, dass für die meisten unserer Wähler die parteiinternen Entscheidungsmechanismen ausschlaggebend dafür waren, den Piraten ihre Stimme zu geben. Basisdemokratie trifft zwar mit Sicherheit auf die Sympathie vieler. Aber die Diskussion, ob es besser sei, täglich oder „nur“ alle paar Wochen über eine Vorlage abstimmen zu können, geht dann doch an der Lebenswirklichkeit etlicher Piraten-Wähler vorbei. Die Piratenpartei wird vor allem gewählt, um sich für einen starken Datenschutz, ein modernes Urheberrecht sowie mehr Demokratie und umfassende Transparenz auf staatlicher Ebene einzusetzen.
politik-digital.de: Wie erklären Sie sich die generell geringe Resonanz von Liquid Feedback unter den Parteimitgliedern? Könnte die Software selbst Mitschuld haben, oder liegt es an fehlerhaften internen Kommunikationsprozessen?
JensKuhlemannJens Kuhlemann: Ab wie vielen Nutzern sprechen wir von „geringer Resonanz“? Es sind schließlich fast immer aktive Minderheiten, die Engagement für bestimmte Themen zeigen. Tatsache ist jedoch, dass die Zahl der regelmäßig mitwirkenden Nutzer zurückgegangen ist. Da es keine valide Untersuchung mit belastbaren Erklärungen dafür gibt, bin auch ich auf Vermutungen angewiesen. Für mich persönlich spielt der Umstand, dass es sich bei erfolgreichen Liquid-Feedback-Initiativen nur um unverbindliche Empfehlungen handelt, eine wesentliche Rolle. So gesehen ist es wirklich ein großer Fortschritt, dass die Partei jetzt – auch per Online-Abstimmung – offizielle Positionen zwischen den Parteitagen beschließen kann. Ich gehe davon aus, dass die Motivation der Parteimitglieder, Initiativen per Basisentscheid einzubringen und abzustimmen, deshalb mit dem nach wie vor hohen Grad der Beteiligung an Real-Life-Parteitagen vergleichbar sein wird.
politik-digital.de: Ohnehin nahm nur ein geringer Teil der Parteimitglieder an LF-Diskussionen teil. Werden sich nun auch die Verbliebenen von digitalen Diskussionen abwenden? Oder war der Glanz der LF-Beteiligung angesichts teils ellenlanger Listen von Diskussionsbeiträgen ohnehin schon ab?
Jens Kuhlemann: Für ihre Diskussionskultur gewinnen die Piraten ganz sicher noch keinen Schönheitspreis. So manche völlig unsachliche Äußerung, die von der Presse begierig aufgenommen wurde, hat die Partei Tausende von Wählerstimmen gekostet. Da gilt es, den Kulturwandel, den die Piraten in der großen Politik fordern, erst einmal bei sich selbst glaubhaft durchzusetzen. Von ausreichend Respekt und Sachbezug abgesehen, mangelt es den parteiinternen Diskussionen an Struktur. Der Output an Kommentaren ist enorm, doch es bedarf auch der moderierten Bündelung, um Wiederholungen zu vermeiden. Darüber hinaus müssen wir viel stärker als bisher geeignete Verfahren heranziehen, um bestimmte Argumente und Beurteilungen zu gewichten und so ihre Relevanz zu verdeutlichen. Die Verwendung von „wikiarguments“ bei der Diskussion über die Anträge für den vergangenen Parteitag stellte hier bereits einen großen Schritt in die richtige Richtung dar.
politik-digital.de: Es standen fünf SMV-Modelle zur Abstimmung. Waren die Unterschiede signifikant oder marginal?
Jens Kuhlemann: Teils unterschieden sich die Anträge darin, auf welche Weise die Beschlüsse zu fassen sind, teils darin, über welche Gegenstände abgestimmt werden darf. Knackpunkt war vor allem der Klarnamenzwang, der geheime Stimmabgaben ausschließt. Aber auch die Übertragung von Stimmen auf andere Mitglieder bereitet vielen Piraten Unbehagen. Kettendelegationen können leicht zur Konzentration von Hunderten von Stimmen auf einige wenige „Superdelegierte“ führen. Das sind Punkte mit erheblicher Tragweite, weil sie Fragen des demokratischen Selbstverständnisses berühren. Das gilt auch für die Frage, ob man unter den genannten Voraussetzungen nicht nur über Positionspapiere, sondern zusätzlich über das Wahl- und Grundsatzprogramm der Partei, die Satzung und Personenwahlen online abstimmen darf. Dass sich viele Piraten damit schwer tun, ist für mich weniger ein Zeichen von Angst, als vielmehr Beleg für hohe demokratische Ansprüche und ein besonderes Bewusstsein für mögliche Gefahren im Internet.
politik-digital.de: Wie stehen Sie aus direktdemokratischer Perspektive zu der Entscheidung, keine Delegierten zu den Parteitagen zu schicken? Wie demokratisch ist die Entscheidungsfindung, wenn ein Projekt wie die SMV auf dem BPT131 abgelehnt, auf dem BPT132 jedoch verabschiedet wird, ohne dass sich notwendigerweise die Ansichten der Mitglieder geändert haben?
Jens Kuhlemann: Wichtig ist, dass jeder Mensch selbstbestimmt über politische Fragen entscheiden darf. Das gilt auch für die Mitglieder der Piratenpartei. Die Möglichkeit, das Stimmrecht selbst ausüben zu können, ist dafür unerlässlich. Auf uns wartet aber noch die spannende Diskussion, ob es auf Parteitagen nicht gleichzeitig auch Mitglieder geben sollte, an die andere Piraten das eigene Stimmrecht delegiert haben – weil sie nicht anwesend sein können oder weil sie anderen Personen ihres Vertrauens bei bestimmten Sachthemen das bessere Urteilsvermögen zugestehen. Auch eine solche Stimmübertragung wäre ein Ausdruck eines selbstbestimmten Willens und meines Erachtens legitim.
Was sich möglicherweise verändernde Mehrheiten in Bezug auf die SMV betrifft, so wäre ich vorsichtig mit der Behauptung, dass dem keine Meinungsänderung zugrunde liegen könnte. Läuten wir doch erst einmal die nächste Diskussionsrunde ein. Faire und sachbezogene Willensbildungsprozesse sind schließlich immer auch Bildungsprozesse. Kaum einer hat am Ende dann die gleiche Meinung wie am Anfang.
politik-digital.de: Haben die anderen Parteien die Piraten in punkto Online-Courage womöglich inzwischen überholt?
Jens Kuhlemann: Reden Sie davon, dass es inzwischen bei jeder Partei, die etwas auf sich hält, en vogue geworden ist, einen „Internet-Beauftragten“ zu ernennen? Es ist eben Wahlkampf und der politische Konkurrent versucht natürlich, Wähler anzuziehen, denen dieser Bereich am Herzen liegt. Insofern haben die Piraten durch ihren Bedeutungszuwachs bereits eine Neuausrichtung der politischen Themen anderer Parteien bewirkt. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass diese Parteien der Netzpolitik tatsächlich die gleiche Priorität einräumen wie die Piratenpartei.
politik-digital.de: Was sollte sich bei den Piraten auf personeller und bürokratischer Ebene tun, damit sie wählbar bleiben bzw. es wieder werden?
Jens Kuhlemann: Generell wünsche ich mir mehr Gelassenheit bei den Parteimitgliedern und etwas mehr Nachsicht bei den Wählern. Für eine Partei, die es erst seit 2006 gibt, hat sie bereits große Erfolge verbuchen können – und das ohne finanzielle und administrative Ressourcen, wie sie den etablierten Parteien zur Verfügung stehen. Das übersehen viele, die nach dem Einzug in vier Landesparlamente ihre Erwartungen an die Partei in unrealistische Höhen geschraubt haben. Daraus resultieren dann zwangsläufig Enttäuschung und die Suche nach Schuldigen. Unerfahrenheit haben die Wähler den Piraten verziehen – ja, sie war sogar ein Pluspunkt, weil ihre Unbedarftheit im politischen Geschäft als besonders glaubwürdig bei einer nach Ehrlichkeit verlangenden Öffentlichkeit ankam. Aber destruktive Streitereien honorieren die Wähler nicht. Denn sie fragen sich zu Recht, wie eine Partei in der Lage sein soll, die großen Probleme in der Welt zu lösen, wenn sie einen Großteil ihrer Kräfte auf innere Auseinandersetzungen richtet. Dennoch: Die Piraten besetzen wichtige politische Themen so konsequent wie keine andere Partei und entwickeln wegweisende Partizipationsformen. Wenn wir es schaffen, dies den Menschen wieder ins Gedächtnis zu rufen, wird sich das auch in den kommenden Wahlergebnissen widerspiegeln.
Bilder: humanoid23 (CC BY 2.0), Jay Kay (CC BY-SA 3.0 DE)

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