Die Wahlerfolge der Piraten sind historisch, die deutsche Parteienlandschaft ist erstmals seit drei Dekaden wieder signifikant erweitert worden. Neben dem Zeitgeist-Thema Netzpolitik ist vor allem die Art und Weise, wie die Partei das Internet nutzt, ausschlaggebend für ihren Erfolg – doch haben sie damit Vorbildcharakter für andere Kleinparteien? politik-digital.de sucht nach Antworten.

Bei der Bundestagswahl 2009 entfielen sechs Prozent der abgegebenen Stimmen auf sie. Jene kleinen Parteien, die in der Statistik unter dem undankbaren Label „sonstige“ zusammengefasst werden. 63 von ihnen gibt es aktuell deutschlandweit – und die wenigsten sind der breiten Öffentlichkeit bekannt. In Gesprächen mit dem Politologen und Kleinparteien-Experten Marcel Solar von der Universität Bonn sowie drei Vertretern von Kleinparteien erörterte politik-digital.de die obige Fragestellung. Sebastian Frankenberger von der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP), Michael Stürzenberger von der Bürgerrechtspartei für mehr Freiheit und Demokratie (DIE FREIHEIT) sowie Michael Maercks von der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) haben zu dem Thema Stellung bezogen.

Niedergang der Parteiendemokratie?

Aktuell vertreten nicht nur Experten die Auffassung, dass Parteien immer weiter an Bedeutung verlieren werden und dass am Ende von ihrem im Grundgesetz verankerten Auftrag zur politischen Willensbildung des Volkes in der Realität nicht mehr viel übrig bleiben wird. Zu schwerfällig und altbacken kämen sie bei der politischen Kommunikation im digitalen Zeitalter daher, zu wenig zeitgemäß und bürgernah präsentierten sie sich. Erleben wir eine politische Zeitenwende, in der Parteien für politische Prozesse entbehrlich werden?

Der Bonner Politologe Solar widerspricht: „Deutschland ist nach wie vor eine Parteiendemokratie und es spricht wenig dafür, dass sich dies grundsätzlich ändern wird“. Bürgerbewegungen, Demonstrationen und Diskussionen im Netz seien eher als Ergänzung zur Rolle der Parteien zu sehen und nicht als Konkurrenz. Wenn Parteien also mittelfristig nicht obsolet werden und sie sich weiterhin in ihrer Rolle als politischer Willensbilder behaupten, kann das Internet ein effizientes Werkzeug der politischen Selbstdarstellung und auch Mitglieder- bzw. Bürgerbeteiligung sein. Die Piraten haben es vorgemacht – und sich bekanntermaßen in den fünf Jahren ihrer Existenz zu einer neuen Größe in der deutschen Politiklandschaft gemausert.

Kleinparteien und die Medien: Oft ein ambivalentes Verhältnis

Michael Stürzenberger / © Roland Heinrich

Für Michael Stürzenberger von der Partei DIE FREIHEIT hat dieser Erfolg auch viel mit der Berichterstattung zu tun: „Auch dank einer umfangreichen und wohlwollenden Medienberichterstattung“ stünden die Piraten nun dort, wo sie sich gerade befinden: laut aktuellen Umfragen bundesweit bei etwa zehn Prozent der Wählerstimmen. Gleichfalls ist der Pressesprecher von DIE FREIHEIT überzeugt: „Die Medien weigern sich momentan, auf die Fakten unserer Politik einzugehen (…) Linksgrüne Medienkonzerne wollen die völlig gerechtfertigte sachliche Kritik am Islam gesellschaftlich ächten, und das gelingt eben am besten mit der Nazikeule“.

Die Partei selbst versteht sich als bürgerlich-liberale Partei, Kritiker sehen sie hingegen als nationalliberal bis rechtspopulistisch. Ob Kampfbegriffe wie „linksgrün“ und „Nazikeule“ eine konstruktive Debatte über die Themen Multikulturalismus und speziell den Islam in Deutschland voranbringen, ist fraglich. Doch spricht Stürzenberger damit einen für alle kleinen Parteien entscheidenden Punkt an: die Abhängigkeit von der medialen Berichterstattung.

Auch Sebastian Frankenberger von der ÖDP, deren selbst formulierte Schwerpunkte Demokratie-, Umwelt- und Familienpolitik sind, räumt ein: „Da wir weder in einem Landtag, noch dem Bundestag oder dem Europäischen Parlament Mandate haben, ist es zugegebenermaßen schwierig, bundesweit von der Presse wahrgenommen zu werden“. Ist die Tatsache, dass kleine Parteien regelmäßig durch die Berichterstattungsraster der klassischen Leitmedien fallen, also ein Demokratiedefizit?

Abgestufte Chancengleichheit für alle zugelassenen Parteien

Marcel Solar / © Andreas Sartor

Man kann argumentieren, dass das Internet und die sozialen Medien eine historisch bislang einmalige Chance für Kleinparteien mit sich bringen. Ohne große Materialschlachten und teure Kampagnen können sie nun über das Netz auf sich aufmerksam machen und so zumindest ins Bewusstsein Internet-affiner Bürger vordringen. Marcel Solar pflichtet dieser These in der Theorie zwar bei, gibt aber zu bedenken: „Eine Kleinpartei muss trotz aller verfügbaren Kommunikationskanäle im Netz dieselben Anforderungen erfüllen, wie auch vor 40 Jahren: Sie braucht eine ansprechende Thematik, glaubwürdige Repräsentanten, engagierte Mitglieder und Ressourcen, um eine Chance zu haben“. Ein professioneller Internet-Auftritt und eine starke Präsenz bei Facebook und Twitter sind also noch kein Erfolgsgarant.

Die Schattenseiten von Internet und sozialen Medien

Während der ÖDP-Chef und der Pressesprecher der FREIHEIT einhellig angeben, mit ihren Parteien auf Facebook präsent zu sein und dort „intensiv zu kommunizieren“ (Stürzenberger), räumt Frankenberger von der ÖDP jedoch ein: „Es besteht auch die Gefahr, dass sich vieles verläuft, weil es mittlerweile Millionen Seiten gibt“. Das große Rauschen des Internet, in dem viele um die Aufmerksamkeit der User buhlen – und nur wenige sie erlangen.

Michael Maercks (KPD) - Foto: privat

Eine allzu große Fokussierung auf das Internet – das zentrale Medium der viel zitierten Demokratisierung der Informationsgesellschaft – lässt sich allerdings ohnehin bei keinem der drei Parteienvertreter feststellen. Michael Maercks von der DKP begründet das aus seiner Sicht wie folgt: „Von einer Demokratisierung der Informationsgesellschaft zu sprechen, geht an den Realitäten vorbei. Im Gegenteil, wir beobachten einen immensen Abbau demokratischer Rechte. Die wirtschaftlichen und politischen Machtstrukturen der Realwirtschaft machen keinen Halt vor dem Internet“. Auch in den sozialen Medien sieht der Kommunist bei weitem nicht nur Gutes: „Soziale Netzwerke werden immer mehr zu Marketingzwecken missbraucht, das Schufa-Projekt, gezielt Daten über die Verbraucher zu sammeln, zeigt die Gefahr“.

Bekenntnis zur Präsenz auf der Straße

Einig sind sich die drei Parteienvertreter bei aller Unterschiedlichkeit der politischen Agenda jedoch darin, dass Internet-basierte politische Kommunikation „die Präsenz auf der Straße niemals komplett ersetzen kann“ (Stürzenberger). Michael Maercks ergänzt: „Massenproteste, die wirklich politische Bedeutung erlangen, können nicht in die virtuelle Welt ausgelagert werden. Internet, Facebook und Twitter sind dann Mittel zur Unterstützung wie das Plakat, die Kleinzeitung, das persönliche Gespräch“. Und der ÖDP-Chef erinnert an die „breite Masse an Bürgern, gerade älteren, die nicht so Internet-affin sind und deshalb auf der Straße angesprochen werden möchten“. Stürzenberger geht sogar noch einen Schritt weiter und warnt davor, sich durch die vielen Kommunikationsmöglichkeiten des Internet völlig vereinnahmen zu lassen “ wie beispielsweise der neue Geschäftsführer der Piraten, Johannes Ponader, der während der TV-Sendung „Jauch“ ständig twitterte. Das hat schon etwas von Suchtcharakter“.

Sind die Kernthemen der Piraten – (Internet-basierte) „Teilhabe“ und „Transparenz“ – dennoch nachahmenswert für die drei Kleinparteien? Der Kommunist Maercks dazu: „Partizipation und Transparenz, das gilt auch für die DKP. Wir versuchen, alle Mitglieder über die Mitgliederversammlungen zu erreichen, um eine politische Willensbildung von unten nach oben zu gewährleisten“. Zwar räumt er ein, dass dazu auch „immer mehr die moderne Informationstechnik“ gehöre, doch von Partizipations-Software wie „Liquid Feedback“ oder „Adhocracy“ ist dabei nicht die Rede. Auch FREIHEIT-Pressesprecher Stürzenberger wiegelt ab: „Unsere Partei legt insgesamt mehr Wert auf den direkten persönlichen Kontakt, sowohl bei Kundgebungen, Infoständen und Demonstrationen als auch bei Mitgliedertreffen. Das Internet nutzen wir als Informationsplattform, zur Berichterstattung, zu Telefonkonferenzen und zur innerparteilichen Diskussionsmöglichkeit in Foren“.

Kampfansage an die Piraten

Doch hat DIE FREIHEIT laut Stürzenberger bereits einen Achtungserfolg im Hinblick auf Netz-basierte Kampagnen vorzuweisen: „Während des Berliner Wahlkampfes hatten wir im Internet mit der ‘Money-Bomb‚-Spendeninitiative großen Erfolg und konnten innerhalb von 24 Stunden 58.000 Euro an Spendengeldern einsammeln“. Zwar bietet seine Partei zu dem von ihr initiierten Bürgerbegehren gegen das in München geplante „Zentrum für Islam in Europa” Unterschriftenlisten zum Herunterladen an, doch Stürzenberger betont: „Wir haben aber die Erfahrung gemacht, dass man für eine solche Aktion die Menschen auf der Straße ansprechen und überzeugen muss“.

Sebastian Frankenberger (ÖDP)

Als Beispiele für die eingangs erwähnte These von der historisch günstigen Möglichkeit einer „Netz-Offensive der Kleinparteien“ taugen also wohl weder ÖDP, DIE FREIHEIT noch DKP in besonderem Maße. Auch wenn dies laut eigenem Bekundungen vorrangig mit den Erfahrungen zu tun hat, die man mit der eigenen Wählerschaft bislang gesammelt habe.

Die Frage nach der Nutzung des Internets und der sozialen Medien durch Kleinparteien dürfte als Forschungskomplex zusehends interessant werden – gerade vor dem Hintergrund der voranschreitenden Ausdifferenzierung des Parteiensystems.

 

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