Der amerikanische Wahl-Krimi dauert an

Eigentlich sind die Demokraten in den Vereinigten Staaten beliebt genug, um selbst mit einem kurz vor der Wahl
verstorbenen Senator in Missouri die Wahl zu
gewinnen. Dennoch entwickelte sich der Einzug in das Weiße Haus zu einem historischen Kopf-an-Kopf Rennen. Bush
wurde schon als Sieger gehandelt und in Texas lies man die Korken knallen, als plötzlich alles wieder offen war.
Gore rief Kollege Bush an, und nahm seine zuvor überbrachten Glückwünsche zurück.

Das Zünglein an der Waage, der Staat Florida, muss, nachdem hier der Sieg erst Gore und dann Bush zugesprochen
wurde, am frühen Morgen erneut ausgezählt werden. Zu knapp war das Ergebnis demzufolge Bush
nur 200 Stimmen vor Gore lag. So dauert die Zitterpartie an und sicher ist bisher nur,
dass die Wahlen zum 43. Präsidenten der Vereinigten Staaten das Land sauber in zwei Hälften gespalten haben.

Bei der Wahl, die Time.com die "verrückteste"
in der Geschichte der Staaten nannte, kann Bush auf die größere Anzahl gewonnener Staaten blicken, wobei Gore
aller Wahrscheinlichkeit nach eine hauchdünne Mehrheit bei den Wählerstimmen verbuchen wird. Bush kann jedoch
als Präsident seine Regierungsarbeit auf einen republikanischen Congress stützten, der zeitgleich gewählt wurde
und darf von dieser Seite mit weniger Widerständen rechnen als sein demokratischer Vorgänger Clinton oder dessen
möglicher Nachfolger Gore.

Während der letzten Wochen hatte Bush in allen Prognosen vor Gore gelegen, mit kleinem Vorsprung aber deutlich.
Dass diese Wahl nicht wie erwartet den knappsten Ausgang seit vierzig Jahren, sondern die dünnste Mehrheit in
der amerikanischen Wahlgeschichte brachte, liegt an Ralph Nader.
Der Kandidat der Green Party sollte gemäß den Hochrechnungen stattliche 4-5% der Stimmen erringen, blieb dann aber doch hinter
den Erwartungen zurück. Die 1-2%, die Nader schließlich verlor, dürften Gore zugute gekommen sein, denn die
Wähler des linksstehenden Nader sind potentielle Gore-Unterstützer.

Als größte Überraschung der Wahl kann die unerwartet hohe Wahlbeteiligung gewertet werden, die mit geschätzten
52 Prozent die Stimmenabgabe bei der letzten Wahl übertraf.
Der Wahlkampf war mit harten Bandagen geführt worden, auch online. Al Gores Team hat nach eigenen Aussagen
40 Millionen Telefonanrufe getätigt und immerhin 30 Millionen e-mails verschickt, im Vergleich zu 50 Millionen
herkömmlichen Briefsendungen. Aus Bushs Wahlkampfkreisen wurde nur bekannt gegeben, man habe mit 70 Millionen
Anrufen geworben und 110 Millionen Briefsendungen auf den Weg gebracht. Eine Ausdifferenzierung nach e-mail und
Briefpost wurde nicht bekann gegeben, es kann aber davon ausgegangen werden, dass das Verhältnis hier ähnlich
wie bei Gore gelagert ist.

Auch die Websites der Kandidaten waren während des Wahlkampfes ein Mittel Image und Infos unter das digital
angebundene Volk zu bringen. Wo Gore vehement auf sein glückliches Familienleben pochte, versuchte Bush mit
Spielen und anderen Gimmicks sein Wahlvolk bei Laune zu halten. Neben diesen Personality-Aspekten bemühten sich
beide Sites um die Einbindung der Wähler durch Online-Kommunikation. Um so erstaunlicher, dass sowohl die beiden
Sites von Bush als auch die von Gore nur sehr verzögert
auf das Wahlergebnis reagierten. Sowohl bei Bush als auch bei Gore flackerte noch am frühen amerikanischen
Morgen die Aufforderung, wählen zu gehen auf den Sites. Keine Spur von Zwischenergebnissen geschweige denn
Endergebnissen, keine Erwähnung des Einsatzes der vielen Wahlhelfer und auch kein Dank an die Wähler. Es war,
als hätten sich die Teams der beiden Kontrahenten atemlos im Fernsehsessel zurückgelehnt und die weitere
Berichterstattung online und offline den klassischen Medien überlassen.

Bei der Online-Berichterstattung der großen US-Sender und Zeitungen hatten Wahlenthusiasten aus Europa mit
geringem Schlafbedürnis mehr Glück. Wie versprochen versorgten CNN,
die Washington Post, das Time Magazine
und die New York Times den Globus mit aktuellen Berichten und
Hochrechnungen. Herausragend hierbei CNN, auf deren Seite der Stimmzähler fast 1:1 mit der Auszählung mitläuft.
Hier kann der Kampf um die Stimmen mitverfolgt werden, bei dem Gore sich mit gut 200.000 Stimmen vor Bush hält.
Dass diese Stimmen der Wähler jedoch nicht unbedingt den Sieg bedeuten müssen, liegt am komplizierten
amerikanischen Wahlsystem, das seit George Washingtons Tagen unverändert Gültigkeit besitzt. Nach diesem
Wahlsystem ist es möglich, dass der Kandidat mit den meisten Stimmen des Volkes trotzdem die Wahl verliert.

Grund für dieses Paradoxon sind die Wahlmänner. In 48 Staaten gibt das Volk seine Stimmen an Wahlmänner,
die dann wiederum den Präsidenten wählen. Dabei fallen automatisch alle Stimmen eines Staates dem überlegenen
Kandidaten zu: the winner takes it all. Da jeder Staat ein unterschiedlich großes Kontingent an Wahlmännern
stellten darf, kann es passieren, dass in einem Staaten zwar in absoluten Zahlen mehr Menschen für Gore
stimmen als in einem anderen, aber dennoch der Staat mit den vielen Gore-Stimmen komplett an die
Bush-Wahlmänner geht. Auf diese Weise ist es möglich, dass der neue Präsident zwar die meisten
Wahlmännerstimmen, nämlich mindestens 271 für sich verbuchen kann und trotzdem der Konkurrent in absoluten
Zahlen mehr Stimmen der Wähler bekommen hat.
Nur die Staaten Nebraska und Maine haben ein Verhältniswahlrecht.

Und dieses verworrene System kann nun eine Präsidenten hervorbringen, der mit einem ganz knappen Vorsprung
bei den Wahlmännern und einer ganz knappen Niederlage bei den Wählerstimmen ein politisch geteiltes Land
regieren wird. Letztlich ist dies bei einem Wahlsieg von Gore noch deutlicher der Fall, da der Demokrat mit
Sicherheit mit einem republikanischen Kongress und Senat wird leben müssen.

Die Wahl wird nun in Florida entschieden, denn die stattlichen 25 Wahlmänner, die es hier zu holen gilt,
werden den Ausschlag geben. Ob sich der zukünftige Präsident dann jedoch als Sieger im eigentlichen Sinne
bezeichnen kann, ist zumindest für Außenstehende eine Frage. Dass er aber regieren wird, steht fest.