Wenige Monate vor den Olympischen Sommerspielen erschüttern politische Unruhen das Gastgeberland Brasilien. Die beiden Journalistinnen Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl berichten schon seit mehreren Jahren aus dem Leben in den Favelas von Rio de Janeiro. Sie untersuchen speziell, wie die Nutzung von Social Media Leben und Sicherheitslage der Bewohner der Armenviertel verändert.

„Social Media sind für die Bewohner der Favelas überlebenswichtig“, leitete Julia Jaroschewski ihre Präsentation gestern im Telefónica Basecamp ein. Jahrzehntelang waren die Armenviertel Black Boxes. Es gab keine Kommunikation aus den Favelas heraus. Wenn im Krieg zwischen den Drogenbanden zivile Opfer ins Kreuzfeuer gerieten, wurde das nicht publik gemacht. Die Favelas von Rio sind Städte in der Stadt. Es gibt mehr als 1.000 solcher Armenviertel und in der größten, Rocinha, leben neben den beiden Journalistinnen noch 300.000 Menschen. Bis vor kurzem waren die Favelas auch bei Google Maps noch nur gelbe Flecken aus der Karte.

Gemeinsam Karten füllen

Doch langsam wandelt sich diese Situation durch Initiativen wie „tá no mapa“ (auf Deutsch: ist auf der Karte). Auf deren portugiesischsprachiger Website können Favela-Bewohner selbst die Karten ihres Viertels bearbeiten. So wurde bereits für einige Favelas Google Maps vervollständigt. Es wurden auch viele Einkaufsmöglichkeiten, Bars und Übernachtungsmöglichkeiten eingetragen. Die Gruppe möchte damit die Favelas sichtbar machen um auch Verbindungen zum Rest der Stadt zu schaffen. Bisher sind erst 0,001% der Favelas kartografiert.

Aber auch abseits dieser Initiative floriert das Digitale. Brasilien ist ein Land mit vielen Internetnutzern: 52% der Brasilianer sind online. Bei den Jugendlichen sind es sogar etwa 80%. Und der Anteil ist in den Favelas sogar zum Teil höher als in etwas wohlhabenderen Gegenden. Fast jeder besitzt hier ein Smartphone: „Computer gehören ins Museum.“ So wird sich vor allem über die Sozialen Netzwerke Facebook, WhatsApp und Twitter fortlaufend ausgetauscht. Dieser Austausch dient nicht nur der Unterhaltung. Erst seit den Besetzungen einiger Favelas durch die Polizei in Vorbereitung auf die Fußball-WM 2014 werden diese wieder von der Regierung verwaltet. Vorher regierten die Drogenbanden. Die Bewohner hatten sich ihren Strom einfach irgendwo abgezapft und sich ihre Wasserversorgung selbst gelegt. So ist es nun für viele eine völlig neue Erfahrung, für Strom und Wasser zu zahlen. Online wird sich über die Preise und Anbieter ausgetauscht. Man teilt die Erfahrungen, die man mit den Behörden gesammelt hat, um anderen zu helfen, faire Bedingungen auszuhandeln.

Die Gemeinschaft warnen

Die Social Media versorgen die Menschen mit lebenswichtigen Informationen. So informieren sich Nachbarn gegenseitig, wenn zum Beispiel Schießereien auf der Straße sind oder eines der vielen tausenden Stromkabel Feuer gefangen hat und auf die Straße gefallen ist. Die sozialen Netzwerke sind inzwischen für viele Bewohner ein „GPS der Sicherheit“ geworden. Die Aktualität der Warnungen wird fortlaufend verifiziert. Kamen die Schüsse doch aus einer anderen Straße, so werden solche Informationen schnell von anderen Bewohnern korrigiert. So hat man erstmals die Möglichkeit, sich relativ sicher durch die Viertel zu bewegen, da man weiß, wo die Konflikte derzeit sind und sie umgehen kann.

Todesfälle aufklären

Auch bei der Aufklärung von Gewalttaten werden die sozialen Medien genutzt. So konnte beispielsweise der „Fall Amarildo“ vor kurzem aufgeklärt werden. Amarildo war ein Favela-Bewohner und arbeitete als Maurergehilfe. Er verschwand im Juli 2013. Seine Verwandten und Bekannten verdächtigten die sogenannte „Befriedungspolizei“ und machten den Fall in den sozialen Netzen publik. Ihre Kampagne „Wo ist Amarildo?“ wurde von vielen geteilt und erreichte internationale Aufmerksamkeit. So konnte Handlungsdruck auf die Behörden aufgebaut werden, die Ermittlungsverfahren einleiten mussten. Es stellte sich heraus, dass Amarildo von der „Befriedungspolizei“ verschleppt und zu Tode gefoltert wurde. Angeblich hielt man ihn für ein Mitglied einer Drogenbande. Beginn dieses Jahres wurde der Prozess beendet. Dem Kommandanten der Einheit wurde die größte Schuld zugewiesen, er wurde zu 13 Jahren und 7 Monaten Haft verurteilt. Von den 25 Polizisten der Einheit wurden 12 für schuldig erklärt und zu 10 Jahren Haft verurteilt. Der Fall stellt einen Wendepunkt in der Geschichte der Favelas dar. Solche Fälle sind nicht selten. Die Polizeigewalt in Brasilien ist exzessiv: im Durchschnitt werden pro Tag sechs Menschen durch die Polizei getötet. Das Neue an dem Fall ist, dass sich die Behörden dafür rechtfertigen müssen und dass daraus Konsequenzen folgen. Eine Veränderung, die durch Social Media ermöglicht wurde.

Öffentlichkeit schaffen

Die Sozialen Netzwerke ermöglichen es den Bürgern, sich gegen die Regierung durchzusetzen und ihre Rechte einzuklagen, indem sie Öffentlichkeit schaffen, wo vorher niemand so genau hinschauen wollte. Sie werden auch genutzt um sich zu organisieren. Für Aktivisten sind Facebook und Twitter die wichtigsten Tools. Sie verbinden online- und offline-Aktivitäten. So kann binnen kürzester Zeit eine Demonstration durch die Plattformen organisiert werden. Dort werden nicht nur die Leute der eigenen Favela erreicht, sondern man kann sich Favela-übergreifend austauschen und gemeinsam planen. Diese Möglichkeit gab es früher nicht, da es bis heute gefährlich ist von einer Favela einer Drogengang in die Favela einer anderen Gang zu gehen. Doch online sind diese Grenzen offen.

Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl beobachten nicht nur, sondern sind Teil dieser Bewegung. Sie wohnen seit mehreren Jahren den Großteil des Jahres in der größten Favela von Rio. In ihrem Watchblog kann man sich über das aktuelle Geschehen in Brasilien und speziell in der Favela Rocinha informieren.

Bild: dany13, CC BY 2.0, Original zugeschnitten

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