Ein Gespräch mit dem Wirtschaftswissenschaftler Professor Dr. Gerd Walger,
Universität Witten-Herdecke

politik-digital: Seit wann ist Wissensmanagement in Unternehmen ein Thema und welche Faktoren waren dafür ausschlaggebend?

Dr. Gerd Walger: Wissensmanagement ist zunächst Thema in den großen Unternehmensberatungsgesellschaften geworden und zwar Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre. Beratungsgesellschaften haben das Problem, Wissen, das sich einzelne Berater in und für einzelne Beratungsprojekte erworben haben, auch anderen Beratern zweckentsprechend verfügbar und auf einfache Weise zugänglich zu machen. Ein solches Wissensmanagement ist für Beratungsgesellschaften wesentlich, da die Expertise ihrer Berater ihr wesentlicher Produktionsfaktor ist. Dabei wird Wissen als Bestand begriffen, der von der Person des einzelnen Beraters und seiner Erfahrung abgelöst werden kann. Erst dieses bestandsmäßige Verständnis von Wissen läßt Wissen besitzen, speichern und auf andere Berater übertragen. Einen Aufschwung genommen hat dieses Wissensverständnis nicht zuletzt mit der modernen Informationstechnologie.

politik-digital: Wird das Thema in Deutschland ausreichend berücksichtigt?

Dr. Gerd Walger: Über die international tätigen Beratungsgesellschaften ist das Thema in Deutschland rasch aufgegriffen worden – zunächst in den Beratungsgesellschaften selbst und von da aus – als Beratungsleistung – auch bei den Klientenunternehmen. Einen Schub hat dabei die Entwicklung des Internets ausgelöst, mit dem per EDV auch auf einfache Weise auf Wissen ausserhalb des Unternehmens Zugriff genommen werden kann. Allerdings hat gerade diese Flut an Wissen, die über das Internet verfügbar wird, immer mehr die Frage aufkommen lassen, ob es sinnvoll ist, Wissen unabhängig und ohne Bezug auf seinen Entstehungs- und Verwendungskontext zu benutzen. Meine These lautet: Gerade die Wissensflut macht es erforderlich, im Hinblick auf die Anwendbarkeit von Wissen in einem bestimmten Anwendungskontext den Entstehungskontext des Wissens jeweils genau anzuschauen. Ich denke, dass Wissen seinen spezifischen Sinn und seine Bedeutung erst in seinem Kontext gewinnt. Erst die Bezugnahme auf den Entstehungs- und Anwendungskontext ermöglicht einen verantwortlichen Umgang mit den immensen und differenzierten Wissensbeständen gerade der heutigen Informationsgesellschaft.

politik-digital: Gibt es Ansätze, die sich auf den Bereich politische Kommunikation übertragen lassen? Beispielsweise gibt es Ansätze von Wissensmanagement im Rahmen der öffentlichen Verwaltung bei Bund, Ländern und Kommunen oder besteht da Nachholbedarf – auch im Hinblick auf die zu erwartenden Kosteneinsparungen bei gleichzeitig angespannten Haushaltslagen?

Dr. Gerd Walger: Es gibt vielfältige Ansätze für Wissensmanagement im Rahmen der öffentlichen Verwaltung – ein Stichwort ist e-government. Schaut man sich das Geschehen genauer an, dann wird deutlich, dass das Thema vor allem über die Aufrüstung der Informationstechnologie angegangen wird. Was aus meiner Sicht fehlt, ist ein Wissensmanagement, das für den persönlichen und verantwortlichen Umgang mit Wissen steht. Dies ist eine Frage der Kompetenzentwicklung derjenigen, die sich tagtäglich mit Wissen auseinanderzusetzen haben. Wird hier investiert, so kann aus meiner Sicht viel gewonnen werden.

politik-digital: “Nicht Wissensmanagement: Vergessensmanagement”: Was ist darunter zu verstehen?

Dr. Gerd Walger: Meiner Ansicht nach weist der Begriff des Vergessensmanagements hin auf ein immer größer werdendes, wichtiges Problem, das es zu lösen gilt. Es handelt sich um das Problem der Überladung durch die wachsende Informationsflut. Die Lösung für dieses Problem sehe ich darin, selbst beurteilungsfähig zu werden, d.h. in die Lage zu kommen, selbstständig Wissen daraufhin zu prüfen, ob es sich für den jeweiligen Zusammenhang eignet. Dafür ist Nicht-Wissen wesentlich. Denn Nicht-Wissen ermöglicht es erst zu fragen und macht es sinnvoll, Wissen zu prüfen. Für die Prüfung von Wissen ist es notwendig, den Entstehungskontext des Wissens zu erinnern und die Frage zu klären, in welchem Verhältnis der jeweilige Anwendungszusammenhang zu dem Entstehungskontext des Wissens steht und was dies bedeutet. Dadurch dass dies jeweils neu im jeweiligen Anwendungszusammenhang zu prüfen ist, wird Wissen zu einem Ereignis.

politik-digital: Ist ihrer Meinung nach der Zugang zur Ressource Wissen in Deutschland angemessen geregelt?

Dr. Gerd Walger: Ich denke, mit dem Internet ist der Zugriff auf Wissen für alle Menschen, die über einen Internetanschluß verfügen, so leicht geworden wie niemals zuvor. Die Regelung des Zugangs ist in diesem Sinne heute weniger denn je das Problem. Was fehlt, ist nicht der Zugang, sondern die persönliche Auseinandersetzung mit Wissen. Dies Problem betrifft Schulen, Universitäten und Weiterbildung gleichermaßen. Beobachtbar ist aus meiner Sicht ein Trend zur Verschulung auf allen Ebenen, d.h. z.B. dass Schüler und Studierende mit Wissen überhäuft werden. Demgegenüber fehlen Bildungskonzepte, die es ermöglichen zu lernen, sich selbstständig zu orientieren und eigenverantwortlich mit dem Wissen umzugehen. Es fehlen Bildungskonzepte, deren Ziel es ist, dass gelernt wird, Wissen selbstständig auf seine jeweilige Anwendbarkeit zu prüfen. Solche Konzepte zu entwickeln, betrachte ich als eine wichtige Aufgabe.

politik-digital: Welche betriebs- und volkswirtschaftliche Bedeutung hat das Wissen?

Dr. Gerd Walger: Zur Beschreibung unserer Gesellschaft wird immer häufiger der Begriff der Wissensgesellschaft benutzt. Ich denke, der Begriff stimmt. Wissen ist mehr denn je für die Entwicklung eines Unternehmens und einer Volkswirtschaft entscheidend. Aus meiner Sicht ist dabei gerade die Prüfung des Wissens, seiner Bedeutung und Reichweite wesentlich. Nur wenn sie erfolgt, handelt es sich um tragfähiges Wissen. Denken Sie z.B. an Existenzgründer in der Entscheidung, sich selbstständig zu machen: sie können nur gründen und das damit verbundene Risiko eingehen, wenn sie sich ihres Wissen über den Markt und über die eigene Produktreife persönlich vergewissern.

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