Wenn man die Begriffe zusammenträgt, die die gegenwärtige bzw. gerade anbrechende Gesellschaftsform charakterisieren sollen, so tritt viel Ratlosigkeit zu Tage: quot;postmoderne" Gesellschaft ist schlichtweg falsch, "postindustrielle" Gesellschaft ist zutreffend, aber wenig aussagekräftig. "Informationsgesellschaft" hat einiges für sich, und doch greift dieser Begriff zu kurz.

 

Breiter, übergreifender ist der der "Wissensgesellschaft". Was hat man sich genau darunter vorzustellen? Jürgen Rüttgers, ehemaliger Forschungsminister und CDU-Kandidat für das Ministerpräsidentenamt in Nordrhein-Westfalen, hat sich dieser Frage in seinem Buch "Zeitenwende. Wendezeiten. Das Jahr-2000-Projekt: Die Wissensgesellschaft" (Berlin 1999) angenommen.

 

Rüttgers erkennt zutreffend, daß Information noch nicht Wissen ist, weil Wissen nur in der menschlichen Köpfen entsteht, wenn Erfahrungen gemacht und Informationen umgesetzt werden. Deswegen plädiert er für mehr Bildung und erneuert seine Vorschläge zur Verbesserung der Ausbildung – Vorschläge, die nicht neu sind. Gleichzeitig verkennt er nicht, daß Wissen und Bildung nicht alles sind, denn er betont, daß Werte nötig sind, um die Gesellschaft zusammenzuhalten.

Rüttgers will den Menschen, die die Globalisierung fürchten, neuen Mut machen, und eine positive Entwicklung mit Chancen für alle aufzeigen. Er befürwortet einen breiten gesellschaftlichen Dialog über Chancen und Risiken der heraufziehenden neuen Gesellschaft und gibt auch Fehler zu. Interessant ist auch, daß er sich in seinem Anliegen, den Bürgern die Furcht vor der Globalisierung zu nehmen, trifft mit Oskar Lafontaine, der gemeinsam mit seiner Frau 1998 ein Buch mit ähnlichen Intentionen geschrieben hat.
Und doch spricht, wie man mit vielen Beispielen zeigen könnte, Rüttgers als Konservativer, z. B. dann wenn er behauptet, die von Helmut Kohl 1982 beschworene geistig-moralische Wende habe stattgefunden.

Was ist die Wissensgesellschaft?

Es ist eine Gesellschaft, in der Wissen (und nicht Boden oder Kapital) der entscheidende Produktionsfaktor geworden ist und die Mehrheit der Menschen in der Erstellung und Verarbeitung von Wissen tätig ist.
Allerdings sieht er Bildung und Wissen überwiegend funktional. Eine längere Ausführung über die Rolle der Wissenschaft, in der er die Notwendigkeit der engen Zusammenarbeit von Wissenschaft und Unternehmen postuliert, endet mit den Worten "Denn sonst (wenn Wissenschaft nicht zur Prosperität beiträgt, K.P.) bleiben die Wissensproduzenten auf ihren Ergebnissen sitzen, wenn sie sich nicht rechtzeitig auf Geschmack und Anspruch der Wissenskonsumenten einstellen." Wer sind die "Wissenskonsumenten"? Wenn er die Bürger meint, so kann seine Forderung eine Abwärtsspirale auslösen: Wo bitte sollten die Wissenschaftler denn aufhören in ihrer Anpassung an "Geschmack und Anspruch" der Konsumenten, auf dem Niveau von Focus und Spiegel oder dem der BILD-Zeitung?

Wenn er, und so ist der Zusammenhang eher zu deuten, die Unternehmen meint, so kann seine Forderung zu kurzatmiger, nur anwendungsbezogener Forschung führen. Hier könnte er die Forderung, Bildung und Wissen zum Kernthema der anbrechenden Gesellschaft zu machen, doch etwas ernster nehmen und dem Wissen einen Eigenwert zusprechen, der auch gegen kurzatmige Vermarktungsinteressen zu verteidigen ist. Realistischerweise wird ein Wissensmix gebraucht zwischen Anwendungs- und Grundlagenwissen. Denn auch bei eher funktionaler Betrachtungsweise ist eine Konzentration auf das in absehbarer Zeit Markttaugliche recht hinderlich: Denn das Grundlagenwissen von heute kann sehr wohl das Anwendungswissen der zukünftigen Generationen sein.

Arbeit für alle

Die Umfragen der letzten Jahre zeigen immer wieder, daß den Menschen in Deutschland vor allem die Arbeitslosigkeit Sorgen bereitet. Die Meinungen der Fachleute hierzu sind gespalten zwischen denen, die das "Ende der Arbeit", also das Ende der Vollbeschäftigung und den Rückgang der klassischen Erwerbsarbeit feststellen, und denen, die nach wie vor Vollbeschäftigung für möglich halten. Ebenso wie Lafontaine hält Rüttgers die Vollbeschäftigung für möglich, wenngleich er natürlich einen anderen Weg zur Vollbeschäftigung empfiehlt als Lafontaine. Es ist erstaunlich, zu sehen, wie die scheinbar in jeder Weise zueinander im Gegensatz stehende ökonomische Nachfrage- und die Angebotsorientierung in dem Punkt übereinstimmen, Vollbeschäftigung sei möglich. Bei Rüttgers ist dies um so erstaunlicher, da er weiß, daß in den letzten 35 Jahren in Deutschland das Arbeitsvolumen deutlich zurückgegangen ist, obwohl die Zahl der Beschäftigten zugenommen hat. Die Beschäftigtenzahl konnte nämlich nur zunehmen wegen der gleichzeitigen Arbeitszeitverkürzung, die wenigstens einen Teil der Produktivitätsgewinne in Freizeit umgewandelt hat.

Wird die Wissensgesellschaft die weggefallenen Arbeitsplätze in der industriellen Fertigung in ausreichender Zahl ersetzen? Sind die von der Industrie "Freigesetzten" für Wissensarbeit qualifizierbar? Wird es überhaupt Wissensarbeitsplätze für alle geben? Diese Aussage ist recht zweifelhaft, denn Wissen ist reproduzierbar und in der ganzen Welt verteilbar. Was Produkte für Endkonsumenten angeht, hat die Masse der Konsumenten zumeist keine hohen Anforderungen an "Wissensprodukte", so steht eher eine Entwicklung wie in der bundesdeutschen Fernsehwelt der letzten 15 Jahre auf der Tagesordnung: Ausweitung der Programme durch viel Beliebiges, Durchschnittliches. Die Talkshow und der Internet-Chat ersetzen schon heute den Klönsnack in der Stammkneipe. Mediennutzung an sich ist aber noch nicht Wissensvermehrung. Das gilt auch für das Internet, dem z.B. das Prognos-Institut eine Zukunft als "normales", also eher passiv konsumiertes Medium vorhersagt.

Wie anders, wie ergreifend ist da die Bemerkung von Viviane Forrester (V. Forrester, L\’horreur économique. Paris 1996), über den Wert, den Bildung gerade auch für die haben kann, die von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind: Sie sagt, Bildung könne ihnen vielleicht doch die Möglichkeit zu einem erfüllten Leben verschaffen.

Welches Ziel hat Bildung

Glücklicherweise verharrt Rüttgers nicht durchgängig auf der ökonomischen Funktionalisierung der Bildung. Vielmehr führt er zurecht aus, daß Bildung zur Verantwortung führen muß, und daß – in Anlehnung an Hans Jonas – Verantwortung immer die Verantwortung für andere Menschen ist. Darüber hinaus verschafft Wissen Orientierung. Und es läßt sich hinzufügen: Wissenserwerb und Wissensvermittlung verschaffen Freude und Glück, auch wenn sie ohne wirtschaftlichen Zweck geschehen. Der Glaube, das Plädoyer für die Bildung wirtschaftlich legitimieren zu müssen, verrät eigentlich ein mangelndes Vertrauen in die zivilisierende Wirkung von Bildung.

Was fehlt in seinem Buch?

Auch, daß er manche Themen nicht anspricht oder sich vom Leibe hält, sagt einiges aus über Rüttgers. Beim Thema Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft fällt einem sofort das Thema Ökologie ein. Wenn immer mehr Menschen in ihrer Arbeit Wissen als Rohstoff haben und Wissen als Produkt erzeugen, so könnte das – politische Zielvorgaben vorausgesetzt – den Verbrauch an Rohstoffen und Energie senken. Dieser Gedanke ist Rüttgers jedoch keine Zeile wert. Auch wachsende soziale Ungleichheit kommt bei ihm nur als die Gefahr einer "knowledge gap" vor, eines Auseinanderdriftens Menschen mit guter Ausbildung und solchen mit niedriger Qualifikation vor. Er verkennt bei dieser Betrachtungsart, daß seit 1982 der Anteil des Arbeitseinkommens am gesamtwirtschaftlichen Einkommen prozentual ständig zurückgeht, der des Faktors Kapital aber ständig zunimmt. Auch sind die Vermögen ungleich verteilt: 1995 verfügten die reichsten 10 % der Haushalte über 3 Billionen DM Vermögen, während die restlichen 90 % der Haushalte nur über 2,5 Billionen DM verfügten. 10 % aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland leben heute von der Sozialhilfe. Gefährdet die Ungleich der Ausstattung der Elternhäuser nicht die Chancengleichheit? Rüttgers spricht diese Frage nicht an. Er wird nicht müde, zu betonen, daß die Schule kein Instrument zur Veränderung der Gesellschaft sein kann. Heißt das aber, daß wir hilflos dem Auseinanderdriften von Arm und reich zuschauen müssen? Rüttgers selbst stellt ja heraus, daß die Wissensgesellschaft kein passiv erlittenes Schicksal, sondern aktiv durch die Politik gestaltbar ist.

Fazit

Jürgen Rüttgers bietet uns die Ansichten eines aufgeklärten Konservativen zur Wissensgesellschaft. Sein Verdienst ist es, überhaupt die Wissensgesellschaft als Ganzes – und nicht nur schmale Aspekte – zum Thema eines Buches gemacht zu haben. Ungeklärt ist aber noch die Beziehung der Wissensgesellschaft zum Kapitalismus, zum verschärften globalen Wettbewerb: zum einen betont Rüttgers immer wieder die ökonomische Funktion des Wissens und der Wissenschaft, zum anderen sagt er "die Wissensgesellschaft bringt die Einlösung der Verheißungen des Humanismus", da sie erstmals in der Geschichte den Menschen in den Mittelpunkt rücke. Die Gegenpole des Menschen als Maß einerseits und seiner Unterordnung unter Wettbewerb und Profit andererseits zu klären sollte der wichtigste Anspruch an jeden Diskussionsbeitrag über die Wissensgesellschaft sein. Diese Diskussionen sollte weitergeführt werden.