Diskussion-MSFT-Politik (Bild Tobias Schwarz CC BY-SA 3 0)In diesem Herbst werden in Deutschland Kinder eingeschult, die erst nach der Gründung von Google, Facebook und Twitter geboren wurden und im Jahr 2025 das erste Mal an einer Bundestagswahl teilnehmen werden. Keiner vermag vorherzusehen, welche technischen Bedingungen unsere Gesellschaft dann bestimmen werden. Fest steht aber jetzt schon, dass auch diese Kinder mit einem über 100 Jahre alten Bildungswesen auf diese Zeit nur unzureichend vorbereitet sein werden. Dies kann eine Gefahr für unsere Demokratie sein.

 Soziale Netzwerke statt Wahlurne?

Am Mittwoch abend fand in den Räumen des Quadriga-Forums eine Diskussion im Rahmen der siebenteiligen Veranstaltungsreihe “Digitales Deutschland” statt, in der das Politik-Team von Microsoft Deutschland Gäste zum Thema “Neue Demokratie: Soziale Netzwerke statt Wahlurne?” eingeladen hatte. Neben dem SPD-Bundestagsabgeordneten Lars Klingbeil nahmen Thomas Langkabel , National Technology Officer von Microsoft Deutschland, sowie Dr. Philipp S. Müller  vom IT-Beratungs- und -Dienstleistungsunternehmen CSC  und Prof. Dr. Caja Thimm, Leiterin der Abteilung Medienwissenschaft an der Universität Bonn, an der Podiumsdiskussion teil. Moderiert wurde die Veranstaltung von der Journalistin Ursula Weidenfeld.
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Möglichkeiten digitaler Partizipation von Bürger_innen bei politischen Entscheidungsprozessen und der Bedeutung sozialer Medien bei politischer Meinungsbildung wurde nach den Folgen dieser Entwicklung für die repräsentative Demokratie gefragt. Wird sie durch direkte Online-Teilhabe geschwächt oder gestärkt und wie können Bürger_innen und Staat von dem Mehr an politischer Mitbestimmung profitieren? In einem Eingangsvideo kam unter anderem Ralf Lindner vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI zu Wort, der keine revolutionäre Veränderung des politischen Lebens durch das Internet erkennen mag, durchaus aber eine Veränderung in den Bereichen Geschwindigkeit, Transparenz, Organisation und Verantwortung. Eine Lehrerin sprach in dem Video über den Umgang der von ihr betreuten Schüler_innen mit dem Internet. Die Kinder nutzten das Netz und seine Möglichkeiten heutzutage mit einem Selbstverständnis, das eine gewisse Erwartungshaltung an digitale Beteiligungsmöglichkeiten herstelle, die zurzeit in Deutschland kaum befriedigt würden.

 Die Politik muss die politische Gestaltungsaufgabe des digitalen Wandels annehmen

Mit dem Statement der Lehrerin war schnell ein breites Themenfeld in der Debatte um Medienkompetenz eröffnet, um das es an dem Abend eigentlich nicht unbedingt gehen sollte und das zeitgleich vom Think Tank “Internet&Gesellschaft Co:llaboratory”  ein paar Straßen weiter unter dem Titel “Lernen in der digitalen Gesellschaft” behandelt wurde. So kam es auch, dass chnell über die Vermittlung von digitaler Medienkompetenz diskutiert wurde oder – wie Langkabel es bevorzugt nennen würde – die Vermittlung von Partizipationskompetenz.                                                                                                                   Für Caja Thimm liegt der Kern des Wandels in der Verstärkung der Bewegungen ins Mobile und der Entstehung einer digitalen Beteiligungskultur. Philipp Müller, der im vergangenen Jahr ein Buch über Strategien für eine offene Welt geschrieben hat, vergleicht Software in unserer digitalen Gesellschaft mit Gesetzen, die die Bedingungen des Handelns und Zusammenlebens regeln und Grenzen aufzeigen. Die repräsentative Demokratie hält er für die geeignete Staatsformfür den Umgang mit Massenmedien, warnt aber davor, dass es auch eine Art digitalen Faschismus geben könne, Demokratie also stets wehrhaft bleiben müsse, trotz aller Transparenz und Beteiligung. Laut seiner Einschätzung werde sich eine Gruppe von Expert_innen bilden, die komplexe Vorgänge für die Gesellschaft “übersetzen” werden müssten. In einer Demokratie eigneten sich dafür am besten Journalist_innen, also die selbst ernannte vierte Gewalt im Staat.
Der SPD-Netzpolitiker Lars Klingbeil sieht auch klar für die Politik einen Wandel, denn einerseits verliere das Lokale stetig an Bedeutung, andererseits werde die Kommunikation individualisierter. Für den MdB Klingbeil bedeutet dies, dass Entscheidung über seinen ländlichen Wahlkreis immer weniger von bundespolitischer Relevanz seien, die Bürger_innen des Wahlkreises ihn aber immer besser erreichen und Probleme detaillierter behandelt würden. In dieser Entwicklung befürchtet Langkabel die Entwicklung hin zu einer Art “Fast Food-Demokratie”, was durch Anpassung des politischen Systems verhindert werden müsse. Ein Beispiel dafür ist seines Erachtens die “Death Star Petition” in den USA, die nach den Regeln für einePetition erfolgreich war, jedoch letztlich zu einer Erhöhung der notwendigen Unterschriften  für eine erfolgreiche Petition führte. Diese notwendige Anpassung versteht Thimm als ein Zeichen von politischer Verantwortung in einer digitalisierten Demokratie.

Partizipationskompetenz statt Medienkompetenz

Um aber diese Verantwortung zu erlernen, müsse sich insbesondere das Bildungswesen den digitalen Veränderungen unserer Zeit anpassen. Verantwortungsvolle Teilhabe an politischen Prozessen könne aber nur erfolgen, wie Langkabel betonte, wenn die Menschen bestmöglich informiert seien. Eine Stärkung der Informationsfreiheit, mehr Offenheit im Umgang mit staatlichen Daten und dem Regierungshandeln  seien Grundvoraussetzungen dafür.
Diese Entwicklung muss von der Politik angestoßen werden, doch bisher scheinen sich die Parteien in Regierungsverantwortung dieser Gestaltungsaufgabe nicht ausreichend bewusst zu sein. Die Politik muss in diesem Bereich aktiver werden und darf Unternehmen wie Apple, Google oder Microsoft nicht die Gestaltung des Bildungswesen, z.B. durch Ausrüstung von Modellschulen, überlassen. Es reicht nicht, die Schulen mit Computern und Tablet-PCs auszustatten – vielmehr sind auch qualifizierte Lehrkräfte notwendig, die die Werte unserer digitalen Gesellschaft vermitteln, frei von proprietären technischen Rahmen.
In Niedersachsen könnte sich dies bald ändern. Heute begannen die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Bündnis’90/Die Grünen, die beide in ihren Wahlprogrammen dieses Thema ausführlich behandelt haben. Die SPD Niedersachsen versprach in ihrem Wahlprogramm, dass sie den digitalen Medienwandel auch in die Schulen bringen möchte. In der fachgerechten Vermittlung von Medienkompetenz sehen die Genoss_innen von der Leine eine notwendige “Schlüsselqualifikation für digitale Teilhabe”. Deshalb sollten medienpolitische Inhalte fester Bestandteil einer pädagogischen Ausbildung von Lehrer_innen werden. Um die Bereitstellung der entsprechenden Lehrmaterialien zu ermöglichen, will die SPD den Einsatz von analogen wie digitalen Lernmaterialien fördern, “die als offene Lizenzen von Lehrerinnen und Lehrern sowie Schülerinnen und Schülern genutzt werden können”. Die niedersächsischen Grünen gehen in ihrem Wahlprogramm in dieselbe Richtung. Sie setzen sich für eine bessere Ausstattung der Schulen mit moderner Technik ein, fordern aber auch Lehrpläne und eine Ausbildung von Pädagog_innen, die den digitalen Wandel wiederspiegeln. Die Entwicklungen und Versuche in Niedersachsen versprechen interessante Beobachtungen.

Vertrauen, Offenheit und Teilhabe neu denken

Die Frage nach den Auswirkungen der Digitalisierung für die repräsentative Demokratie brachte die Diskussion am Mittwochabend auf das noch allzu analoge deutsche Bildungswesen. In der Ausbildung zukünftiger Generationen von Staatsbürger_innen liege die Zukunft unseres demokratischen Gesellschaftssystems. Prinzipien wie Transparenz und Partizipation sind elementar für die Zukunft, darin waren sich alle Anwesenden einig. Der Umgang mit diesen Prinzipien und das Verständnis über ihren Einfluss auf die politische Kultur müssen erlernt werden. Dabei darf das bisher wichtige politische Prinzip des Vertrauens nicht in der Hintergrund rücken, sondern muss neu definiert und in Einklang mit mehr Offenheit und Teilhabe gebracht werden. Diese Erkenntnis bleibt als Fazit einer von vielen Diskussionen zur digitalen Demokratie und der noch fehlenden Medien- oder Partizipationskompetenz stehen, ein weiterer reiner “Schnittchenabend” im politischen Berlin war diese Diskussion also nicht.
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