tacheles.02: Chat mit der PDS-Spitzenkandidatin für die Landtagswahl in Sachsenanhalt, Petra Sitte, am 8 April 2002


Petra Sitte

Herzlich
willkommen im tacheles.02-Chat im Anschluss an die Tagesschau! Am 21.
April wählt Sachsen-Anhalt. Grund genug für uns die drei
Spitzenkandidaten der Landtagswahl in den Chatraum einzuladen. Zu Gast
bei tacheles.02 waren bereits der Spitzenkandidat der CDU, Prof. Dr.
Wolfgang Böhmer, sowie Reinhard Höppner, SPD-Ministerpräsident
Sachsen-Anhalts. Heute bei tacheles.02: Dr. Petra Sitte,
Spitzenkandidatin der PDS in Sachsen-Anhalt. tacheles.02 ist ein Format
von tagesschau.de und politik-digital.de und wird unterstützt von
tagesspiegel.de.

Moderator:
Natürlich erwarten wir in den nächsten 60 Minuten viele Fragen zu
möglichen Koalitionen in Sachsen-Anhalt. Eine erste Frage von uns zu
einer aktuellen Meldung: Angeblich gibt es Planspiele innerhalb der PDS
im Fall eines Wahlsieges den PDS-Bundesfraktionschef Roland Claus als
möglichen neuen Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt zu präsentieren.
Untergraben solche Meldungen nicht den Wahlkampf der Spitzenkandidatin
Petra Sitte?

Petra Sitte:
Roland Klaus ist der Vater des Magdeburger-Modells und immer auf das
Engste mit der Landespolitik verbunden gewesen. Auch nachdem er
Fraktionsvorsitzender im Bundestag wurde. Er ist im weiteren Sinne auch
Sachsen-Anhalter geblieben. Insofern kommt er ebenso in Frage, wie eine
Reihe anderer Politikerinnen und Politiker der PDS in Sachsen-Anhalt.
Die Planspiele werden nicht von der PDS gemacht, sondern sind
Gegenstand medialer Erwägungen, z.B. des Spiegel.

tausendsassa:
Hallo Frau Sitte, wie fänden Sie es, wenn nun plötzlich Herr Claus nach
Magdeburg käme, um Ministerpräsident zu werden. Warum denn nicht Sie?
Trauen Sie Sich das nicht zu?

Petra Sitte:
Doch, es trauen sich mehrere Menschen in der PDS diese Aufgabe zu. Die
Frage ist, ob sie wirklich auf uns zukommt und da wollen wir doch mal
lieber das Wahlergebnis abwarten.

Moderator: Noch
einmal zu den Planspielen: Wenn Sie sagen dies seien "Erwägungen"
dementieren Sie aber auch nicht was zu lesen war?

Petra Sitte:
Warum sollte es dementiert werden? Die PDS denkt in Varianten und hat
sich auf alle Eventualitäten einzustellen, auch jene, die uns eher
unwahrscheinlich erscheinen.

werther: Hat die
PDS nicht Angst davor, dass die SPD schwächer wird als die PDS? Eine
Koalition zwischen SPD und PDS läuft ja wohl nicht unter Führung der
PDS, oder?

Petra Sitte: Dazu
müsste sich die SPD nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses eine
demokratische Meinung bilden – das heißt, ein Parteitag würde
entscheiden. Bisher haben sich dazu nur Spitzenpolitiker der SPD
geäußert. Das sind die gleichen, die sich nicht dazu erklären wollen,
ob sie nach der Wahl mit CDU oder PDS zusammenarbeiten möchten.

hans-jürgen: Was erwarten Sie für eine Wahlbeteiligung in diesem Jahr? Eine höhere als zuletzt?

Petra Sitte: Ja, eine höhere.

morgan: Mal ehrlich, täte Sachsen-Anhalt nicht mal eine richtig stabile Koalition gut, so zwei Legislaturperioden SPD-CDU?

Petra Sitte:
Große Koalitionen sind in den letzten Jahren an ihrer eigenen
politischen Lähmung handlungsunfähig geworden und wir wollen eine
dynamische Konstellation.

daniela_k: Können Sie sich vorstellen erneut nach dem Magdeburger-Modell mit der SPD zusammen zu arbeiten?

Petra Sitte: Nach
acht Jahren Magdeburger-Modell nicht mehr. Weil es notwendig ist nicht
mehr nur politische Kompromisse auf parlamentarischer Ebene zu
beschließen, sondern diese auch in der Exekutive umzusetzen. Abgesehen
davon, wer so lange zusammen arbeitet einigt sich nicht mehr nur
punktuell, sondern erarbeitet gemeinsame Konzeptionen. Diese brauchen
Verlässlichkeit in der Umsetzung.

Olaf: Welche Chancen räumen Sie der Schill-Partei ein?

Petra Sitte: Das
ist für mich noch relativ offen. Es haben sich ca. 35 Prozent noch
nicht entschieden. Hier kann jede Partei noch eine gute oder schlechte
Nachricht am Wahlabend bekommen. Schill spricht in Sachsen-Anhalt eine
andere Klientel als in Hamburg an. Hier sind es vor allem kleinste
Handwerk- und Gewerbetreibende.

Moderator: Warum das?

Petra Sitte: Er spricht sie vor allem als Unternehmer an.

anderesitten: Haben Sie Herrn Marseille, den windigen Vertreter der Schill-Partei, schon persönlich kennengelernt?

Petra Sitte: Oh
ja! Das war ein läuterndes Erlebnis! Ich habe 1990 im Wahlkampf schon
sehr viel dumpfe Ablehnung erlebt. Aber Herr Marseille stellt für mich
alles in den Schatten, was ich an unseriöser Wahlkampfargumentation
jemals gehört habe. Er lässt sich auf keinerlei Sachdebatten ein.

marlow: Was sagen Sie denn den 35 Prozent Unentschiedenen. Was sind die Argumente warum ich PDS wählen soll?

Petra Sitte: Die
PDS ist die einzige Partei, die soziale Verantwortung und
wirtschaftliche Vernunft als gemeinsames Paar gleichberechtigt
definiert. Das heißt: Alle anderen Politikfelder werden von diesem Paar
durchzogen. Die PDS hat als zweites großes Thema die Bildungspolitik
und die Wissenschaftspolitik, weil beides die sozialen Frage des 21.
Jahrhunderts werden. Das dritte Thema – ohne hier in Rangfolgen zu
verfallen – ist Arbeitsmarktpolitik. Als Wirtschafts- und
Beschäftigungspolitik einerseits und als sozialpolitische
Herausforderung andererseits. Nichtsdestotrotz ist die PDS die einzige
Partei gewesen – und auch in Zukunft – die sich offensiv mit
Rechtsextremen und ihren Positionen auseinandersetzt. Das sind jetzt
schon 4 Gründe!

Moderator: Kommen wir also zu dem brennendsten Sachthema in Sachsen-Anhalt: Die Wirtschaft:

rolof: Sie haben mal gesagt das Land brauche einen "selbsttragenden wirtschaftlichen Aufschwung"? Was meinen
Sie damit?

Petra Sitte: Im
Land hat sich in den letzten Jahren in verschiedenen Branchen eine
vorsichtige Stabilisierung vollzogen. Metall und Elektroindustrie,
Autozulieferer, Chemie, Maschinenbau, Ernährungsgewerbe,
Dienstleistungen und ganz innovative Branchen: Bio-Technologie,
Gen-Technik in und um die Universitäten und Hochschulen. Dort setzt
unser Konzept an. Wir wissen natürlich, dass es dennoch ohne weitere
Ansiedlungen von Investoren von außen und weiteren Existenzgründungen
nicht gehen wird. Dennoch kommen wir mit der Stabilisierung zu einer
Vergrößerung der Betriebe, von denen jetzt noch 80 Prozent unter 20
Beschäftigte haben und 90 Prozent keinerlei Außenbeziehungen.

Ulrich: Wie wollen Sie als Partei den Ruf ablegen investorenfeindlich oder -abschreckend zu sein?

Petra Sitte: Die
Partei kann gar nicht investorenfeindlich sein, weil wir wissen –
insbesondere nach dem Untergang der DDR – dass alle sozialen Konzepte
ohne wirtschaftliche Basis scheitern müssen. Abgesehen davon ist das
rein deutsche Hausmannskost. Denn Sachsen-Anhalt hat dreimal höhere
Investitionen aus dem Ausland als andere Bundesländer und hat die
höchsten Investitionen pro Einwohner. Offensichtlich stören sich
ausländische Investoren nicht an der PDS.

DEZi: Wie genau will die PDS denn der sozialen Verantwortung – gerade bei schlechter öffentlicher Finanzlage – gerecht werden?

Petra Sitte:
Indem sie versucht einen Ausgleich zu schaffen. Wir haben in den ganzen
Jahren trotz sinkender Schuldenaufnahme genau diesen Ausgleich
praktiziert. Insbesondere in solchen Bereichen der kommunalen Finanzen,
Wissenschaft und Bildung sowie Forschungs- und Technologiepolitik. Das
Problem in Deutschland besteht darin, dass alle behaupten diese Felder
bedürfen Zukunftsinvestitionen. Haushaltspolitisch werden sie aber der
Konsumption zugeschlagen.

nörgelpeter: Nun
mal im Ernst Frau Sitte, dass kein Mensch bzw. kaum ein Unternehmen
ordentlich in Sachsen-Anhalt investiert liegt doch vor allem daran,
dass die PDS so stark ist. Ähnlich wie in Mecklenburg-Vorpommern, in
Sachsen und Thüringen. Da, wo die CDU das sagen hat, sieht es
wirtschaftlich viel besser aus.

Petra Sitte:
Lieber Nörgelpeter, hier ist Nörgelpetra, genau diese Fragen hat uns
bisher noch niemand beweisen können. So wurde bisher immer gesagt, BMW
sei wegen der PDS nach Leipzig gegangen. Vor etwa drei Wochen hat BMW
aber beschlossen, sein zweites Motorradwerk im tiefroten Berlin zu
bauen. Und wenn Kommunisten schon so investitionsfeindlich sein sollen,
warum tummeln sich so viele in China von den "bösen Kapitalisten"?

Moderator: Aber das Werk von BMW entsteht eben nicht in Sachsen-Anhalt, oder?

Petra Sitte: Ja!
Weil von 150 Bewerbern eben wirklich nur einer gewinnen kann. Und Halle
war unter den letzten Fünf. Letzte Meldung zu diesem Thema: Es ist ein
förmliches Prüfverfahren in Brüssel eingeleitet worden, ob es denn
rechtens ist, dass BMW in Sachsen 34,7 Prozent Fördersatz erhält. In
Brüssel geht man von 28 Prozent aus. Kommentar von BMW: Träte das ein,
hätte man sich besser für den Tschechischen Standort Kollin
entschieden. Sie sehen, es waren keine politischen Konstellationen –
BMW hat dies auch selbst bereits dementiert.
Moderator: Zu einem weiteren Thema des Wahlkampfs: Der Wegzug junger Menschen aus Ihrem Bundesland:

rolof: Herr
Höppner und alle anderen reden immer davon, dass man die jungen Leute
im Land halten will. Wie soll das denn gehen, wenn es kaum noch
Industrie und Ausbildungsplätze gibt?

Petra Sitte: Wenn
das Stabilisierungskonzept im Mittelstand greift, dann greift es dort
wo, die meisten Arbeits- und Ausbildungsplätze entstehen. Dann haben
junge Leute mit der Ausbildung und der Beschäftigung Perspektiven. Wir
haben auch vorgesehen in der nächsten Legislaturperiode ein 40
Millionenprogramm unter dem Titel "Jugend in Arbeit" aufzulegen. Dort
soll es um Pools für Beschäftigung und Ausbildung gehen, um
Existenz-Gründer-Begleitung für junge Ausgebildete und
Hochschulabsolventen. Die Branchen, die jetzt in Stabilisierung
gegangen sind, gehören zu den Zukunftsfähigen.

mandy: Wissen Sie
was Frau Sitte, ich habe 19 Jahre in Halle verbracht. Seit einem Jahr
bin ich im Westen als Bäckerlehrling und die Entscheidung war richtig.
Es ist so eine miese, langweilige Stimmung zumindest in Halle. Sie
müssten mal sehen, was die Kids da am Wochenende an bunten Pillen
konsumieren. Das hat doch alles Gründe. Wie wollen Sie anderen Menschen
klarmachen, dass sie bleiben sollen. Bei mir ist es jedenfalls zu spät.

Petra Sitte: Ja,
ich weiß. Halle ist für Otto-Normalverbraucher unter jungen Leuten
nicht gerade das aufregendste Pflaster. Wenngleich ich gern in Halle
lebe. Aber eine Stadt wird immer auch dann attraktiv, wenn einen ihre
Angebote ansprechen. Und wenn man mit den Freunden was erleben kann.
Wenn sich allerdings Negativerlebnisse in diesem Bereich und in der
beruflichen Perspektive paaren, dann verschwindet man aus jeder Stadt.

DEZi: Förderung
von Ausbildungsplätzen und jungen Menschen nach der Ausbildung ist ja
gut und schön, aber wichtiger wäre es doch, die Wirtschaft zu animieren
selbst Ausbildungsplätze zu schaffen. Wie wollen Sie das
bewerkstelligen?

Petra Sitte: Es
kommt darauf an duale Ausbildung zu stärken und Sonderprogramme
abzubauen. Insbesondere haben wir die qualitativen Differenzierungen in
den Sonderprogrammen im Auge. Denn diese haben Auszubildende erster bis
dritter Klasse hervorgebracht. Auch in den neuen Ländern ist die
Umlagefinanzierung von Ausbildung angesagt. Einer Bundesratsinitiative
hat sich bislang die SPD in Sachsen-Anhalt verweigert und der
Bundesebene bedürfte es – wir werden dies aber erneut fordern.

tretorgel: Warum gibt es so viele Nazis in Sachsen-Anhalt, gerade bei den Jüngeren. Ausländer habt ihr doch sehr wenig.

Petra Sitte: Das
bitterste Kapitel. Das hat vor allem mit Denkstrukturen zu tun. Diese
sind vor allem vom autoritären und hierarchischen Ansatz geprägt. Für
viele sind die sich bildenden Gruppenstrukturen mehr als Familie. In
Sachsen-Anhalt hat rechte Jugendkultur als Subkultur in den ersten
Jahren besonders Fuß gefasst. Diese sind aber zwischenzeitlich
politisch untersetzt und vernetzt mit Kameradschaften, NPD und
ähnlichen Strukturen in anderen Ländern. Die soziale Begründung allein
ist zu kurz gegriffen.

Moderator:
Verzeihung, das war eine etwas abrupte Verabschiedung! Technische
Probleme haben genau zum zeitlichen Ende des Chats die letzten Fragen
verhindert. Wir bitten um Ihr Verständnis und hoffen Sie auch nächstes
Mal wieder bei tacheles.02 begrüßen zu dürfen.