Ein Leben ohne digitale Tools ist heute für die meisten Menschen schwer vorstellbar und umständlich. Dies gilt besonders für Menschen in schwierigen Lebenslagen, wie z. B. Obdachlose. Doch gerade Menschen ohne festen Wohnsitz fehlt es an digitaler Teilhabe.

Von der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit über die Wetternachrichten bis zum Erwerb einer eigenen Wohnung, gerade Menschen ohne festen Wohnsitz können mit digitalen Tools die fehlenden sozialen Auffangnetze kompensieren – theoretisch. Faktisch haben ausgerechnet sie hohe Hürden beim Zugang zu überwinden. Wir haben uns mit dem Armutsnetzwerk e.V. (Deutschland) und den Offroadkids über die besonderen Umstände bei der Digitalisierung von Menschen ohne festen Wohnsitz unterhalten.

Das Armutsnetzwerk e.V. (Deutschland) ist ein 2012 gegründeter Verein, der die Bedürfnisse aus der Sicht der Betroffenen formulieren und auf der höchstmöglichen politischen Ebene vortragen will. Primäres Ziel ist dabei die Selbstbefähigung und -organisation der von Armut und Ausgrenzung betroffenen Menschen.

Beim 4. Wohnungslosentreffen im Juli 2019 hat der Verein das Thema digitale Teilhabe auf die Agenda genommen. Das Treffen wird vom Armutsnetzwerk e.V. (Deutschland) und HOPE, „European Network for Homeless People“ als Kooperationspartner unterstützt.

Wir haben mit Michael Stiefel und Jürgen Schneider vom Armutsnetzwerk e.V. (Deutschland) über die Forderungen des Treffens und die generellen Möglichkeiten und Herausforderungen der Digitalisierung für Wohnungslose gesprochen. Außerdem hat uns Jesko Wrede vom Streetworker-Verein-Off-Road-Kids, der sich um Straßenkinder und junge Obdachlose kümmert, einige Fragen zum digitalen Streetworking und ihrer Plattform sofahopper.de beantwortet.

Voraussetzungen für einen Zugang zum digitalen Raum

Sucht man nach den Gründen für fehlende digitale Teilhabe, zeigen sich immer wieder die gleichen Hürden, wie Stiefel und Schneider aus Erfahrungen und Gesprächen mit Betroffenen berichten. Nach unserem Gespräch mit ihnen lassen sich mehrere Ebenen für Probleme des Zugangs skizzieren.

Problem 1: Persönliche Voraussetzungen wie Sprache und technisches Verständnis

Zum einen gibt es die persönliche Ebene. Hier geht es um persönliche Voraussetzungen bei der digitalen Teilhabe. Ein Problem ist beispielsweise Analphabetismus. Über 7% der Erwachsenen Deutschen können nicht richtig lesen und schreiben, das macht die Bedienung aber auch die Anschaffung und Einrichtung von digitalen Geräten, Laptops oder Handys zu einer großen Herausforderung. Sprachliche Probleme treten auch durch mangelnde Englischkenntnisse auf. So ist es z. B. für ältere Menschen, die in Ostdeutschland aufgewachsen sind und russisch als Fremdsprache hatten oder deren Englischerwerb aus der Schulzeit nicht mehr präsent ist, schwierig, sich im digitalen Bereich zurechtzufinden, konstatiert Michael Stiefel. Ältere Menschen sehen sich in der digitalen Sphäre generell größeren Herausforderungen ausgesetzt, da die neuen Möglichkeiten bei mangelnder digitaler Affinität verunsichernd und überfordernd wirken können. Die Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen fordert daher Förderangebote zu Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Englisch und Medienkompetenz.

Problem 2: Die Infrastruktur – vom WLAN bis zur Meldeadresse

Ein weiteres Problem stellt sich auf der infrastrukturellen Ebene, die wiederum mehrere Aspekte umfasst. Einerseits geht es um den Zugang zur reinen Technik, also den Geräten, beispielsweise Smartphone oder Laptop, und dem Internet über ein öffentliches WLAN oder einen Handyvertrag und mobiles Netz. Schwierig sind hierbei die Finanzierung und die Wartung von Geräten, die mangelnde öffentliche Infrastruktur, sowie die fehlende Kreditwürdigkeit vieler Wohnungsloser, die dadurch keinen Handyvertrag auf ihren Namen abschließen können und auf Unterstützung angewiesen sind. Das Fehlen einer Meldeadresse, der deutschen Staatsbürgerschaft oder eines Kontos stellen bei Vertragsabschlüssen ebenfalls massive Hürden dar. Auch wenn durch die Abschaffung der Störerhaftung viele WLAN-Netzwerke gerade in Großstädten heute öffentlich zugänglich sind, ist WLAN in vielen Obdachlosenunterkünften immer noch nicht zu finden.


Michael Stiefel und Jürgen Schneider beim Zukunftsdialog des BMAS

Grundsätzlich fehlt es auch an digitaler Bildung. Gerade Wohnungslose sind hier auf staatliche Angebote angewiesen, da sie häufig aus ihrem sozialen Netz herausgefallen sind und sich kostenpflichtige Angebote nicht leisten können. Die Notwendigkeit eines Internetzugangs und Zugangs zu digitalen Angeboten ist heute jedoch immens wichtig, um befähigt zu sein, sich selbständig aus einer schlechten Lebenssituation zu befreien. „Stellen Sie sich vor, dass Sie eine Bewerbung schreiben möchten oder einem potenziellen Vermieter Unterlagen zusenden möchten. Wie soll das gehen ohne einen Zugang zur digitalen Welt?“, so Jesko Wrede. Die Off Road Kids stellen deshalb in ihren Streetwork-Stationen PC-Arbeitsplätze zur Verfügung, denn auch bei der Jobsuche und der Vernetzung untereinander, beispielsweise zur Selbstorganisation wie im Armutsnetzwerk, bieten digitale Tools die besten Möglichkeiten.

Die beschriebenen Zugangsprobleme betreffen natürlich nicht nur Wohnungslose, jedoch in erster Linie sozial und finanziell benachteiligte Menschen und daher eben insbesondere auch Wohnungslose.

Neue Möglichkeiten der Teilhabe

Während also ein fehlender Zugang zum Digitalen in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft negative Auswirkungen haben kann, entstehen durch technische Neuerungen auch für Wohnungslose mit digitalen Kompetenzen neue Möglichkeiten, die ihnen das Leben erleichtern. Für Einwanderinnen und Einwanderer gibt es Übersetzungsprogramme, Analphabetinnen und Analphabeten können sich Texte per App und QR-Code vorlesen lassen, wie Michael Stiefel berichtet. Landkreise haben für ihre Region eigene sogenannte Sozialwegweiser entwickelt, die bei der Ankunft in einer neuen Umgebung Orientierung bieten können. Außerdem gibt es neue Wege der Kontaktaufnahme zu Verantwortlichen, wie beispielsweise Politikerinnen und Politikern, über soziale Medien. Der Internetzugang ermöglicht eine neue Art digitaler gesellschaftlicher Teilhabe, die Wohnungslosen eventuell ansonsten verwehrt bliebe. Der Grad der Teilhabe im Netz erfordert allerdings auch einen Zeitaufwand, der für Wohnungslose im Zweifel weniger leicht erbracht werden kann, wenn der Alltag in erster Linie durch die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse geprägt ist. Studien belegen, dass eine Armutsgefährdung generell mit eingeschränkten Möglichkeiten der politischen Teilhabe einhergeht.

Für Sozialeinrichtungen oder private Hilfeleistende entstehen neue Möglichkeiten der Vernetzung, die beispielsweise die Effizienz von Streetwork steigern können. Die Off Road Kids leiten beispielsweise Hilferufe und Anfragen aus Gegenden, in denen sie keine Station haben, direkt an kooperierende Organisationen vor Ort weiter, was am Ende Hilfsbedürftigen zu Gute kommt. Das Erreichen einer breiten Öffentlichkeit über soziale Medien kann zudem dazu beitragen für Probleme von Randgruppen, wie beispielsweise von Wohnungslosen, mehr Aufmerksamkeit zu erhalten, was im besten Falle auch zur Umsetzung konkreter politischer Entscheidungen führt.

Welche Apps nutzen Wohnungslose?

Spezielle Apps, die von Wohnungslosen besonders häufig genutzt werden, seien in erster Linie die klassischen massentauglichen Anwendungen wie WhatsApp, Google Maps oder Facebook, so Jürgen Schneiders Beobachtungen bisher. Aber auch spezielle für Wohnungslose entwickelte Tools sind auf dem Markt und werden nachgefragt. Beispielsweise die Plattform sofahopper.de der Off Road Kids, auf der seit 2017 über 1.200 Betroffene um Rat und Hilfe gebeten haben. Wichtig bei der Erstellung solcher Apps bzw. Websites ist ein niedrigschwelliger Zugang und geringe Hürden zur Kontaktaufnahme. Die Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen forderte in ihrer Abschlusserklärung zudem eine Beteiligung betroffener Menschen an der Entwicklung und eine Gewährleistung der Datensicherheit. Auf ihrer eigenen Website betreibt die Selbstvertretung ein Forum zum Austausch unter den Beteiligten.

Forderungen der Betroffenen

Die Digitalisierung bietet für Wohnungslose mit Zugang zu digitalen Endgeräten, Internet und ausreichend Lade- und Reparaturmöglichkeiten viele Chancen, ihren Alltag einfacher und kosteneffizienter zu gestalten. Möglicherweise kann durch digitale Tools auch der Weg zur eigenen Wohnung geebnet werden. Für Menschen, denen der Zugang zur digitalen Sphäre allerdings verwehrt bleibt, entstehen durch die Digitalisierung verschiedener Lebensbereiche und Angebote wie bspw. der Wohnungssuche noch höhere Hürden. Sozialeinrichtungen, aber auch andere öffentliche Einrichtungen können hier nachbessern und Wohnungslosen die Geräte, Lernmöglichkeiten und Internetzugang zur Verfügung stellen.

Die Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen fordert in diesem Sinne in erster Linie einen möglichst niedrigschwelligen Zugang zur digitalen Sphäre durch Abbau bestimmter Vertragsbedingungen bei Handyverträgen, Bereitstellung von Geräten und unbegrenztem öffentlichen WLAN. Wichtig ist den Vertretern des Armutsnetzwerks dabei ein Einbezug der Betroffenen Menschen und eine darauf basierende Kooperation: „Wir möchten mit denen zusammenarbeiten, die die Zugänglichkeit der digitalen Entwicklung für alle Menschen sicherstellen wollen und insbesondere auch die Schwierigkeiten berücksichtigen, von Leuten die keine so guten Möglichkeiten haben, also bspw. Wohnungslose aber eben auch andere.“

Kontakt zum Armutsnetzwerk e.V. unter armutsnetzwerk.de

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Artikelbild: Armutsnetzwerk e.V. Deutschland beim Zukunftsdialog des BMAS am 20.09.2019