Ersetzt die Mediendemokratie die Parteiendemokratie? Politiker und Experten auf allen Kanälen. Wie wichtig sind die Medien?

Der Wahlkampf steht in höchster Blüte: Die Kandidaten duellieren sich im Fernsehen. Noch bevor der 22. September einen Schlussstrich unter die Kampagne 2002 ziehen wird, mögen hier und dort die Diagnosen bereits feststehen. Aller Voraussicht nach wird attestiert werden: Es war erstens ein Medienwahlkampf wie noch nie zuvor und zweitens hat das Internet eine entscheidende Rolle gespielt. Dass diese Befunde häufig von den jeweiligen Medien über sich selbst ventiliert werden, sollte einen zumindest stutzig machen. Gerade der Medien-Hype um die TV-Duelle wirft die Frage auf, ob hier nicht von den Medien selbst hochstilisiert worden ist, was an sich recht unspektakulär erscheint.

Aber diese aufgedrängte Wahrnehmung passt durchaus in das verbreitete Bild, wonach unsere Gesellschaft, die Politik und überhaupt alles zunehmend von Medien geprägt werden. Die Parteien – die einst mächtigen Akteure im politischen System – würden verdrängt: Die Mediendemokratie ersetze die Parteiendemokratie. So ist gelegentlich zu hören und zu lesen.

Mediendemokratie

Das ist auf den ersten Blick nicht falsch, und allemal in Zeiten des Wahlkampfs mag man den gerechtfertigten Eindruck gewinnen, dass Politik in erster Linie „campaigning“ ist, dass es darum geht, über alle Kanäle Stimmen zu gewinnen. Dabei spielen neue und alte, digitale und elektronische Medien eine entscheidende Rolle, denn wie sonst können die Parteien „ihre“ Wähler erreichen. Nicht zuletzt um das Fernsehen dreht sich der Wahlkampf der Parteien. Daneben ist das Instrumentarium weit ausdifferenzierter, als es gelegentlich wahrgenommen wird. So sind das Plakat, die Info-Stände, die Veranstaltungen, die blumenverteilenden Kandidaten, die tourenden Busse ein wichtiger Teil des Wahlkampfs – aber auch das Internet.

Das Netz hat sich 2002 auf Bundesebene als obligatorische Wahlkampfbühne etabliert, nachdem das Wahljahr 1998 im Rückblick als fortgeschrittene Online-Generalprobe gewertet werden kann. Im Online-Wahlkampf 2002 werden wie in einem Brennglas die Strukturveränderungen des Internet, vielleicht sein Erwachsenwerden, allzu deutlich. Neben durchaus informativen Angebote der Parteien haben sich Web-Sites gesellt, die jene Trends in der politischen Kommunikation verstärken, die vom Fernsehen gesetzt worden sind: Personalisierung und Boulevardisierung.

Personalisierung und Boulevardisierung

Personalisierung: Eigene Web-Sites der Politiker mit Fotos von Hund und Familie, beim Wandern und Regieren sind Ausdruck einer Online-Personalisierung. So findet sich zum Beispiel auf der Seite
www.stoiber.de neben den Rubriken „Staatsmann“ und „Kanzlerkandidat“ auch eine Rubrik „Privatmann“ mit Fotos aus der Kindheit, von der Eheschließung und der Familie. Gleiches gilt für die anderen Kandidatenseiten.

Boulevardisierung: Auf der von der SPD-Kampa 02 betreuten Seite
www.nicht-regierungsfaehig.de finden sich unzählige vermeintlich oder tatsächlich unterhaltsame Animationen mit reduziertem politischen Inhalt. Flash-Animationen („Stoiber war’s“) und Votings werden angeboten, wie auch ein Rap mit Original-Zitaten von Edmund Stoiber. Politainment statt Argumente – eine Strategie, die sich auf den Sites beider Seiten feststellen lässt.

Die Hoffnung, das Internet biete einen alternativen Raum für „ausschließlich“ argumentative sachbezogene Auseinandersetzungen, muss also relativiert werden: Massenkommunikation findet auch auf dem Netz statt, nachdem das Netz zu einem Medium von „Massen“ geworden ist.

Einfluss der Medien – Parteibindung

Ob die Medienpräsenz der Parteien – online und offline – für die konkrete Wahlentscheidung ausschlaggebend ist, darum ranken sich nicht klar belegte Mythen. Offensichtlich gehen die Parteistrategen davon aus, andernfalls würden sie vor den entsprechenden Kosten zurückschrecken. Auch die Medien unterstellen sich selbst ein großes Gewicht.

Die Wahlforschung hingegen weiß nur wenig über den Einfluss der Medien auf die konkrete Wahlentscheidung. Ein Ergebnis scheint gleichwohl sicher: Ein entscheidender, wenn nicht der entscheidende Faktor ist die sogenannte „party affiliation“, die langfristige Parteibindung, die auch von den Medien mitgeformt wird. Kurzfristige Wahlkampfkommunikation kann hingegen nur bei den legendären Wechselwählern ausschlaggebend sein. Aber auch hier ist unklar, ob was wie wirkt – zumal auch die Gruppe der „Wechselwähler“ nicht klar abzugrenzen ist.

Bedeutung der Medien

Dies führt zurück auf die Ausgangsfrage: Wie wichtig sind Medien? Welche Rolle spielen noch die Parteien? Blickt man auf die Zeiten jenseits des Wahlkampfs, so lassen sich viele Momente im politischen Prozess ausmachen, in denen Medien keinen Faktor darstellen. Gerade in einer „Verhandlungsdemokratie“, in der Entscheidungen nicht selten in informellen Zirkeln getroffen werden, spielen Öffentlichkeit und Medien nur eine bedingte Rolle. Interessant sind deswegen Projekte wie
www.elektronische-demokratie.de, in denen versucht wird, die Entwicklung eines Gesetzesentwurfs für eine interessierte Online-Gemeinde transparent zu machen und diese in die Willensbildung mit einzubeziehen.

Auch müssen Medien Parteien nicht zwangsläufig schwächen: Der gezielte Einsatz von Medien vermag Parteien zu kräftigen. Insbesondere das Internet bietet den neuen, aber auch traditionellen Organisationen „tools“ zur Straffung ihrer Binnenstrukturen. Im Schatten der allgemein zugänglichen Netzangebote der Parteien haben sich exklusive Intranets herausgebildet, die unterschiedliche innerparteiliche Zielgruppen ansprechen. Die Mitgliedernetze bieten den Parteibuchinhabern die Chance, auf sie zugeschnittene Informationen zu erhalten und privilegiert Mitteilungen zu versenden. Neben den Mitgliedernetzen haben die Parteien auch spezielle Netze für Funktionsträger ins Leben gerufen, auf denen diese mit Sprachregelungen und Infomaterial versorgt werden. Diese Intranets helfen einer Partei bei dem effizienten Management ihrer Organisation, haben notabene mit mehr Partizipation und dem Revival der „Mitgliederparteien“ nur bedingt etwas zu tun.

Parteiendemokratie

Kann das Ergebnis lauten: Stärkung der Parteiendemokratie durch die Medien? Wohl auch nicht. Parteien nutzen die Medien und dabei verändern sie sich. Es verändern sich aber auch die Spielregeln im politischen Prozess; neue Akteure, die die Regeln der Mediendemokratie nutzen, erhalten Chancen: z.B. die Nichtregierungsorganisationen wie „attac“ (
www.attac-netzwerk.de), die einen beträchtlichen Teil ihrer Mobilisierung und Öffentlichkeitsarbeit online durchführen. Aber auch in die Strukturen des Parteiensystems wirken die Medien verändernd: Ein Format wie das TV-Duell zwischen den beiden Spitzenkandidaten kann für die kleineren Parteien, auch für solche mit Möchte-Gern-Kanzlerkandidaten, abträglich sein.

Trotz aller Medieneuphorie – Parteien bleiben wichtige Akteure in einer veränderten politischen Landschaft. Die Medien, offline und online, mischen die Karten im politischen Prozess neu. Die Parteien haben dabei – trotz aller unterstellter Reformträgheit – erstaunlich gut gelernt, sich in einer von Medien geprägten Gesellschaft einzurichten.

Dr. Stefan Marschall ist wissenschaftlicher Assistent für Politikwissenschaften an der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und zusammen mit Prof. Ulrich von Alemann Herausgeber des Buches Parteien in der Mediendemokratie,
Westdeutscher Verlag 2002.

Erschienen am 18.09.2002