Am Freitag, dem 22.05, war Martin Schulz, SPD-Spitzenkandidat zur Europawahl, zu Gast im tagesschau-Chat in Kooperation mit politik-digital.de. Er sprach mit den Usern über den Lissaboner Vertrag, die bevorstehende Europawahl sowie über die Zukunft der europäischen Union.

Moderator: Herzlich Willkommen beim tagesschau-Chat. Heute chatten wir mit dem Spitzenkandidaten der SPD bei der Europawahl. Herr Schulz, wir freuen uns, dass Sie ins ARD-Hauptstadtstudio gekommen sind und sich den Fragen der User von tagesschau.de und politik-digital.de stellen. Liebe User, schon mal vielen Dank für die rege Beteiligung im Pre-Chat. Herr Schulz, können wir starten?

Martin Schulz: Ja, wir können starten.

 

Martin Schulz, MdEP
Martin Schulz
MdEP und SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl 2009

 

Moderator: Hier in Berlin findet gerade die offizielle Feierstunde zum 60jährigen Bestehen der Bundesrepublik und des Grundgesetzes statt. Wann wird man Grund zur Freude über eine europäische Verfassung haben?
Gleich dazu auch die erste User-Frage:
Robert: Wie soll es Ihrer Meinung nach weitergehen mit dem Europäischen Einigungsprozess (Lissabon-Vertrag)?

Martin Schulz: Ich hoffe, dass der Lissaboner Vertrag im Oktober wahrscheinlich in Irland durch eine Volksabstimmung ratifiziert wird. Dann könnte er zu Beginn 2010 in Kraft treten. Der Lissabon-Vertrag beinhaltet wichtige Reformschritte, die die EU dringend braucht. Eine stärkere Parlamentarisierung, eine höhere Anzahl an Mehrheitsentscheidungen, die Wahl des Kommissionspräsideten durch das Parlament, die Stärkung der nationalen Parlamente, auch die Volksinitiative… Also insgesamt wichtige Reformschritte.

Moderator: Die User würden gerne auch selbst mehr mitbestimmen:

Hase: Warum haben die Deutschen nicht die Chance, über die Lissaboner Verträge abzustimmen wie in anderen Staaten?

Hans Heir: Warum wird in Deutschland nicht erneut über den EU-Vertrag abgestimmt, genau wie in Irland?

Martin Schulz: Die Bundesrepublik Deutschland kennt in ihrem Verfassungsrecht keine Volksabstimmungen. Im Übrigen ist die parlamentarische Ratifizierung genauso viel wert wie Volksabstimmungen. Es gab das Bemühen, im Grundgesetz Volksabstimmungen einzuführen, zu Beginn der rot-grünen Regierung. Das ist damals an der fehlenden Zweidrittel-Mehrheit des Bundestages gescheitert. Ich selbst bin skeptisch, was Volksabstimmungen über völkerrechtlich verbindliche Verträge angeht, denn darum handelt es sich beim Lissaboner Vertrag.

wahlvorschalg: Sind Sie für die direkte Wahl des Kommissionspräsidenten? Falls ja, welche Initiativen werden Sie hierfür ergreifen?

Sozi: Was halten Sie von Schäubles Vorschlag, den EU-Präsidenten durch das Volk wählen zu lassen?

Martin Schulz: Ich wäre schon sehr zufrieden, wenn der Lissaboner Vertrag in Kraft träte und der Kommissionspräsident durch das europäische Parlament gewählt würde. Von Schäubles Vorschlag halte ich nichts. Der EU-Ratspräsident ist der Vorsitzende des Rates der Europäischen Staats- und Regierungschefs und nicht der Präsident der EU. Die EU ist nämlich kein Bundesstaat, der einen einheitlichen Präsidenten hätte.

Steimke: Volksabstimmung: Steht denn eine Volksabstimmung dem Verfassungsrecht entgegen? Wenn ja, warum möchte man dann die Verfassung nicht anpassen?

Martin Schulz: Die Frage habe ich eben bereits beantwortet. Es gab in Deutschland das Bemühen, Volksabstimmungen in das Grundgesetz aufzunehmen. Seinerzeit ist das ganz hauptsächlich am Widerstand der CSU gescheitert, die allerdings für europäische Verträge eine Volksabstimmung will – aber nur für die. Bemerkenswerter Vorgang, lässt erahnen mit welchen Zielen. Es ist übrigens einer der Hauptwidersprüche zwischen CSU und CDU in diesem Wahlkampf.

Moderator: Zum Wahlkampf kommen wir noch – der nächste User fragt zum Lissabon-Vertrag:

Adam_Ant: Worin genau bestehen die inhaltlichen Unterschiede zwischen dem 2005 durch Referenden abgelehnten Verfassungsvertrag und dem Vertrag von Lissabon?

Martin Schulz: Es ist gelungen, wesentliche Inhalte der Verfassung im Lissaboner Vertrag zu erhalten. Dennoch ist der Lissaboner Vertrag – was die Sozialverpflichtung der EU-Institutionen angeht – etwas schwächer als die Verfassung, wenn auch etwas progressiver als der Nizza-Vertrag. Auf Drängen der niederländischen Regierung vor allem wurden aus der Verfassungsdebatte alle Symbole – Flagge, Hymne etc. – gestrichen, weil Europa eben keine Seele bekommen soll, sondern ein technokratisches Projekt bleiben soll in den Augen solcher Leute.

dreifragezeichen: Kritiker sagen häufig, dass die Gewaltenteilung nicht genügend im Lissaboner Vertrag verankert sei. Wie stehen Sie hierzu?

Martin Schulz: Die Kritiker haben Recht. Das ist eines der großen Probleme, dass die EU-Mitgliedsstaaten Souveränitätsrechte auf die EU übertragen, aber das Gewaltenteilungsmodell nicht 1:1 mitübertragen. Eine Entwicklung, die ich seit langer Zeit kritisiere, und die klar macht, dass dem Lissaboner Vertrag weitere Reformrunden folgen müssen.

DerMenschenverstand: Halten Sie die EU für ein modernes, demokratisches System, solange die EU-Kommission sowohl Exekutive als auch alleiniges Initiativrecht der Legislative besitzt – während die Bürger der Mitgliedstaaten wenig Einfluss auf die Zusammensetzung oder Arbeit dieser Instanz besitzen? Geht der Lissaboner Vertrag Ihrer Meinung nach weit genug, dem Wunsch der Bürger nachzukommen, die EU demokratischer zu gestalten?

Martin Schulz: Das Inititativmodell der Kommission kritisiere ich seit langer Zeit. Die Kommission in ihrer heutigen Struktur muss weiter demokratisiert werden. Der Lissaboner Vertrag geht in die richtige Richtung, aber nicht weit genug.

Moderator: Die nächste Frage wurde im Pre-Chat besonders hoch bewertet:

Adam_Ant: Warum erhält das Europäische Parlament auch mit dem Vertrag von Lissabon kein Initiativrecht?

Martin Schulz: Das ist eine Frage, die man den Staats- und Regierungschefs stellen muss, die bei der Regierungskonferenz über den Lissabon-Vertrag dieses Recht dem Europäischen Parlament nicht zugestanden haben. Ich nutze diese Gelegenheit um zu wiederholen, was ich jeden Tag sage: Die mächtigste Institution Europas, der Europäische Rat (das ist der Gipfel der 27 Staats- und Regierungschefs) ist ein Organ, das es in den jetzigen Verträgen nicht einmal gibt, sondern erst durch den Lissaboner Vertrag eine eigene Organstellung bekommt. Diese Leute entscheiden viel – fast immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit – und ich und meine Kollegen werden danach gefragt. Deshalb ist die Frage, warum dass Europäische Parlament kein Initiativrecht hat, eine Frage, die man z.B Angela Merkel stellen darf.

Moderator: Haben Sie den ehemaligen Regierungschef Schröder danach gefragt?

Martin Schulz: Schröder war der Mann, der den europäischen Verfassungskonvent initiiert hat, weil er den Nizza-Vertrag für unzureichend hielt. Er war einer der Hauptverfechter der These, dass die EU-Institutionen reformiert werden müssten.

Moderator: Dieser Verfassungsentwurf ist allerdings gescheitert.

Thomas: Was werden Sie für die Stärkung der EU-Außenpolitik tun?

Martin Schulz: Die Schaffung eines Hohen Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik. Ein Wortungetüm, das wir den Niederländern verdanken – weil der Außenminister nicht Außenminister heißen darf. Mit einem eigenen diplomatischen Dienst, das stärkt die internationale Handlungsfähigkeit der EU. Ich werde alles daran setzen, dass dieser Dienst bei Parlament und Kommission angedockt wird und nicht beim Europäischen Rat. Sonst ist es nämlich nur eine Fortsetzung der nationalen Außenpolitik mit europäischen Mitteln.

Adam_Ant: Wie wird gewährleistet, dass mit der Ernennung eines Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik die Aufgaben- und Einsatzbereiche von Polizei und Armee weiterhin getrennt bleiben?

Martin Schulz: Die EU hat keine Zuständigkeit für Armee und Polizei. Es ist beides nicht im Gemeinschaftsrecht der EU angesiedelt.

mierscheid: Befürworten Sie eine gemeinsame europäische Armee?

Martin Schulz: Das ist eine so theoretische Frage, dass sie sich sicher gar nicht stellt. Die Landesverteidigung ist eine Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Und wenn man die zwei Gruppen NATO-Staaten und neutrale Staaten sieht und zudem die tiefen Gräben, die es zum Teil zwischen osteuropäischen Staaten und westeuropäischen Staaten gibt – wie z.B. beim Raketenabwehrschirm – da ist klar, dass dies eine theoretische Frage ist.

Moderator: Die User interessiert das Thema dennoch:

wahlvorschalg: Nationale Armeen abschaffen und durch eine Europäische Armee ersetzen. Eine Vision für die nächsten 50 Jahre?

Martin Schulz: Ich bitte um Verständnis, wenn ich mich nicht auf die nächsten 50 Jahre festlegen will. Meine Erfahrung der letzten Jahre lehrt mich, dass es schwierig ist, mit solchen Langzeitperspektiven zu arbeiten. Wer hätte vor 20 Jahren an die deutsche Einheit geglaubt? Zur Frage selbst: Wer sich die Schwierigkeiten bei der Neudefinition des NATO-Auftrages anschaut oder bei der Erweiterung der NATO und die Schwierigkeiten in Betracht zieht, die Europa hat, sich auf Feldern, die deutlich weniger dramatisch sind, zu einigen, der wird verstehen, dass ich skeptisch bin, dass es in 50 Jahren oder früher eine europäische Armee gibt.

Moderator: Kommen wir zum Thema EU-Erweiterung um das NATO-Mitglied Türkei: Diese Frage wurde vorab besonders hoch bewertet:

linus1878: EU-Beitritt der Türkei – eine Verbesserung der europäischen Sicherheit?

Jean_Monnet: Unterstützen Sie den Beitritt der Türkei zur EU und wenn ja, warum?

Martin Schulz: Ich glaube ja, dass ein Beitritt der Türkei zur EU ein Sicherheitszugewinn wäre. Ein Land mit einer überwiegend muslimischen Bevölkerung, das zugleich aber die westliche Werteordnung, wie sie in der Grundrechtecharta der EU definiert ist, verankert und auch durchsetzt, würde den Beweis antreten, dass die vor allen Dingen von islamischen Integristen aufgestellte These, dass Islam und westliche Werteordnung sich gegenseitig ausschließen, widerlegbar ist. Bedingung dafür ist, dass die Türkei das auch tut und die EU sich nicht als abgeschlossener christlicher Club definiert, sondern als zivile Wertegemeinschaft.

Dr. Ayral: In Sachen EU-Erweiterung: Eine Türkei, die alle Anforderungen erfüllt: Wie wären die Chancen für die EU-Aufnahme bis 2015?

Martin Schulz: Erstens: Wenn bis 2015 die Türkei alle Kriterien erfüllt, wäre das rekordverdächtig. Zweitens: Grundvoraussetzung für die Beantwortung der Frage ist Klarheit in der Sache. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei laufen bereits, es wird bereits konkret über den Beitritt verhandelt. Mit Zustimmung von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, die allerdings auf jedem ihrer Parteitage "nein" zum Beitritt der Türkei sagen. Deshalb: Weder wird die Türkei bis 2015 alle Kriterien erfüllen können, noch – fürchte ich – werden die Regierungen in der EU in der Frage, ob sie die Türkei aufnehmen wollen, Klarheit schaffen. Eine Entwicklung, die ich seit langer Zeit kritisiere und die ich für gefährlich halte.

JohnDoe: Müsste nicht der Zypern-Konflikt gelöst sein, bevor man über einen Beitritt sprechen könnte?

Martin Schulz: Eindeutig ja.

flo: Welche Werte vertritt die EU und wo sind ihre Grenzen, wenn diese nicht geographisch, religiös oder kulturell sind?

Martin Schulz: Die EU ist nicht beliebig erweiterbar. Um klar zu sein: Der Lissabon-Vertrag, wenn er denn in Kraft tritt, reicht für die 27er-Union so gerade. Er ist nicht die ausreichende Grundlage für zusätzliche große Erweiterungen.

Hallo: Europa hat in den letzten Jahren viele Länder dazugewonnen. Oft habe ich gehört, dass es nun erst einmal reicht und dass man schauen müsse, wie sich Europa so entwickle. Wie sehen Sie das? Sollen weiterhin Länder schnell hinzukommen oder muss man erst einmal schauen, wie es sich entwickelt?

Martin Schulz: Die EU muss sich konsolidieren in ihrem Inneren. Sie verlangt von Kandidaten-Ländern Transformationsprozesse und Reformen in einer Intensität, die beachtlich ist. Wobei sie selbst mit fast jeder Reform der letzten Jahre gescheitert ist. Ein Beispiel: Der Nizza-Vertrag war ein Vertrag für 15 Staaten. Die 15 Regierungschefs fanden, dass dieser Vertrag auf keinen Fall für 27 Staaten ausreichen soll. Die Erweiterung wurde aber voran getrieben und war auch nicht aufzuhalten. Deshalb wurde Erweiterung und Verfassungsgebung zeitlich parallel betrieben. Dann erfolgte im Mai 2004 die Erweiterung auf damals 25 – inzwischen 27 – Staaten, die Verfassung jedoch scheiterte. Dann folgte ein neuer Anlauf – Lissabon: Wieder gescheitert, Ende offen. Wir sind 27 Staaten, auf der Grundlage eines Vertrages, den die 15er-Gemeinschaft schon für unzureichend hielt. Also, Fazit: Ohne profunde Reformen sind Erweiterungen nicht möglich.

schiri59: Warum sinkt das Interesse an der Europawahl stetig?

Moderator: Die Wahlbeteiligung lag 2004 bei nur 43 Prozent.

Martin Schulz: Das macht mir auch große Sorgen. Der Kompetenzzuwachs für das Europäische Parlament ist groß, dennoch sinkt die Wahlbeteiligung ab. Was sicher auch an der Schwierigkeit der Politikvermittlung liegt. Es gibt eine ganze Menge Gründe, warum es so schwierig ist, Europapolitk zu vermitteln. In dieser Wahlperiode hat das Europaparlament weitreichende Entscheidungen getroffen, z.B. zur Dienstleistungsfreiheit, z.B. zur Umweltgesetzgebung, das gesamte CO2-Paket, z.B. zur Finanzierung bis 2013. An allen drei Gesetzgebungen war ich intensiv beteiligt, als Fraktionsvorsitzender zumal. tagesschau.de hat mich nicht eingeladen, dazu Stellung zu nehmen. Vielleicht stellen Sie die Frage an die Redakteure, warum.

Moderator: Aber zu diesem Chat…

Martin Schulz: Ich weiß, das ist provozierend. Aber zu allen drei Themenkomplexen sind umfassend in Deutschland Mitglieder des Bundestages, der Länderregierungen, auch der Bundesregierung öffentlich befragt worden – ohne dass sie auch nur annähernd den Einfluss auf die Entscheidungsfindung hatten, den ich darauf hatte. Ich glaube, dass die Vermittlung halt sehr problematisch ist.

Tamo: Europawahlen haben eine geringe Wahlbeteiligung. Was unternehmen Sie als Parlamentarier dagegen (außer z.B. diesem Chat)?

Hallo: Wie ermutigen Sie Menschen, dass sie an der Europawahl teilnehmen?

Martin Schulz: Ich arbeite seit fünf Jahren als Fraktionsvorsitzender Tag und Nacht an der Aufklärung und Information. Über die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, habe ich in der Frage davor viel gesagt. Ich ermutige die Leute, indem ich ihnen sage, dass Europa eine faszinierende Idee von sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und Frieden ist, aber es wird schlecht organisiert. 19 von 27 Regierungschefs kommen von konservativ-liberalen Parteien. Die Kommission ist ähnlich strukturiert: Das kann man am 7. Juni in eine andere Richtung drehen. Durch eine andere Mehrheit im Europaparlament, die dann auch einen besseren Beitrag z.B. zur Regulierung der Finanzmärkte leisten kann.

Mawatnettes: Die CDU hat vor kurzem den Namen Friedrich Merz für die Nachfolge von Günter Verheugen ins Spiel gebracht. Halten Sie den auch für einen nicht ernst zu nehmenden Kandidaten?

Martin Schulz: Ich glaube, die CDU hat keinen Kandidaten. Und wenn Merz der Kandidat wäre, dann wäre es allerdings ein interessantes Verhalten von Angela Merkel. Die einerseits für Europa die soziale Marktwirtschaft befürwortet – als Konsequenz aus der Finanzmarktkrise – als deutschen Kommissar dann aber den Autor des Buches "Mehr Kapitalismus wagen", der sich in diesem Buch als unbelehrbarer Marktradikaler entpuppt, in die Kommission schicken möchte. Merz vertritt das Gegenteil von Merkels Thesen, deshalb ist die Nominierung von Friedrich Merz ein Zeichen für die Zerrissenheit der Union.

Moderator: Sie selbst würden ja gerne der neue deutsche Kommissar in Brüssel werden.
Günter Verheugen hat in dieser Woche die deutsche Bankenaufsicht kritisiert. "Nirgendwo auf der Welt, auch nicht in Amerika, haben sich Banken mit größerer Bereitschaft in unkalkulierbare Risiken gestürzt", sagte er in einem Interview. Teilen Sie die Kritik ihres Parteifreunds?

Martin Schulz: Ich glaube, dass die deutsche Bankenaufsicht nicht besser oder schlechter war als die anderer Länder.

Moderator: Wie kommt Herr Verheugen dann zu seiner Einschätzung?

Martin Schulz: Nach meiner Einschätzung sind die deutschen Banken sogar besser durch die Finanzmarktkrise gekommen, als die Banken in anderen Ländern. Ich bin mir mit Günter Verheugen einig, dass wir das deutsche Sparkassenwesen schützen sollten, das sich in dieser Krise bewährt hat.

Grebo: Ich habe den Eindruck, dass es in den 70ern mehr "gesamteuropäisch" wahrgenommene Persönlichkeiten gab als heute. Wie kann es uns gelingen, endlich so etwas wie eine "europäische Öffentlichkeit" zu schaffen?

Martin Schulz: Wir diskutieren in diesem Chat schon die ganze Zeit genau darüber und ich teile auch die Auffassung, dass es in den 70ern und 80ern mehr Staatsmänner und Staatsfrauen gab, die sich offensiv zu Europa bekannt haben. Was zum Hintergrund hatte, dass diese Leute Europa als einen Wert an sich betrachteten und nicht als einen Nutzwert für den heimischen Politikmarkt. Wir brauchen mehr Staatsmänner als Kaufmänner in Europa.

eufan: Wer ist für Sie der bedeutendste Europäer – und warum?

Martin Schulz: Bei den bedeutendsten Europäern in den europäischen Institutionen ist Jacques Delors sicher die herausragende Persönlichkeit. Große Europäer waren in unserem Land sicher Willy Brandt, auch Helmut Kohl. Für mich persönlich sind die fast vergessenen Leute wie Schuman aus Frankreich und Spaak, die nach dem 2. Weltkrieg gegen energischen Widerstand in ihren eigenen Ländern die Aussöhnung mit Deutschland betrieben haben und durch die europäische Einigung den Deutschen erlaubten, erhobenen Hauptes in die demokratische Völkerfamilie zurückkehren zu können, ganz große Europäer.

wieweiter: Werden die Sozialdemokraten im Straßburger Parlament weiter eine Art "Koalition" mit den Konservativen eingehen? Und sich damit die Parlamentspräsidentschaft im Zwei-Jahresrhythmus aufteilen?

Martin Schulz: Über die Kooperation im nächsten Parlament kann man heute keinerlei Aussagen treffen. Weil vieles davon abhängt, wer die stärkste Fraktion ist. Ich beobachte, dass die Europäische Volkspartei bereits einen Wettkampf verschiedener Kandidaten um das Europaparlament ausficht, ohne daran zu denken, dass im nächsten Europäischen Parlament die sozialdemokratische Fraktion die Stärkste sein wird.

Moderator: Dazu können die User in der kommenden Woche auch den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, befragen – er ist am Freitag (29.05.) hier im tagesschau-Chat.

roter ösi: Sehen Sie die EU in ferner Zukunft als eine Art "Vereinigte Staaten von Europa"?

Martin Schulz: Nein. Die EU wird kein europäischer Bundesstaat werden. Aber wenn sie eine politische Union von Staaten wird, die sich zur Erfüllung der gemeinsamen Aufgaben die notwendigen gemeinsamen Institutionen gibt, die für die Erfüllung der Aufgaben eigene Kompetenzen bekommen, dann ist das schon ein großer Schritt nach vorne. Die Vision von einem vereinten Europa muss bleiben, weil sie in meinen Augen das friedenstiftende Element in der internationalen Politik dieses Kontinents ist.

Moderator: Wir haben während des Chats eine Umfrage unter den Teilnehmern gemacht und wollten wissen, ob sie am 7. Juni zur Europawahl gehen. Wie ist das Ergebnis, was schätzen Sie?

Martin Schulz: Ich glaube "ja" gesagt haben zwischen 35 und 40 Prozent, "nein" gesagt haben zwischen 65 und 60 Prozent.

Moderator: Sie unterschätzen unsere User: 79 Prozent sagen "ja" sie gehen wählen, 21 Prozent gehen nicht.

Martin Schulz: Das heißt, die User sind europabewusst!

Moderator: Das war eine knappe Stunde tagesschau-Chat. Herr Schulz, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben für die Diskussion mit den Usern. Ein großes Dankeschön an unsere User für die vielen Fragen, die wir leider nicht alle stellen konnten.

Martin Schulz: Herzlichen Dank für den Austausch und die kenntnisreichen Fragen und sorry für die, die nicht zufrieden waren.

Moderator: Das Transkript dieses Chats finden Sie in Kürze auf tagesschau.de und politik-digital.de. Weitere Informationen zur Europawahl haben wir in einem Dossier gebündelt.
Das tagesschau.de-Team wünscht allen noch einen schönen Tag.

Der Chat wurde moderiert von Thomas Querengässer, tagesschau.de.