Ein Coming-Out zu haben, heißt anderen Menschen die eigene Identität oder Sexualität zu offenbaren. Das ist nicht immer einfach und erfordert oft viel Mut und Selbstbewusstsein. Wie die meisten Dinge in unserer Welt hat die Digitalisierung auch diesen Prozess verändert. Durch das Netz ist die Queer-Community vernetzter, zugänglicher und sichtbarer geworden.

Die Entstehung eines Queer-Vokabulars

Informationen zum Thema Coming-Out sind heute nur einen Klick entfernt, während sie in den 80ern oft nur über Bücher oder in der Queer-Kultur bewanderten Freunden zu erlangen waren. Durch den globalen Austausch über das Internet hat sich ein einheitlicheres Vokabular etabliert. Mit diesen Begriffen ist es möglich, sich über die Grenzen von Sexualität und Identität hinweg auszutauschen und verstanden zu werden. Essentieller Teil dieses Vokabular ist der Begriff „Queer“, der bereits mehrfach gefallen ist. Queer ist ein Überbegriff für alle Menschen, die nicht Cis-Hetero sind oder im wörtlichen Sinne die „von der Norm abweichen“. Dieser löst heute Begriffe wie LGBT oder LGBTAQ (Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transsexuell, Asexuell oder Androgyn und Queer oder Questioning) ab, da er alle enthält, ohne einzelne hervorzustellen oder andere auszuschließen. Im Internet lassen sich außerdem kurze Definitionen leicht nachschauen, was z. B. Cis-Gender bedeutet: Das sind Menschen, deren Geschlechtsidentität dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde (wenn diese Menschen heterosexuell sind, sind sie Cis-hetero).  Aber auch lange und ausführliche Artikeln sind zu finden, in denen z.B. erklärt wird, dass man unter Deadname den abgelegten Namen einer trans Person versteht, wie andere respektvoll mit diesem Namen umgehen sollen und es für die trans Personen schlimm ist, wenn sie bei diesem Deadname genannt werden.

Bevor wir uns der Fragen widmen können, wie Digitalisierung das Coming-Out von queeren Menschen beeinflusst hat, muss geklärt werden: Wie war es vor der Digitalisierung sich zu outen? Natürlich ist das Coming-Out ein unglaublich individueller Moment, der durch den eigenen Umgang damit und die Reaktion des Umfeldes geprägt wird. Trotzdem lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichen Coming-Out-Erfahrungsberichten der Interviewten finden.

Coming-Out vor der Digitalisierung

Sich in den 70ern oder 80ern als Queer zu outen, war ein langer Prozess, den die meisten erst mit Mitte 20 oder sogar noch später angingen. Das Label (Name) der eigenen Identität oder Sexualität war oft nicht bekannt oder so negativ belastet, dass man sich damit nicht identifizieren wollte. Zusätzlich war es oft schwierig, die Queer-Szene zu finden und damit Anschluss an die Menschen, die die eigenen Gefühle nachempfinden können. „Gay-Bars“ und Magazine existierten zwar, allerdings im Verborgenen für die, die nicht danach suchten.Ein Weg war es, zu versuchen, über Bekannte etwas herausfinden, was oft mit viel Scham verbunden war. Endlich im Club voller Gleichgesinnter war es das Ziel, sich selbst auszutesten und herauszufinden, wer man ist.

Durch Austausch und Ausprobieren fanden die queeren Menschen in den Clubs und der Szene, die sich darum gebildet hatte, sich selbst. Der erste Schritt war geschafft.
Das Coming-Out gegenüber Familie und Freunden war der nächste Schritt. Sowohl die eigene Unsicherheit, als auch der Widerwillen vieler Familien über Sexualität und Identität zu sprechen, machte es oft zum offenen Geheimnis. Auch damals gab es natürlich Menschen, die ihre Kinder und Vertrauten akzeptierten und liebten auch wenn deren Sexualität oder Identität nicht der gesellschaftlichen Norm entsprach, aber eben auch viele die es nicht taten. In der Öffentlichkeit waren Queers ein Tabuthema, was sich erst über die kommenden Jahre ändern sollte.

Coming-Out heute

Im Kosmos des Internet, genauer gesagt Reddit, hat sich der Ausdruck „Egg“ (Ei) etabliert. Er bezeichnet Menschen, die möglicherweise trans sind, es aber selbst eben noch nicht mit Sicherheit wissen. Metaphorisch wie emotional gesprochen befindet sich ihr wahres Ich oder der Mut dazu zu stehen, gerade noch im Entwicklungsprozess, in dem es die gesellschaftlich erlernte Heteronormativität  (also die Annahme, dass alle Cis-Hetero sind) zu überwinden gilt.

Eins dieser „Eggs“ war auch Mara, als sie sich mit dem Gedanken, vielleicht trans zu sein, einen Twittter-Account erstellte und damit anderen queeren Menschen auf Twitter folgte, mit deren Erlebnissen sie sich identifizieren konnte. Einige folgten zurück und schnell stellte sich ein Zugehörigkeitsgefühl ein. Innerhalb dieser Umgebung wurden offene Fragen aus eigener Erfahrung beantwortet und emotionaler Beistand geleistet. Die Queer-Bubble (Filterblase) fungierte dabei als Safe Space. Außerhalb dieser sicheren Blase existierte immer noch Maras anderer Twitter-Account unter ihrem heutigen Deadname weiter. Nach über einem Jahr offenbarte sie einzelnen ihrer queeren Online-Freunde den Deadname-Account. Die wenigsten von ihnen waren überrascht, im Gegenteil, die meisten kannten und verstanden die Situation nur zu gut. Nach und nach wuchs der Mut, auch Menschen aus dem echten Leben von ihrer Transgeschlechtlichkeit zu erzählen, bis sie schließlich ihr erstes analoges Coming-Out gegenüber ihrer damaligen Freundin hatte. Auf dieses folgten weitere Outings und Mara konnte anfangen, die Frau zu sein, die sie in ihrem Inneren schon ihr ganzes Leben war.

Digitales Coming-Out gegenüber analogem Coming-Out

Speziell die westliche Welt ist gegenüber unterschiedlichen Sexualitäten und Identitäten offener geworden. Das bedeutet aber nicht, dass queere Menschen nicht noch immer mutig sein müssen und nach wie vor Diskriminierung erleben. Die gesellschaftliche Toleranz hat der Queer-Community Raum gegeben sich zu entfalten. Der Wissenschaftler Sam Miles argumentiert trotzdem: „Internet technology has influenced and shaped queer spaces more than any other single factor“( Das Internet hat den queeren Raum mehr geformt, als alle andere Faktoren für sich genommen). Ein Aussage, die sich auch auf das Coming-Out übertragen lässt.

Erste Anschlusspunkte sind durch Suchmaschinen innerhalb weniger Sekunden zu finden. Durch die aufgeschlossenere Gesellschaft sind oft bereits einige queere Sexualitäten und Identitäten bekannt, die dann privat im Internet tiefer verstanden werden können. Die leichte Zugänglichkeit von Informationen erspart jungen queer Menschen viel Angst und Scham.

Das Internet wimmelt heute nur so von queeren Vorbildern, ob Menschen auf Twitter oder Youtuber*innen, und auch in der Fiktion sind, dank Netflix, mittlerweile viele Queer Charaktere zu finden. Diese können queeren Jugendlichen als wichtige Rollenvorbilder dienen, die Orientierung bei der schwierigen Aufgabe bieten, die eigene Identität zu finden und zu akzeptieren. Außerdem kann Repräsentation in Sozialen Medien und Popkultur dabei helfen, die eigene Cis-Heteronormativität (also die Annahme, dass alle Cis-Hetero sind) schneller zu überwinden und sich selbst trotzdem als Teil der Gesellschaft zu verstehen.

Die Sozialen Medien bieten -richtig angewendet- einen sicheren Raum, um sich auszuprobieren. Miles sagt zur Rolle des Internet: „personality becomes fluid, ephemeral and empowering because people can choose how they are represented.“ (Persönlichkeiten werden fließender, vergänglicher und ein Mittel der Ermächtigung, weil die Menschen sich aussuchen können, wie sie sich darstellen. ) Dies trifft auf Soziale Medien zu, da die Nutzer*innen hier selbst entscheiden, wie viel sie von sich preisgeben und welches Label sie für sich verwenden wollen. Diese Anonymität und Selbstbestimmung steht im starken Kontrast zum analogen Raum, in dem Identität und Sexualität oft Fremdzuschreibungen sind, die von cis-heteronormativien Vorstellungen geprägt werden. Diese zu durchbrechen erfordert Mut und birgt das Risiko der Ablehnung oder sogar Gewalt. Im Safe Space der eigenen Online-Bubble können die Queers sich langsam daran gewöhnen, sie selbst zu sein und darin Selbstbewusstsein aufbauen. Die Unterstützung von anderen Queer-Community Mitgliedern stellt sicher, dass man mit keiner Sorge allein zurück bleibt, sei es durch direkten Kontakt oder indirekt durch das öffentliche Ausdiskutieren.

Im Zusammenhang mit Sexualität bieten auch Dating Apps eine Möglichkeit sich auszuprobieren ohne die Angst, die andere Person könnte einen ablehnen, da sich sexuellen Präferenzen vorab festlegen lassen. Die Suche nach einem „Gay-Club“ oder einem Queer- Jugendzentren ist heute, dank Google, leichter denn je. In den Sozialen Medien wird queeren Jugendlichen die Zeit und der Raum gegeben, den sie brauchen, um sich selbst immer mehr zu akzeptieren, bis sie sich letztlich sicher genug fühlen, um ihre Identität oder Sexualität ihren Mitmenschen auch offline mitzuteilen.

Dieses „Sich an sich selbst gewöhnen“ könnte auch offline in einem unterstützenden und vertrauensvollen Umfeld stattfinden. Ein solches zu haben, ist allerdings keine Selbstverständlichkeit. Gerade wenn das nicht gegeben ist oder die Angst auf Seiten des ungeouteten Queers noch zu groß ist, um sich mit jemand persönlich darüber zu unterhalten, können die Sozialen Medien und ihre Queer-Community eine besonders wichtige Rolle einnehmen und vor Isolationsgefühlen schützen. Dies trifft besonders auf junge Queers zu, die in ländlichen Gebieten leben, in denen es keine Infrastruktur wie queere Jugendzentren für sie gibt. Durch Gofundme (Spendenwebsites) und ähnlichen Plattformen ist es außerdem innerhalb der Queer-Community einfacher geworden, Mitgliedern, die aus einem intoleranten Umfeld kommen, gemeinsam finanzielle Hilfe zur Verfügung zu stellen.

Der queere Cyberspace hat anders als die Clubs der 80er kein Einlassalter und auch alternative Pornografie ist heute einfach online verfügbar. Das und weitere gesellschaftliche Faktoren führen dazu, dass die Menschen, die heute ihr Coming-Out haben, dies weitaus früher tun als noch vor 40 Jahren. Das fand eine britische Studie heraus, die ermittelte, dass sich queere Menschen heute ca. 20 Jahre früher outen, als es noch ihre Vorgängergenerationen getan hat. Das Alter beim Coming-Out schwank heute zwischen 15-17 für die Generationen der bis 25-jährigen, wohingegen die Menschen, die heute 60 sind, ihr Coming-Out durchschnittlich mit 37 Jahren hatten. Die Zahlen sind wie die meisten Zahlen, die es zur queeren Menschen gibt, nicht perfekt, da eben nur die erfasst werden können, die sich geoutet haben. Trotzdem zeigen sie einen eindeutigen Trend, an dem auch die Digitalisierung beteiligt ist.

Auch Eltern und andere Vertrauenspersonen von queeren Menschen stehen durch das Internet andere Ressourcen zur Verfügung als zuvor. Heute gibt es auch Vereine, die es sich zum Ziel gemacht haben, Eltern von queeren Kindern zusammen zu bringen, damit sie sich gegenseitig unterstützen können. Einer dieser Vereine ist Trakine , der Aufklärung zum Thema Trans betreibt, sowie trans Kindern und ihren Eltern Beratung zur Verfügung stellt und Mut machen will.

Doch auch nach dem Offline-Coming-Out endet die Hilfe der Soziale Medien nicht. Innerhalb der Bubble werden Erfahrungen über Diskriminierung ausgetauscht und versucht, dagegen vorzugehen oder wenn das nicht möglich ist, zumindest mit guten Ratschlägen und psychischer Unterstützung beizustehen. Die Interviewpartner*innen haben davon berichtet, dass sie innerhalb dieser online Community echte und langjährige Freundschaften geschlossen haben, die ihnen in schwierigen Zeiten sehr geholfen haben. Gleichzeitig werden öffentlich queere Menschen im Netz auch besonders leicht Opfer von Hass, Unverständnis und Trollen.

Im Vergleich zeigt sich, dass die Digitalisierung, die sich hier vor allem in Form des World Wide und Sozialer Medien zeigt, dazu beigetragen hat, physische Grenzen virtuell zu überwinden. Dadurch ermöglicht sie einen ortsunabhängigen Austausch mit der Queer-Community. Gleichzeitig wird eine ständige Verfügbarkeit von Informationen geschaffen, die ohne menschliche Interaktion im Privaten abgerufen werden kann.

Digitalisierung und Queer-Community Building

Die Queer-Community ist nicht erst durch das Internet und die sozialen Medien entstanden, aber sie ist dadurch besser vernetzt, zugänglicher und sichtbarer geworden.

Durch die gute Vernetzung über Soziale Medien profitieren auch Jugendliche außerhalb von großen Ballungsräumen von der Unterstützung der Community. Erfahrungen können nun leichter von Generation zu Generation weitergereichen werden, vor allem in Ländern, in denen keine queere Öffentlichkeit existiert und die Queer-Communities sehr eingeschränkt sind.
Da die Community im Internet sehr offen auftritt und frei über ihre Erfahrungen und ihr Leben spricht, dienen sie nicht nur als Vorbild, sondern setzen durch ihre Sichtbarkeit in den Medien auch einen gesellschaftlichen Normalisierungseffekt in Gang. Dieser führt dazu, dass queere Menschen mehr als ein Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden und weniger stark dazu gezwungen sind Parallelgesellschaften aus zu bilden.
Früher galt es einige Hürden zu überwinden um die Queer-Community zu finden. Heute ist alles nur einen Mausklick entfernt. Diese einfache Zugänglichkeit senkt die innere Überwindung, die queere Jugendliche aufbringen müssen, um sich mit den eigenen Gefühlen bezüglich Sexualität oder Identität zu beschäftigen. Das Internet bietet dafür unendlich viel Material und macht es einfacher, den Kontakt zu anderen queeren Menschen oder Organisationen herzustellen.

Es hat sich also viel verändert: Das Coming-Out ist anders, die Queer-Community an sich ist anders, aber der wichtigste Ratschlag hat sich nicht geändert: Love yourself!

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