Im April und Mai 2002, in zwei Durchgängen, wählt Frankreich seinen Staatspräsidenten. Während die Wahlen von 1995 noch in einer echten Offline-Atmosphäre stattgefunden haben, sind heute alle Akteure komplett ‘en ligne’: Die führenden Kandidaten benutzen das Internet für interne Wahlkampforganisation, teilweise für Fundraising und, natürlich, um massiv direkt mit ihren potentiellen Wählern zu kommunizieren.

Nach einigen Jahren schwerfälliger Internet-Entwicklung hat im Jahre 2002 auch ein Großteil der französischen Bevölkerung den Zugang zum Netz gefunden – für geschäftliche, private oder auch für politische Angelegenheiten. Die Internetnutzung unter Wahlberechtigten und zugleich politisch Interessierten dürfte bei ca. 40% liegen.


http://www.elysee.fr/

2001 befanden sich die Akteure noch in der institutionellen Aufwärmphase: Man konnte spektakuläre Updates wichtiger Websites der sozialistischen Regierung von Premierminister Jospin verzeichnen (z.B.
www.premier-ministre.gouv.fr oder
www.service-public.fr) und kurz darauf die neue Webpräsentation des konservativen Staatschefs Jacques Chirac bewundern (
www.elysee.fr). Parallel dazu nutzen Parteien, Interessenverbände sowie andere Institutionen massiv Web und Email zur Kommunikation mit der französischen Öffentlichkeit.

Im Januar und Februar 2002 haben alle wichtigen Akteure offiziell ihre Kandidatur für das Amt des Staatspäsidenten erklärt – und für erste innovative Wahlkampf-Messages im Netz gesorgt. Mit einem typisch französischen Touch von Humor geisterte politischer “Hoax” über das Web: “Virus-Alarm: Jospin.exe kann Ihren Computer lahm legen, wenn er mehr als 35 Stunden pro Woche läuft…” oder der so genannte “Chirac2002”-Virus der “Ihr Betriebsystem durch Löschung der Archive blockiert, Ihre Informationen manipuliert und Ihre Steuererklärung fälscht, etc.”

Solche Untergrundoperationen deuten auf die heißen Themen des Präsidentschaftswahlkampfs hin: Steigende Arbeitslosigkeit, die obligatorische 35-Stunden-Woche, Probleme der inneren Sicherheit – und persönliche Skandale um Jacques Chirac (und um einige sozialistische Politiker).

Die etwas offiziellere Seite: Inzwischen sind alle Kandidaten im Netz vertreten, eine Auswahl der wichtigsten Sites:

  • www.chiracaveclafrance.com (Chirac mit Frankreich) präsentiert den konservativen Staatspräsidenten Jacques Chirac, der sein zweites Mandat anstrebt. Die Site wird von einigen Jungpolitikern und PR-Strategen unterhalten und zeigt sich sehr personen-orientiert mit ausführlichen biographischen Angaben, Reden, speziellen Ankündigungen, politischen Visionen sowie Bildern und Videos von Jacques Chirac.


http://www.lioneljospin.net/

  • www.lioneljospin.net wurde erst Ende Februar 2002 vom aktuellen Premierminister Jospin gelaunched. Jospin präsentiert sein “neues Projekt”, dass er als zukünftiger Staatspräsident durchsetzen möchte und sich selbst. Lionel Jospin, der sich gerne als Team-Player sieht, versucht über Newsletter und Diskussionsforum seine Wähler anzuziehen. Obwohl Jospin eher den Ruf eines Internet-Freundes genießt, bleibt noch etwas Aufbauarbeit zu tun.

    http://www.alainmadelin.com/

  • www.alainmadelin.com ist eine der professionellsten Websites der französischen Politik. Er gehört zu Alain Madelin, einem ehemaligen rechtsliberalen Wirtschaftsminister. Im Vergleich zu den beiden führenden Wahlkämpfern Chirac und Jospin hat der reformorientierte Madelin wenig Chancen auf das Präsidentenamt, seine Online-Kommunikation war allerdings schon immer eine Referenz in Frankreich. Neben einem peppigen Design bietet der Website detaillierte Updates von der Kampagne, biographische Informationen, Reden, Videos, Chat-Foren, Newsletter, Partei-Intranet, etc.

  • www.noelmamere.eu.org bietet auf der anderen Seite eine recht mittelmäßige Präsentation des Grünen Präsidentschaftskandidaten Noel Mamère. In der politischen Diskussion in den klassischen Medien, Presse und TV, schlägt sich Noel Mamère traditionell sehr gut, das Internet scheint ihn und seine Freunde allerdings weniger zu interessieren. Der offizielle Website präsentiert die wichtigsten Programmpunkte der französischen Grünen, ein Gästebuch, ein Diskussionsforum und vereinzelte Informationen zur Wahlkampftour.

Die Organisatoren von
www.temps-reels.net, den Sozialisten nahe stehend, gehören in Frankreich zu den führenden ePolitics-Akteuren. Sie sehen für die
französische Politik im Jahre 2002, d.h. Präsidentschaftswahl im Frühjahr und Parlamentswahl im Sommer, folgende allgemeine Tendenzen:

  • erste Peer-to-Peer Sites, die Stimmen von Kandidaten der zweiten Garde sammeln werden
  • erfolgreichere Online-Präsentation der Wahlkampfergebnisse im Vergleich zu TV
  • erstes Online-Fundraising für Kandidaten
  • erste gezielte Desinformation gegen Kandidaten über das Netz (inkl. “Viral-Marketing”)
  • erste vergleichende Wahlkampfsites (z.B.
    presidentielles.net)
  • verstärkte Online-Politiksatire
  • Hacking-Versuche gegen offizielle Wahlkampfsites, politisches Online-Spamming
  • ein Kandidat wird mehr als 30.000 Unterstützer-eMails sammeln
  • SMS über Mobiltelefone kommt zum Einsatz

Frisch entstandene B2B-Websites zu ePolitics und eGovernment werden den an Frankreich interessierten Lesern weitere Updates liefern können, z.B.
netpolitique.net oder
professionpolitique.com.

Erschienen am 04.03.2002