Aus der Ferne betrachtet, scheinen die baltischen Staaten recht ähnlich zu sein. Alle sind klein, pfiffig und im Nord-Osten von Europa. Das Internet ist jedoch zunehmend Ausdruck gesellschaftlicher Kontraste.

Welche Rolle spielt das Internet in der Gesellschaft? Fördert es die Geschlossenheit oder trennt es die Individuen? Spiegelt es die Prozesse der Realität wider oder gibt es ihnen eine neue Richtung? In den Baltischen Staaten, Litauen, Lettland und Estland ist das Internet Ausdruck der gesellschaftlichen Kontraste.

In vielen Teilen der Welt betrachtet man die drei Staaten als eine Einheit. Je weiter man von ihnen entfernt ist, desto stärker ist man von deren Ähnlichkeit überzeugt. Doch beim genaueren Hinsehen stößt man neben dem gemeinsamen Schicksal und der geografi-schen Nachbarschaft auf viele grundsätzliche Unterschiede. Ein kleines vielfältiges Europa an der Ostseeküste, geeint durch dessen Diversität.

Wir sind keine Siam-Trillinge

„Wir sind souveräne Staaten“, sagte die lettische Präsidentin Viara Vyke-Freiberga zum Thema Baltische Einheit. Viele Jahrhunderte verschiedener kultureller und religiöser Einflüsse und die Herausbildung unterschiedlicher Wirtschaftssysteme bilden den Hintergrund dieser Aussage. Litauen, Lettland und Estland galten früher als gemeinsamer Kulturraum. Dieses Echo ist bis heute lebendig. Im Gegensatz zu den katholischen Litauern standen Letten und Esten seit vielen Jahrhunderten unter dem Einfluss der deutschen und skandinavischen Protestanten.

Während der zaristischen Besetzung war Riga ein wichtiges industrielles, finanzielles und kuturelles Zentrum des russischen Reiches. Vilnius hingegen hatte nicht einmal regionale wirtschaftliche Bedeutung. Dafür war Vilnius das Herz des Widerstandes gegen die zaristische Regierung im Westen des Imperiums. Die Esten waren immer das kleinste Baltische Volk und stets eng mit ihren finnischen Nachbarn verbunden. In den Baltischen Staaten entwickelten sich verschiedene Arten der Netzgesellschaft.

Die Russen in den Städten sind online

Als ich 1997 das erste Mal Zugang zum Internet hatte, gab es weder in Estland noch in Lettland oder Litauen nationale Netze. Für die User haben sich verschiedene Informationswelten geöffnet. Sie surften durch die englisch- und russischsprachige virtuelle Gemeinde. Diese beiden Tendenzen haben langfristige Auswirkungen auf die Entwicklung der nationalen Netze. Etwa 40 Prozent der lettischen Bevölkerung spricht als Muttersprache Russisch. In Estland sind es etwa 35 Prozent. Berücksichtigt man, dass der Großteil der russischsprachigen Bevölkerung in den Städten lebt, wo das Internet viel stärker verbreitet ist als auf dem Lande, kann man sich vorstellen, wie groß der Anteil der russischsprachigen Internetnutzer in diesen Staaten ist.

United in Diversity

Für das Internet gilt eine feste Regel. Die Popularität eines Internetprojektes ist von den Besucherzahlen abhängig. Die Tatsache, dass ein Großteil der lettischen Internet-Nutzer sich lieber am russischen Netz beteiligte oder das Segment des nationales Netzes daran anschloss, hemmte die Entwicklung von eDemocracy und die Herausbildung eines homogenen nationalen Netzes. Viele Projekte mit den Domains .lv und .ee hätte man anfangs sowohl als Teil des nationalen als auch des russischen Netzes auffassen können.

Erst als die wirtschaftliche Bedeutung des Internets wuchs, versuchte man die beiden Teile in etwas Gemeinsamens einzubinden. Seither sind alle größeren Projekte in zwei Sprachen verfasst. Es lohnt sich schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht, sie nur in estnischer oder nur in lettischer Sprache zu betreiben. Andererseits haben russischsprachige Projekte bessere Startbedingungen und sind deshalb gleichzeitig vom nationalen Netz getrennt. So können sie immer von Usern aus dem russischsprachigen Raum besucht werden. Trotzdem kann man zweisprachige Netze als Kern der nationalen Netze beider Staaten bezeichnen. Damit lässt sich die Zukunft beider Netzwerke verbinden.

Mehrsprachigkeit verbindet die Communities

Die populärsten Portale,
Delfi.lv und
Delfi.ee, sind zweisprachig und der bedeutendste Treffpunkt beider Gemeinden. Auch wenn die lettischen, estnischen und russischen Versionen parallele Welten in einem Raum darstellen, kann man froh sein, dass diese Welten im Internet bereits parallel und nicht mehr nur senkrecht nebeneinander existieren. Das Netz bekommt die gleiche Form wie das reale Leben, wird aber mit unterschiedlichen kulturellen Inhalten gefülllt.

Dabei hält sich Litauen abseits von seinen beiden Nachbarn. In Litauen gibt es keine dominierende Minderheitengruppe. Polen und Russen machen sieben und sechs Prozent der Bevölkerung aus. Im Vergleich zu Lettland, wo die russischsprachige Minderheit auch politisch gut organisiert ist, stellen in Litauen Polen und Russen keine organisatorisch oder politisch geschlossene Einheit dar. Die polnische Minderheit sammelt sich im Südosten des Landes und in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Die meisten Russen leben in der Hafenstadt Kleipeda im Westen, in Vilnius und in der Atomkraftwerkstadt Visaginas. In jedem dieser Orte haben die Minderheiten ganz verschiedene Eigenarten.

Die Ära Delfi

Das litauische Internet entwickelte sich im Vergleich zu den anderen Baltischen Staaten am langsamsten. Auch die Zahl der Internetnutzer war in Litauen am kleinsten. Das russische Internet diente nicht als Katalysator, auch nicht für das russische Segment des litauschen Netzes, da es dieses gar nicht gab. Vor fünf Jahren erschienen die Delfi-Portale, die inzwischen populärsten Seiten der baltischen Staaten. Die litauische Delfi-Version wurde viel weniger besucht und kommentiert. Die Ausgangssituation in Litauen war eine ganz andere als die in Lettland und Estland, wo das Internet auch schon vorher eine größere Öffentlichkeit erreichte.

Internet in Litauen: ein lokaler öffentlicher Raum

Somit entwickelte sich das litauische Netz von vornherein als lokaler öffentlicher Raum, der nur für litauische Bürgerinnen und Bürger von Interesse war. Da die nationalen Minderheiten in Litauen klein sind, machte es aufgrund der normalen menschlichen Beziehungen wenig Sinn, getrennt zu sein. Der Großteil der Internetnutzer ist sehr jung. Sowohl die jungen Polen als auch ihre russischen Altersgenossen sprechen Litauisch. Das Internet wurde für sie zum Mittel, den Litauern nicht nur im Alltagsleben, sondern auch in der Nutzung des gleichen Kultur- und Informationsbereichs näher zu kommen.

Das Internet als Diskussionsarena

Nach und nach entstand in Litauen eine einzigartige Internetarchitektur. Diese besteht in erster Linie aus Nachrichtenportalen, die gleichzeitig Arenen für Diskussionen sind. Das war nur dadurch möglich, dass es keine gesellschaftlichen Vorbehalte gegeneinander gibt.

Feinde findet man überall

Das bedeutet jedoch nicht, dass die litauische Gesellschaft sehr homogen ist. Sie besteht aus vielen, noch kleineren Teilen, die auf ganz andere und noch viel schlimmere Art zu zerreissen drohen.

Diese Trennung durch Kleinigkeiten fordert vom Internet als öffentlichen Raum, Lösungsmöglichkeiten zu formulieren. Deshalb gibt es in Litauen so viele Nachrichtenportale, die zwar gleich organisiert sind, aber verschiedene Ethiknormen haben. In Lettland und Estland herrscht Klarheit darüber, dass Esten, Letten und Russen einander nicht verändern können. In Litauen hat man jedoch die Möglichkeit, sich vom Gegenteil zu überzeugen.

Lokale Portale zeigen Kritik und Uneinigkeit

Es ist rührend, sich gelegentlich die Nachrichtenportale kleinerer Städte anzusehen. Deren Autoren haben meist nichts Anderes im Sinn, als Litauen ihre Ablehnung von etwas und prinzipielle Uneinigkeit zu zeigen. Das es kritische Internetuser, die ihre Ablehnung und ihren Unmut äußern gibt, muss nochmals betont werden, auch wenn ihre Stimmen oft ungehört bleiben.

Spaltung als Motor der gesellschaftlichen Diskussion

Was die Internetentwicklung betrifft wäre es sinnvoller, wenn die Spaltung der Gesellschaft auf konkreten, lösbaren Fragen beruhen würde, die gemeinsam gelöst werden könnten. Man könnte eine solche Spaltung als Motor der gesellschaftlichen Diskussion betrachten. Vielleicht wäre das Internet auch eine Lösung für die Russen und Letten in Riga? Was danach kommt ist ungewiss. In Litauen gibt es schon virtuelle Kämpfe zwischen den Bürgerinnen und Bürgern der einzelnen Großstädte, die um den Titel der besten Stadt ringen. In der Offline-Welt gibt es so etwas nicht.