“Ich war immer online, immer auf Stand-by und immer erreichbar. Aber ich war eigentlich nie mehr richtig da”, bekennt die Publizistin Miriam Meckel in ihrem 2007 erschienenen Buch “Das Glück der Unerreichbarkeit” und räumt ein, im Laufe der Zeit zur Sklavin ihrer technischen Vernetzung geworden zu sein.
2010 beschreibt Christoph Koch, Autor des Buchs “Ich bin dann mal offline”, sein ambivalentes Verhältnis zu modernen Kommunikationsmitteln: “Einerseits bereichern und vereinfachen sie unser Leben so sehr, dass wir um nichts auf der Welt mehr darauf verzichten wollen und ihren Einfluss geradezu genießen. Andererseits fühlen wir uns gleichzeitig vom klingelnden Handy, dem summenden Blackberry oder der endlosen Weite des Internet auch überfordert, gestresst oder verängstigt”.

Heute schreiben wir das Jahr 2012 und das Phänomen einer Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit scheint präsenter denn je. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hatte jüngst das Thema ins Scheinwerferlicht gerückt, als sie die ständige Erreichbarkeit durch Smartphones und Co. und die dadurch verursachte Belastung für Arbeitnehmer auf die Agenda hob. Die Ministerin forderte in ihrem Vorstoß klare Regeln zur Erreichbarkeit in der Freizeit und kritisierte, dass moderne Kommunikationsmittel  zwar Flexibilität ins Arbeitsleben brächten, gleichzeitig aber auch den Menschen überfordern könnten. Die Balance zwischen Arbeitszeit und Phasen der Erholung würde von vielen heutzutage nicht mehr gefunden. “In der Freizeit sollte Funkstille herrschen”, lautet daher der Appell der Ministerin.

Sind die technischen Neuerungen also Fluch oder Segen? Benötigen wir in Zeiten ständiger Verfügbarkeit und Nutzung digitaler Kommunikationsmedien nicht auch Ruhephasen, in denen der Computer, das iPad oder das Smartphone ausgeschaltet bleiben sollten? Und ist es Aufgabe der Politik, darauf zu reagieren?

politik-digital.de hat bei Annelie Buntenbach, DGB-Vorstandsmitglied, und Alexander Cisik, Professor für Wirtschafts-, Organisations- und Arbeitspsychologie, nachgefragt und beide um einen Kommentar gebeten. Frau Buntenbach fordert einen “Stresstest” für Arbeitsbedingungen, Prof. Cisik hingegen spricht sich gegen eine verordnete Regulierung aus.


Pro-Standpunkt Annelie Buntenbach

Eine E-Mail zum Frühstück, die letzte SMS im Bett – für viele ist das heute Alltag. Neu ist, dass sich die Arbeit auf diesen Wegen immer weiter ins Leben schleicht. Niemand würde deshalb die Abschaltung des Internets fordern. Das Web hat das Leben derart revolutioniert, dass es heute nicht mehr wegzudenken ist. Schwer vorstellbar waren allerdings auch die Folgen für Arbeit und Leben. Der Takt, den die digitalen Medien vorgeben, bestimmt immer stärker auch die Arbeitswelt. Und der Druck steigt. Diesen Befund bestätigt der aktuelle DGB Index Gute Arbeit. Die bundesweite Repräsentativbefragung hat ergeben, dass von 60 Prozent der befragten Beschäftigten erwartet wird, auch in der Freizeit für ihre Arbeit erreichbar zu sein, ein Drittel von ihnen sehr häufig oder oft. Das Besondere: Die Arbeitshetze ist bei den betroffenen Beschäftigten mit knapp 40 % doppelt so stark ausgeprägt wie beim Durchschnitt. Längeres Arbeiten und permanente Erreichbarkeit erhöhen also den Stress.

Nun gibt es gerade bei Jüngeren ein anderes Bewusstsein. Moderne Kommunikationsmittel wie iPad, Skype oder Twitter sind trendy und lassen die Entgrenzung der Arbeit sogar attraktiv erscheinen. So genannte Vertrauensarbeitszeiten versprechen neue Freiheiten. Doch der Schein trügt: Denn diese Freiheiten erzeugen Druck. So ist die Zahl der psychischen Erkrankungen in den letzten zehn Jahren geradezu explodiert. Seit 1994 sind die Fehlzeiten aufgrund psychischer Leiden um 80 Prozent gestiegen. Jeder Fünfte, der heute in Rente geht, muss dies tun, weil die Gesundheit nicht mehr mitmacht. Der Hauptgrund: Die Psyche.

Burnout ist zweifellos auf dem Vormarsch. Und hat eine Enttabuisierung erzwungen. Stress wird inzwischen von den Krankenkassen als neue Volkskrankheit bezeichnet. Und der Job ist Stressfaktor Nummer Eins. Die Entgrenzung von Arbeit und psychische Erkrankungen stehen in einem engen Zusammenhang. Die Herausforderungen sind hoch differenziert, führen aber in unterschiedlichsten Formen zu einer neuen Dimension von Ermüdung, Erschöpfung, Überforderung oder geistigem Ausstieg. Was also tun?

Wir brauchen Stresstests nicht nur für Bahnhöfe, Atomkraftwerke oder Banken, sondern auch für die Arbeitsbedingungen in den Unternehmen. Eine Anti-Stress-Verordnung, mehr Prävention und Beratung für Unternehmen – all das sind notwendige Ansätze. Am wichtigsten scheint die Rückbesinnung auf die Qualität der Arbeit. Wir müssen besser werden – und nicht immer schneller.

Contra-Standpunkt Alexander Cisik

Wir leben in einer Multioptionsgesellschaft. Im Privat- wie im Berufsleben verfügen wir über eine Vielzahl möglicher Perspektiven. Egal, ob bei der Freizeitgestaltung oder bei der Berufswahl, das Angebot ist unglaublich breit und wir haben heute weitreichendere Möglichkeiten denn je, uns für die persönlich attraktivste Alternative zu entscheiden.

Das Problem ist nur: Wir müssen uns auch entscheiden. Ansonsten gehen wir in der Komplexität unserer Welt verloren. Häufig gelingt das aber nicht. So vermischen wir in einer Tendenz zum Multitasking gerne Dinge, die eigentlich getrennt voneinander getan oder auch genossen werden sollten. Selbst der sensitivste Mensch wird hier deutliche Abstriche in der Erlebnistiefe hinnehmen müssen, d.h. wir nehmen jeden einzelnen Eindruck für sich nicht mehr so wahr, wie es ihm eigentlich angemessen wäre. Gleichzeitig überfällt uns ein Gefühl der Reizüberflutung, was dann nahtlos in eine empfundene Überlastung übergehen kann. Die zunehmende Verquickung von Berufs- und Privatleben, vor allem durch die permanente Verfügbarkeit von Mensch und Information via Internet und Smartphones etc., kann diesen Befund verschärfen.

Was ist zu tun? Immer dann, wenn es den Anschein hat, als sei der Einzelne mit seiner Lebensgestaltung überfordert, wird der Ruf nach Eingriffen von außen laut. Regulierung, z.B. durch den Gesetz- oder Arbeitgeber, heißt dann die Devise. Damit kann das Problem tatsächlich ein Stück weit gemildert werden, gleichzeitig wird aber auch die individuelle Handlungsfreiheit beschnitten. Dem wollen sich jedoch vor allem diejenigen Menschen nicht unterwerfen, für die Individualität und Selbstbestimmung fundamentale Werte sind. Und das sind über die Generationen unserer Gesellschaft hinweg eine ganze Menge. Deshalb muss das Schlüsselwort Eigenverantwortung heißen. Die gilt es sukzessive zu entwickeln (bzw. zu reanimieren) und dann konsequent zu leben – und auch seitens Dritter, also beispielsweise der Arbeitgeber, zu akzeptieren. Wir müssen (wieder) lernen, bewusst und eigeninitiativ zu entscheiden, was wir wann und wie tun oder lassen wollen – privat wie beruflich. Vielleicht machen wir dann nicht wirklich weniger, konzentrieren uns aber auf das für uns persönlich Wesentliche. Auch das bedeutet Entschleunigung.

Wenn also überhaupt Eingriffe von außen, bitte solche, die die Handlungskompetenz der Menschen erhöhen, z.B. in Form sinnvoller Regeln der Zusammenarbeit oder auch in Gestalt von Bildungsangeboten zum effektiven Selbstmanagement. Denn dann lautet die Formel: Unterstützung statt Bevormundung.

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