Wir sind unzufrieden. Wir beklagen schlechte Gesetze, mangelnde Visionen, unglaubwürdige Politiker und gierige Manager. Wer hat Schuld?

Individuum und System

Natürlich gibt es individuelle Schuld – heute so gut und häufig wie in jeder anderen Zeit. Gleichwohl hilft es nicht, Einzelne zu richten, wenn das Ganze krankt, wenn das System nicht funktioniert. Welches System? Sprechen wir über die demokratische Willensbildung und die repräsentative Regierungskunst, so sprechen wir letztlich über die Politik und das ihr zugrunde liegende Recht: Wahlrecht, Parteienrecht, Verfassungsrecht. Alternierend apostrophieren wir uns als „Mediendemokratie“ oder „Parteienstaat“ – zwei Kräfte respektive Strukturzwänge, die den Politiker (und dessen Freies Mandat) in die Mitte nehmen und langsam zurechtschleifen. Wann haben Parteien und Medien Macht über Politiker? Wenn der Politiker Angst vor Partei und Medien hat. Warum hat der Politiker diese Angst? Weil er um die Macht von Partei und Medien weiß, ihm etwas wegnehmen zu können, was ihm sehr wichtig ist: seine Funktion. Macht man sich abhängig von äußeren Faktoren, so ist man kontrollierbar. Orientiert man sich primär an inneren Werten und Prinzipien, so schwindet diese Erpressbarkeit und man wird unabhängig und frei.

Grau ist alle Theorie: So richtig wie die obige Analyse sein mag, so nutzlos ist sie auch, kann man Politiker doch nicht „schnitzen“ und sind bestimmte Erfahrungen früherer Generationen – gottlob – nicht wiederholbar. Was tun? Hier stellt sich die Systemfrage. Viel wird heute diskutiert über Renten- und sonstige Sozialsysteme, über Währungs- und Wirtschaftsfragen, obwohl es sich dabei doch nur um Symptome, nicht die Ursachen unserer Probleme handelt. Effektiver und nachhaltiger wäre es, die Mechanismen der politischen Willensbildung und der demokratisch-repräsentativen Gesetzgebung zu betrachten und zu optimieren: ein Reengineering des Grundgesetzes? Das Grundgesetz hat sich als sehr tragfähig und – in fast jeder Hinsicht – sinnvoll erwiesen. Die Errungenschaften, die das deutsche Volk mit dieser „Verfassung“ gemacht hat, können kaum zu hoch bewertet werden. Gleichwohl, die sich – national wie global – abzeichnenden Herausforderungen zwingen dazu, vor dem Hintergrund einer kontinuierlich sinkenden staatlichen Handlungs- und Steuerungsfähigkeit auch dieses Rückgrat unserer Gemeinschaft einer Prüfung zu unterziehen.

Ein neues Grundgesetz?

Als erstes kann sowohl der Parteien- als auch der Medienstaatlichkeit entgegen gewirkt werden durch eine Verminderung der Wahlkampfzeiten. Weniger Wahlkampf gibt der Politik mehr Zeit für die notwendige Sacharbeit und rückt zudem wichtige, aber weniger polarisierende Themen in den Vordergrund. Weniger Wahlkämpfe würden insbesondere auf der bundespolitischen Ebene die Bedeutung taktisch-populistischer Überlegungen reduzieren. Der Weg dorthin führt über eine Bündelung aller Wahlen auf den 9. November, am besten in einem zweijährigen Turnus. Unter welchen Bedingungen scheint hier eine Einigung denkbar? Realistische Erfolgsaussichten gäbe es wohl nur dann, wenn keine Legislaturperiode verkürzt, sondern aus der Zusammenlegung dieser Termine nur einzelne Verlängerungen resultieren würden.

Ein weiterer Stein im Getriebe der deutschen Gesetzgebung ist das Verhältnis von Bundestag und Bundesrat. Alle Seiten sind sich – in der Theorie – weitgehend einig, dass es zu einer Entflechtung der Gesetzgebungskompetenzen kommen muss, verknüpft mit einer jeweils entsprechenden Finanzverantwortung. Hier findet sich auch der einzige sinnvolle Ansatzpunkt für basisdemokratische Instrumente. Während es im allgemeinpolitischen Bereich und gesetzgeberischen Vorfeld sehr kritisch wäre, auf Bundesebene Volksentscheide zuzulassen, so könnte dieses Instrument doch bei Blockadesituationen zwischen Bundestag und Bundesrat zur befreienden Entscheidungsfindung herangezogen werden: zwei Gesetzestexte, die im jeweiligen Bundesorgan eine absolute Mehrheit gefunden hätten, stünden sich alternativ gegenüber.

Reformparteien, Parteireform

Und die Parteien selbst? Auch sie bedürfen der Reform. Das jetzige Parteienrecht ermöglicht der jeweiligen Parteiführung einen zu weitgehenden „Zugriff“ auf die Partei; Politiker und Parteien – respektive: „Parteivolk“ – entfernen sich zunehmend von einander, was man insbesondere am drastischen Mitgliederschwund der „Volksparteien“ ablesen kann, die diesen Titel kaum noch verdienen. Die Parteimitgliedschaft müsste wieder attraktiv werden, damit sich mehr Menschen in den Parteien engagieren. Die politische (Partei-) Führung müsste sich mehr ihren jeweiligen Wählern verpflichtet fühlen und den Wert einer demokratischen (Wahl-) Stimmabgabe wieder fühlbar machen. Um diese Ziele zu erreichen, sollten alle Parteifunktionen sowie alle politischen Nominierungen (insbesondere Listenplätze) nur durch interne Abstimmungen („Urwahlen“) vergeben werden. Das würde die parteipolitischen Führungsschichten zwingen, parteiinterne Wahlkämpfe durchzuführen, was eine demokratischere Willensbildung und Aufgabenzuteilungen zur Folge hätte. Die Parteimitgliedschaft wäre wieder attraktiv, die Besetzung von Führungsfunktionen transparent und der Politiker gewönne innerparteilich wie gesamtgesellschaftlich an Glaubwürdigkeit. Unangemessene Bürokratiekosten sind nicht zu erwarten, denn mittlerweile können die modernen Informations- und Kommunikationstechniken Abstimmungsprozesse dieser Art rechtssicher elektronisch abbilden.


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