Direkt vom Petersburger Dialog in Wiesbaden kam der Russland-Experte Alexander Rahr, Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik, am Montag, 15. Oktober, in den tagesschau-Chat. Er sprach über die deutsch-russischen Beziehung und Wladimir Putins politische
Zukunft.

 

Moderatorin: Guten Tag und herzlich willkommen
im tagesschau-Chat. Heute zu Gast: Alexander Rahr, Russland-Experte
von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Vor wenigen Stunden ist Herr Rahr aus Wiesbaden zurückgekehrt,
wo der Petersburger Dialog zwischen Russland und Deutschland stattgefunden
hat. Deshalb freuen wir uns, ihm in den kommenden 60 Minuten Ihre
Fragen stellen zu können. Herr Rahr, sind Sie bereit?

Alexander Rahr: Jawohl, ich bin bereit!

Alexander Rahr
Alexander Rahr,
Russland-Experte von der Deutschen Gesellschaft
für Auswärtige Politik


Moderatorin: Neuerdings können unsere User
schon vor dem Chat Fragen stellen. Hier die Frage, die unsere Nutzer
am wichtigsten fanden:

nn: Finden Sie, dass die Darstellung der politischen
Entwicklung Russlands in den deutschen Medien die Realität
wahrheitsgetreu wiederbringt (Pressefreiheit, Akzeptanz der oppositionellen
Kräfte innerhalb der Gesellschaft, Öl-und Gasstreit),
oder dass vielfach polemisiert und dramatisiert wird?

Alexander Rahr: Die Frage ist wirklich sehr schwierig
zu beantworten. Ich glaube schon, dass sich die westlichen Korrespondenten
bemühen, das richtige Bild über Russland nach Hause rüberzubringen.
Aber was heraus kommt an Geschriebenem ist oft sehr moralisierend,
wenn ich das so sagen kann. Im Vergleich zu den angelsächsischen
Ländern moralisieren und polarisieren wir praktisch schon auf
der Titelseite, wo eigentlich nur die Nachricht stehen müsste.
Dazu kommt noch, dass viele Journalisten, die heute aus Russland
über Russland berichten, dort seit vielen Jahren tätig
sind, aber in den 1990er Jahren ein für sich viel sympathischeres
Russland vorgefunden haben, mit dem sie sich viel besser identifizieren
konnten als mit Putins Russland. Putins Russland erscheint ihnen
als bedrohlich, autoritär, nationalistisch und fast schon sowjetisch.

tkrüger: Verkörpert Putin nicht mehr
die neue russische Autokratie, in der demokratische Züge nur
noch schwer zu erkennen sind?

Alexander Rahr: Meiner Meinung nach müssen
wir immer den Grad der Demokratie im gesellschaftlichen Wandel und
in der russischen Öffentlichkeit suchen. Ich betone: Putin
hat seit acht Jahren die Unterstützung von 80 Prozent der Bevölkerung.
Sie können mir glauben, dass seine Autorität echt ist.
Ich spreche mit allen Russen aller Schichten und quer durch die
Regionen des Landes. Fast jede russische Familie hat die 1990er
Jahre als Chaos und Absturz in eine wirtschaftliche Katastrophe
erlebt. Die Stabilität, die Putin heute vermittelt, ist für
die meisten Russen zukunftsträchtig. Und das letzte Argument:
Unter Putin ist zum ersten Mal in der russischen Geschichte das
Privateigentum legalisiert worden.

Moderatorin: Dazu eine Anmerkung eines Users:

Chris: In den 1990igern waren Mafiamorde alltäglich
und es herrschte das Chaos. Ich empfinde es nicht als bedrohlich
hier oder sowjetisch.

Peter Walter: Wird Präsident Putin Ministerpräsident
werden und bleiben oder doch wieder Präsident werden?

Alexander Rahr: Ich spiele mal Nostradamus: Putin
wird nicht Premierminister, weil das der zweitwichtigste und nicht
der wichtigste Posten im Staat ist. Putin, der acht Jahre so viel
Macht hatte, wird sich nicht freiwillig ins zweite Glied begeben.
Ich kann mir auch überhaupt nicht vorstellen, dass die russische
Elite bereit ist, das heutige Präsidialsystem in eine parlamentarische
Republik umzuwandeln. Ich schließe nicht aus, dass Putin 2012
als Präsident wiedergewählt wird, die Verfassung würde
dies erlauben. Bis 2012 wird Putin aller Wahrscheinlichkeit nach
eine Art Deng Xiao Ping hinter den Kulissen spielen. Vielleicht
wird er Vorsitzender der Partei „Einheitliches Russland“.
Das ist eigentlich der ideale Posten für ihn. Damit lenkt er
alle.
Ich habe aus seinem engsten Umfeld gehört, dass Putin diese
Idee – Parteichef zu werden – ohne viel Verantwortung für die
Politik zu haben – vom gegenwärtigen Indien abgeschaut hat.

Moderatorin: Viele unserer User interessiert das
Verhältnis zwischen Russland und dem Westen. Diese Frage schaffte
es auf Platz zwei:
Kalif: Würde Russland Energielieferungen gegenüber Deutschland
als Druckmittel einsetzen?

Alexander Rahr: Gegenüber Deutschland auf
keinen Fall. Gegen die Konsumenten russischer Energie, die den vollen
Marktpreis bezahlen, wäre dies ein Wahnsinn. Wir sind nicht
so abhängig vom russischen Gas, wie das oft in den Medien dargestellt
wird. Aber Fakt ist, dass Russland gegenüber seinen direkten
Nachbarn Öl und Gas doch als Druckmittel einsetzt. Wobei man
hier aber auch stark relativieren muss. Fakt ist nämlich auch,
dass die Ukraine und Weißrussland Energieträger aus den
Pipelines gestohlen haben.

ged: Deutsch-russische Beziehungen heißt
auch Ost-Westbeziehungen. Was können wir beitragen, dass daraus
freundschaftliche Beziehungen werden?

Alexander Rahr: Ich komme direkt aus dem Petersburger
Dialog. Das ist ein außerordentlich interessantes Forum, auf
dem Vertreter von Zivilgesellschaften beider Länder über
wirklich alles freimütig, aber durchaus kritisch diskutieren.
Seit Bestehen dieses Forums im Jahr 2001 verstärkt sich das
Vertrauen nach jedem Petersburger Dialog, der einmal im Jahr stattfindet.
Deutschland wird von Russland als sein Anwalt im Westen betrachtet.
Deutschland ist von allen Westeuropäern das beliebteste Volk
für alle Russen, und wir haben mit Präsident Putin einen
äußerst deutschfreundlichen Präsidenten. Wir haben
unsere Chancen genutzt, mit Russland eine wirklich strategische
Partnerschaft aufzubauen. Aber bedauerlicherweise ist die Gesamt-EU
nicht mit uns mitgekommen. Vor allen Dingen die neuen EU-Staaten
sehen Russland viel kritischer als wir und glauben, dass unsere
Politik der strategischen Partnerschaft gegenüber Russland
ihre Interessen verletzt.

ewwewe: Haben Sie in Wiesbaden mit russischen Ministern
(oder Putin) reden können – und was war Thema?

Alexander Rahr: Bei jedem Petersburger Dialog
nehmen die Kanzlerin und der russische Präsident an der Abschlussrunde
teil. Ein offener Dialog ist bedauerlicherweise nicht möglich,
aber man kann sowohl Putin als auch Frau Merkel schon in ein Gespräch
verwickeln. Ich habe den Eindruck, dass Putin auf die deutsche Wirtschaft
als seinen Verbündeten setzt, während Frau Merkel hofft,
dass die deutsche Zivilgesellschaft über einen Dialog mit Russland
eine Verbesserung des Verhältnisses schafft. Es ist einfacher,
mit Putin in Moskau selbst zu reden. Es gibt den so genannten Waldaj-Klub,
dem circa 50 westliche Experten angehören, die jeden September
nach Russland fahren und dort mehrere Stunden mit Präsident
Putin zu Mittag essen. Aus diesen Gesprächen kann ich berichten,
dass Putin keiner Frage aus dem Weg geht und wir das Gefühl
haben, dass er weiterhin ein Politiker mit einer prowestlichen Ausrichtung
ist.

DeniseF: Als wie ehrlich schätzen Sie die
deutsch-russischen Beziehungen ein? Kann Frau Merkel z.B. Menschenrechtsverletzungen
ansprechen, ohne die Beziehung zu belasten?

Alexander Rahr: Ich sagte schon, dass ich der
Auffassung bin, dass Russland nichts dagegen hat, wenn Deutschland
für Russland die Rolle eines Anwalts im Westen spielt. Die
Russen verstehen inzwischen, dass viele kritisch Töne, die
von Frau Merkel Richtung Russland kommen, für die innenpolitische
Galerie bestimmt sind.

achter Mai: Denken Sie, dass Russland eine nationale
Fähigkeit zur Selbstkritik entwickeln muss, um sich zu reformieren
und seine Probleme zu lösen? Kann die Verbindung kritische
Haltung dem eigenen Staat gegenüber = Verrat durchbrochen werden?

Alexander Rahr: Das ist eine Schlüsselfrage
für das Verständnis der russischen Entwicklung zu Beginn
des 21. Jahrhunderts. Ich persönlich finde, dass Russland eine
Vergangenheitsbewältigung durchführen sollte. Russland
hat es noch immer schwer, sich in das Denken seiner unmittelbaren
Nachbarn hineinzuversetzen. In Russland besteht heute bedauerlicherweise
eine sehr hohe Reizschwelle, die einen Dialog bremst.

Marcel: Wie schätzen Sie das aktuelle Verhältnis
von Putins Russland zu den USA ein und was ist in Zukunft zu erwarten?

Alexander Rahr: Die USA versuchen heute, die Rolle
der einzigen Führungsmacht auf unserem Planeten zu spielen.
Die Europäer und Japan unterstützen sie dabei, weil das
Ende der US-amerikanischen Führungsmacht für uns Chaos
bedeuten würde. Russland sieht alles genau umgekehrt. Man will
nicht in einer Welt leben, die von Amerika dominiert wird und sieht
es als eine historische Aufgabe an, alleine oder zusammen mit China
einen Gegenpol zu den USA zu schaffen. Daher die ganzen Konflikte
zwischen Russland und USA der vergangenen Jahre.

NE: Wie beurteilen Sie die pro-westliche Entwicklung
in der Ukraine vor dem Hintergrund der „Entdemokratisierung"
Russlands? Wird dies einen neuen Konfliktherd zwischen Russland
und der EU geben?

Alexander Rahr: Hoffentlich nicht. Die Ukraine
ist nicht pro-westlich und der Ostteil der Ukraine ist nicht pro-russisch.
Gott sei Dank hat sich die Ukraine zu einem Subjekt der europäischen
Ordnung entwickelt. Das Land ist meiner Meinung nach selbstbewusst
genug, seine zugegeben sehr tiefen inneren Konflikte selbst zu lösen
und eine völlig normale Schaukelpolitik zwischen Brüssel
und Russland fortzusetzen.

dieter: Glauben Sie nicht auch, dass Russland im
Chaos versinkt, wenn man unsere oder gar Schweizer Demokratievorstellungen
verwirklichen würde?

Alexander Rahr: Im Chaos wird Russland nicht versinken.
Aber – und es tut mir innerlich weh, das zu sagen – traue ich heute
den russischen Eliten nicht mehr zu, ein demokratisches System zu
errichten. In 20 Jahren hat Russland aber gute Chancen, so auszusehen
wie Deutschland in den 1970er Jahren.

Eva Schmidt: Wie beurteilen Sie das Wirtschafts-
und Unternehmensklima zur Zeit in Russland? Wie wird sich Russlands
Wirtschaft Ihrer Meinung nach in naher Zukunft entwickeln?

Alexander Rahr: Russland ist viel kapitalistischer
als der Westen. Russland hat den niedrigsten Steuersatz aller Industrieländer.
Der russische Markt ist der zweitgrößte Wachstumsmarkt
nach China. Gleichzeitig hat Russland von allen Industrieländern
das wohl korrupteste Beamtensystem. Es versucht gerade zum zweiten
Mal innerhalb von fünf Jahren, seine Spielregeln im Wirtschaftsmarkt
zu verändern. Und die russischen Konzerne haben eine sehr schlechte
Kommunikationsstrategie. Deshalb sind die Risiken, auf dem russischen
Markt zu investieren, nach wie vor groß. Andererseits waren
auch die Chancen, in Russland wirklich Geld zu verdienen, nie so
groß wie heute.

Thomas Z.: Ist davon auszugehen, dass Russland
in Zukunft eine große Rolle für die deutsche Wirtschaft
spielen könnte (abgesehen von dem Erdgashandel)?

Alexander Rahr: Russland spielt bereits eine große
Rolle für die Wirtschaft. Vor wenigen Stunden hat der Vorsitzende
des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, Klaus Mangold, davon
gesprochen, dass der Handel mit Russland um 35 Prozent pro Jahr
zunimmt und mit sieben Milliarden Euro Direktinvestition im Jahr
2007 eine neue Rekordmarke erreicht worden ist.

Migrant aus Russland: Inwiefern üben in Russland
Konzerne Einfluss auf die Politik aus? Ist dieser Einfluss schon
so stark ausgeprägt wie in westlichen Industrienationen, oder
übt in Russland eher die Politik mehr Einfluss auf die Wirtschaft
aus?

Alexander Rahr: Heute versucht die Politik, die
staatlichen und die privaten Konzerne dazu zu überreden oder
dazu zu zwingen, auch nationale Interessen in der Expansionspolitik
nach außen durchzusetzen. In den 1990er Jahren war die Situation
genau anders herum: In den 1990er Jahren gehörte 80 Prozent
der russischen Wirtschaft sieben Oligarchen, und Präsident
Jelzin war ihre Marionette.

Mia: Eine wichtige Grundlage für eine funktionierende
Wirtschaft sind gut ausgebildete Fachkräfte. Existiert in Russland
ein bildungspolitisches Programm? Wenn ja, was wird im Rahmen der
Bildungspolitik unternommen?

Alexander Rahr: Wiederum eine sehr interessante
Frage, die zeigt, dass unsere User wirklich über die Probleme
Russlands Bescheid wissen. Russland hat ein Riesenproblem mit der
Ausbildung von Fachkräften, vor allem Ingenieuren. In den 1990er
Jahren musste Russland einen furchtbaren Brain Drain verkraften.
Seit 2005 werden in Russland so genannte nationale Programme durchgeführt,
die aus verdienten Petridollars bezahlt werden und die darauf gerichtet
sind, beispielsweise Eliteschulen in Russland zu errichten, die
Bildung im Land zu reformieren. In den letzten zwölf Monaten
sind alle russischen „Gymnasien" mit Computern ausgerüstet
worden. Die Gehälter für Spezialisten sind um das vielfache
gestiegen, so dass man vielleicht in dieser Hinsicht vorsichtigen
Optimismus anbringen könnte.

Mia: Gern wird behauptet, es gäbe in Russland
lediglich die wenigen superreichen „Neuen Russen“ und
eine riesige Masse sehr armer Menschen. Und dazwischen? Gibt es
in Russland eine Mittelschicht, wie groß ist sie, wer bildet
sie und wie wird sie sich entwickeln?

Alexander Rahr: Das ist meine Lieblingsfrage.
In den 1990er Jahren gab es drei Prozent Superreiche und 97 Prozent
Verlierer. Das ist natürlich ein bisschen zugespitzt. Was die
Putinschen Reformen bewerkstelligt haben, ist in der Tat die Kreierung
einer neuen Mittelschicht. Auch dank der Privatisierung. Nach offiziellen
Angaben gibt es heute in Russland fünf Prozent Superreiche,
aber 30 Prozent Menschen, die sich zur Mittelschicht zählen.
Auf dem Land lebt die Bevölkerung bedauerlicherweise noch fast
in mittelalterlichen Zuständen, aber in den haupt- und mittelgroßen
Städten gibt es a) kaum Arbeitslosigkeit, b) einen sehr mobilen
Arbeitsmarkt und c) das durchschnittliche Einkommen eines Russen
beträgt heute 800 Dollar im Monat (Zahlen der Weltbank). Vor
acht Jahren lag der Durchschnittsverdienst bei 100 Dollar.

Peter Walter: Was tut Russland, um vorbereitet
zu sein auf die Zeit, wenn Öl und Gas knapp werden – und ist
das ausreichend?

Alexander Rahr: In den nächsten 50 Jahren
werden Öl und Gas nicht knapp werden. Der Höhepunkt der
Welt-Öl- und Gasförderung kommt erst noch in den nächsten
zehn Jahren. Die Mehrheit der Experten geht davon aus, dass der
Ölpreis in den nächsten zehn Jahren nicht mehr sinken
wird. Grund dafür ist die unglaublich rasant steigende Nachfrage
nach Energieträgern in Asien und die politischen Probleme im
Persischen Golf. Russland hat in den letzten fünf, sechs Jahren
so viel Glück wie noch nie in seiner Geschichte gehabt. Die
Regierung schwimmt heute nicht in Millionen, sondern in Milliarden.
Ich halte es persönlich für sehr vernünftig, dass
Präsident Putin mit dem Geld nicht herumschmeißt, weil
das die Inflation ankurbeln würde. Aber Russland wird sich
in den nächsten Jahren höchstwahrscheinlich ein solches
Finanzpolster angelegt haben, dass es vor Wirtschaftskrisen relativ
geschützt ist.

Kenny82: Die zeitweise Einstellung der Gaslieferung
nach Europa, öffentliche Militärmanöver, Einschwören
der Bevölkerung auf den Präsidenten, Besitzanspruch Nordpol
und vieles mehr… Meinen Sie, Russland könnte in naher oder
mittlerer Zukunft militärisch aggressiv werden?

Alexander Rahr: Das kann ich mir sehr schwer vorstellen.
Russland wird von eiskalten Pragmatikern, aber nicht von Verrückten
regiert. Bei einem Konflikt mit dem Westen würde Russland den
Kürzeren ziehen. Allerdings habe ich eine Befürchtung,
dass die Unabhängigkeit des Kosovo eine Art Dominoeffekt auf
den postsowjetischen Raum auslösen würde. Ich meine, dass
Quasi-Staaten wie Abchasien oder Südossetien dem Beispiel des
Kosovo sofort folgen würden. Es ist nicht auszuschließen,
dass der georgische Präsident Saakaschwili einen Militäreinsatz
gegen seine abtrünnigen Republiken wagen wird – dann allerdings
droht ein Krieg mit Russland.

saladbowl: Wenn Sie Schröders und Merkels
Russlandpolitik vergleichen – wo sehen Sie Vor- und Nachteile des
Regierungswechsels?

Alexander Rahr: Ich persönlich fand die Russlandpolitik
von Gerhard Schröder absolut richtig. Genauso wie ich die Russlandpolitik
von Helmut Kohl sehr richtig fand. Sowohl Schröder als auch
Kohl sympathisierten mit der Idee eines geeinten Großeuropas,
in dem Russland in die europäische Familie aufgenommen würde.
Bei Frau Merkel vermisse ich diesen Ansatz vollständig.

tiagra: Das Fazit einiger Russen in Wiesbaden hieß
„EU und Russland entfremden sich“ – Mit Schröder
gab es einmal Bestrebungen zur Vereinfachung der Visabestimmungen
et cetera. – gibt es diese Bestrebungen noch, und wenn ja, wie weit
sind sie? Putin sagte damals „… in zwei Jahren könnte
man mit ersten Ergebnissen rechnen“ – das ist mittlerweile
vorbei.

Alexander Rahr: Es sind heute die Russen, die
bereit sind auf jegliche Visa zu verzichten. Wir, nicht die Russen,
bauen heute die Barrieren auf. Wir haben Angst vor der Kriminalität
aus dem Osten und vor illegalen Migranten. Innerhalb der EU setzt
sich Deutschland für eine starke Liberalisierung des Visaverkehrs
mit Russland ein, aber die meisten unserer EU-Nachbarstaaten wollen
kein deutsches Vorpreschen in dieser Frage. Zunächst einmal
wird das neue Schengener Europa den Reiseverkehr zwischen EU und
Russland erschweren. Aber ich persönlich glaube, dass die einzigen
Chancen, die Perspektive eines geeinten und großen Europas
zu erhalten, im Abbau des Visa-Regimes liegen. Viele Bürger
der Staaten Nordafrikas und Lateinamerikas können visumsfrei
nach Europa einreisen. Wieso dürfen das Russen, Ukrainer und
Weißrussen nicht auch?

walli-olli: Wie beurteilen Sie im russischen Justizsystem
den Einfluss des Geheimdienstes FSB?

Alexander Rahr: Die russischen Geheimdienste sind
als „Old-Boys-Network" mit Putin in 2000 an die Macht
gekommen. Leute mit Geheimdiensthintergrund sitzen heute an den
wichtigsten Schaltstellen der Macht. Eines der wesentlichen Kritiken
an Putin und seinem Führungsstil ist, dass er äußerst
misstrauisch ist und seiner Elite so misstraut, dass er sie durch
seine alten Freunde aus dem Geheimdienste ständig kontrollieren
lässt. Putins Argument für die große Anzahl von
Geheimdienstlern im Staatsapparat lautet: Diese Männer werden
niemals stehlen. Inzwischen sind Zweifel angebracht.

jochen: Wer wäre oder ist überhaupt ein
ebenbürtiger Nachfolger für Putin?

Alexander Rahr: Ich sehe zwei Nachfolger für
Putin, einen realen und einen virtuellen: Wenn Putin hinter den
Kulissen weiterregieren will, braucht er einen schwachen Präsidenten.
Praktisch einen Statthalter. Möglicherweise ist der neue Premierminister
Subkow ein Kandidat für die Rolle eines technischen Präsidenten.
Der Mann ist 66 Jahre alt, ist Putins Datscha-Nachbar und wird auf
den ersten Wink Putins das Präsidentenamt wieder verlassen,
um Putin wieder Vortritt zu geben. Wenn Putin und die Eliten allerdings
einen sauberen Übergang wünschen und eine Kontinuität
der putinschen Modernisierungspolitik absichern wollen, dann müssen
sie eine starke Persönlichkeit als Präsidenten akzeptieren,
der vom Volk dieselbe Achtung bekommen würde wie Putin. Heute
gibt es aus meiner Sicht nur einen Politiker, der in der Lage ist,
all die schwierigen Kriterien zu erfüllen, die ein Nachfolger
Putins mit sich bringen muss. Es ist der Ex-Verteidigungsminister
Sergei Iwanow. Ich habe mich letzte Woche in Moskau mit ihm getroffen.
Meine sehr subjektive Wahrnehmung ist, dass der Mann fürs höchste
Amt bereit ist.

Marcel: Was ist dran an der Kritik von „mangelnder
Pressefreiheit" in Russland? Wie sieht die Zeitungslandschaft
dort aus, spricht sie kritische Themen offen an?

Alexander Rahr: Ich finde die russischen Medien
sind nicht gelähmt. Es herrscht keine Zensur wie in der Sowjetunion.
Aber die Chefredakteure haben alle eine Schere im Kopf. Es gibt
Tabus, die nicht angetastet werden dürfen. Ein solches Tabu
ist ein Aufruf zum Regimechange.

bert: Muss Russland Angst vor einer so genannten
„farbigen Revolution“ haben?

Alexander Rahr: Aus meiner Sicht müsste Russland
die nicht fürchten, tut es aber. Mir ist die Angst des Kreml
vor einer orangen Revolution in Russland völlig schleierhaft.
Aber mit wem ich auch im Kreml rede, man ist dort davon überzeugt,
dass die orange Revolution vom CIA durchgeführt worden ist.

Moderatorin: Eine Stunde tagesschau-Chat ist leider
schon wieder um. Wir bedanken uns bei unseren Usern für die
zahlreichen Fragen und freuen uns, Sie beim nächsten Chat wieder
begrüßen zu dürfen. Herr Rahr, möchten Sie
noch ein Schlusswort an unsere Leser richten?

Alexander Rahr: Ja, ich war sehr überrascht
von dem tiefen Verständnis der russischen Problematik und dem
Interesse an Russland. Ich hatte die Befürchtung dass das Wissen
über Russland längst abhanden gekommen wäre und wir
nur in Mythen und Schablonen über Russland reden würden.
Das war Gott sein Dank nicht der Fall.

Moderatorin: Vielen Dank auch Ihnen, Herr Rahr!
Einen schönen Abend noch wünscht Ihnen tagesschau.de!

Alexander Rahr: Danke!