Die Sozialdemokraten geben sich visionär. Mit einem Zukunftsdialog rufen die Genossen seit Februar 2012 interessierte Bürgerinnen und Bürger dazu auf, im großen Stil über die Zukunft unseres Landes zu diskutieren.

Auf der Website des Zukunftsdialogs kommt dabei die von Liquid Democracy e.V. entwickelte Beteiligungs-Software „adhocracy“ zur Anwendung. Diese ermöglicht es jedem Interessierten, an der politischen Diskussion teilzunehmen – im Bewusstsein, dass die SPD-Bundestagsfraktion letztlich Adressat der eigenen Beiträge ist. Andere User können Feedback geben, Vorschläge unterstützen, Gegenargumente vorbringen, kurz: sich an der digitalen Debatte beteiligen.

Die gleiche politische Leidenschaft und der gleiche Ideenreichtum, die oft in den Leser-Foren großer Online-Zeitungen oder am Stammtisch vorzufinden sind – dort aber häufig wirkungslos verhallen – soll im SPD-Zukunftsdialog direkt bei den Volksvertretern Gehör finden.

Soziale Themenschwerpunkte mit Signalwirkung

Die Leitfragen des SPD-Zukunftsdialogs („Was wünschen Sie sich für unser Land im Jahr 2020? Wie wollen Sie leben?“ und „Wie müssen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft heute dafür die Weichen stellen?“) werden auf der Plattform auf konkrete Themen heruntergebrochen. Zu diesen Themen kann man in unterschiedlichen Gruppen selbst Beiträge anlegen und diejenigen anderer User kommentieren. Diskussionsgruppen, die bislang existieren, sind erwartungsgemäß am politischen Selbstverständnis der SPD orientiert: Es gibt Projektgruppen zu den Themen „Aktive Ganztagsschulen“, „Gleichstellung“, „Kreativpakt“, „Miteinander der Generationen“, „für eine neue moderne Infrastruktur“ sowie „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“.

Es wird deutlich, dass die Genossen sich bemüht haben, Schlagworte mit Signalwirkung zu finden und der Themenauswahl einen sozialen Anstrich zu geben. So soll beispielsweise der „Kreativpakt“ zwischen Wirtschaft und Kunstschaffenden letztere besser absichern und nachdrücklicher würdigen. Auch das Vorhandensein einer Gruppe, die sich explizit der Gleichstellung von Männern und Frauen widmet, soll wohl verdeutlichen: „Auch wenn uns oft Gegenteiliges nachgesagt wird – wir sind noch immer anders als die CDU.“ Wer kein Freund der Sozialdemokraten ist, könnte sich also durch die Schlagwortverengung abgeschreckt fühlen – doch das wäre schade. Man würde sich einer Chance der unmittelbaren politischen Willensäußerung berauben und eine interessante politische Initiative ins Leere laufen lassen.

Die Genossen sind im digitalen Zeitalter angekommen

Denn natürlich ist diese Form der Bürgerbeteiligung vor allem zu begrüßen – anstatt sich mit der vielzitierten Politikverdrossenheit abzufinden, wird hier die Zivilgesellschaft dazu ermutigt, in denkbar unkomplizierter Form Einfluss auf die Politik zu nehmen. Man kann es wohl auch als Umdenken bei den Sozialdemokraten deuten, nachdem es bislang den Anschein hatte, dass die etablierten Parteien und älteren Politikergenerationen verschlafen haben, der Digitalisierung der Lebenswelten vieler Bürger Rechnung zu tragen. Die Piratenpartei hat in der Tat kein Patent auf Internet-basierte, transparente Willensbildungsprozesse. Auch wenn sie sicherlich einer der Impulsgeber dafür war, ist es erfreulich, dass andere Parteien auf diesem Feld im großen Rahmen nachziehen und das Internet als Lebensraum vieler Bürger anerkennen und dementsprechende Initiativen starten.

Die Partizipationsplattform der SPD stellt allerdings nicht die Pionierarbeit dar, als welche die Genossen sie zu verkaufen versuchen. Sie mögen die erste Bundestagsfraktion sein, die ein derartiges Projekt realisiert hat, aber das liegt nur daran, dass die Piraten (noch) nicht im Bundestag vertreten sind. Sicher hat man sich bei ihnen etwas abgeschaut. Auch die Bundeskanzlerin hat parallel eine von Ziel und Funktionslogik her nahezu identische Online-Plattform ins Netz gestellt.

Im Schatten von Frau Merkels Konkurrenz-Plattform

Frau Merkels Partizipationsplattform (auf der man sich von Anfang Februar bis Mitte April betätigen konnte) kommt um einiges zugänglicher und formvollendeter daher. Während sich beim Aufrufen der SPD-Seite unweigerlich das Gefühl einstellt, man bewege sich in einem biederen Forum für Parteimitglieder, ist die Plattform der Kanzlerin um einiges einladender und übersichtlicher. Und wer wie die SPD auf absehbare Zeit wieder Regierungsverantwortung tragen möchte, muss sich auch an einer vergleichbaren Internetpräsenz der Kanzlerin messen lassen. Ungeachtet dieser ästhetischen Frage ist es entscheidend, einen Blick auf die Inhalte der beiden Plattformen zu werfen. Und auch hier kann der Besucher (und potentiell Partizipierende) zu einem zwiespältigen Urteil gelangen.

Ein höfliches Miteinander

Es gibt gehaltvolle, ernsthafte und konstruktive Beiträge auf beiden Plattformen zu entdecken, keine Frage. Etwa dann, wenn es bei der SPD um das bedingungslose Grundeinkommen geht, das ein User fordert und dafür viel Zustimmung erfährt. Seine Argumentation am SPD-Grundsatzprogramm auszurichten, wie er es getan hat, zeugt von Auseinandersetzung mit der Materie. So muss es sein. Auch der Austausch über die Forderung, Männer und Frauen in allen Berufen gleich zu bezahlen, hat bisher einen recht angeregten Austausch von Meinungen im Zukunftsdialog nach sich gezogen. Der Umgangston der Diskutanten ist in der Regel höflich und respektvoll, es herrscht größtenteils ein konstruktives Gesprächsklima. Andere Themenbereiche wie etwa der „Kreativpakt“ sind jedoch bisher völlig verwaist. Doch schwerer als das Desinteresse (oder die Unwissenheit?) der Bürger wiegen unqualifizierte Beiträge, welche den Zukunftsdialog teilweise Seriosität kosten.

Auch Trolle mischen mit

Da ist in der Tat allerlei Kurioses in den Diskussionsgruppen zu entdecken. Sei es nun der Spaßvogel, der auf der SPD-Plattform Linksverkehr fordert, weil „die das in England auch haben“ oder der türkische Mitbürger, der sein (Einzel-)Schicksal hierzulande beklagt und äußerst pauschal bessere Integrationspolitik fordert – derlei Plattformen laden eben ein  zu größtmöglicher Meinungsfreiheit. Alles muss raus. Egal, wie abstrus, unkonkret oder weltfremd. Nicht für jedermann nachvollziehbare persönliche Anliegen wie die Einführung eines „Beziehungsführerscheins“ oder „Persönlichkeitsentwicklung mit Tieren als Co-Trainer“ (auf der Plattform der Kanzlerin) fallen in dieselbe Kategorie. Gut möglich, dass einige dieser kuriosen Vorschläge nach bestem Wissen und Gewissen unterbreitet wurden – in sozialen Netzwerken würde man derlei Beiträge dennoch mehrheitlich als „Herumtrollen“ abtun. Die Schattenseite des digitalen Austauschs macht auch vor dem Zukunfstdialog nicht Halt. Ein Forumsbeitrag ist schnell mal nebenbei geschrieben – das, was keinen Aufwand erfordert, kann leicht an Ernsthaftigkeit einbüßen. Aber für spielerischen Zeitvertreib ist der Zukunftsdialog zu schade.

Denn die Online-Diskussionsplattformen der SPD-Fraktion und der Bundeskanzlerin sind per se gute Initiativen, die eine entsprechende Würdigung verdient haben. Derlei Initiativen müssen jedoch noch nachdrücklicher kommuniziert werden, damit sie eine möglichst breite Öffentlichkeit erreichen. Bislang sieht die SPD-Plattform noch nicht allzu vielversprechend aus, was vermutlich an ihrer begrenzten Reichweite liegt. Daher stechen unfundierte und Spaßbeiträge noch hervor, welche  niveauvolle potentielle Mitdiskutanten abschrecken könnten, sich zu beteiligen.

Was der Dialog noch braucht

Eine Partizipationsplattform kann aber nur so gut sein wie die Beiträge derer, die sich auf ihr betätigen. Zu wünschen wäre dem Zukunftsdialog mehr Pluralismus und vitalerer Austausch, mehr lebendige Diskussionskultur aus verschiedenen Milieus und Bevölkerungsgruppen. Alles andere würde der Vision, die dahinter steht, nicht gerecht werden.

Die Deadlines für die Bürgerbeiträge variieren. Einige Gruppendiskussionen sind abgeschlossen, andere sind bis Mitte Juni im Gange und offen für Interessenten. Grundsätzlich wird der Anspruch erhoben, dass alle Anregungen der Bürger in die Expertenrunden einfließen, die ein tragfähiges Zukunftskonzept für unser Land entwickeln sollen.