Estland ist die europäische Vorzeigenation, wenn es um digitale Infrastruktur geht. In 20 Minuten ein Unternehmen gründen, Behördengänge abwickeln, vom Arzt ein Rezept bekommen – all das ist dort online möglich. Nun sollen auch Ausländer von den innovativen Angeboten profitieren können: Estland führt als erstes Land weltweit die virtuelle Staatsbürgerschaft ein.

In Deutschland wird seit Monaten darüber diskutiert, wer die Kosten für den Breitbandausbau tragen soll und ob es nicht an der Zeit wäre, durch die Abschaffung der Störerhaftung freie WLAN-Hotspots zu fördern. Aus Sicht eines Esten muss all das grotesk wirken, denn in dem baltischen Staat ist ein kostenloser Internetzugang seit fast 15 Jahren ein in der Verfassung festgeschriebenes Grundrecht.
Estland hat sich seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991 nicht umsonst zur hochgelobten Digitalnation entwickelt. Überall im Land zeigen „@Internet“-Schilder“ an, wo ein freier WLAN-Zugang zur Verfügung steht. Behörden, Restaurants und sogar Dorfläden bieten Internet-Terminals für Menschen, die keinen eigenen Computer besitzen, und sogar in Moorgebieten kann man über sein Smartphone mit 3G oder 4G surfen.
Mit Hilfe eines elektronischen Ausweises, dem eID, können estnische Bürger große Teile ihres Alltags online abwickeln. Mit dem eID lassen sich nicht nur Bankgeschäfte online erledigen und Verträge digital unterschreiben, er dient auch als Reisepass, Ticket für Verkehrsmittel und Gesundheitskarte. Ärzte können online Befunde verschicken und neue Rezepte ausstellen, die von den Patienten dann mit ihrem eID direkt in der Apotheke eingelöst werden können. Das erspart besonders alten Menschen unnötige Wege zum Arzt. Und auch vor der Politik macht der digitale Wandel nicht halt: Die estnische Regierung arbeitet papierlos, im Parlament wird per Mausklick abgestimmt und seit dem Jahr 2005 kann sogar online gewählt werden.
Von dieser einzigartigen digitalen Infrastruktur können nun auch Nicht-Esten profitieren, indem sie die virtuelle Staatsbürgerschaft beantragen. Die „E-Residents“ erhalten eine elektronische ID-Karte, mit der sie die gesamte Fülle an Online-Dienstleistungen nutzen können. Nur zur Teilnahme an Wahlen und dem permanenten Aufenthalt im Land berechtigt die virtuelle Staatsbürgerschaft nicht. Für Menschen ohne jegliche Verbindungen zu Estland dürfte die virtuelle Staatsbürgerschaft nur einen geringen Mehrwert haben, Austauschstudenten und Menschen, die sich häufiger im Land aufhalten, könnte sie den Alltag allerdings enorm erleichtern. Vor allem will die estnische Regierung jedoch ausländische Unternehmen anlocken, die von der reduzierten Bürokratie profitieren sollen. Man hofft, dass sich die Zahl der in Estland ansässigen Firmen durch die „E-Residency“ bis 2025 verdoppeln wird.
Der Preis der Effizienz
Stichwort Bürokratieabbau: Eine Steuererklärung zu machen dauert in Estland kaum mehr als fünfzehn Minuten. Damit das möglich wird, werden bei den Steuerbehörden über das ganze Jahre hinweg alle Einkünfte einer Person gespeichert. Das Finanzamt kalkuliert auch gleich Steuernachlässe mit ein, denn Informationen über Ausgaben für Spenden oder laufende Kredite werden von Banken und gemeinnützigen Organisationen ebenfalls automatisch übermittelt. So müssen die Bürger die Angaben in ihrem Online-Steuerformular nur noch überprüfen, bei Bedarf ergänzen und auf „Senden“ klicken. Steuerrückerstattungen erfolgen innerhalb von 48 Stunden – natürlich ebenfalls online.
Was zunächst sehr praktisch klingt, hat auf den zweiten Blick unbehagliche Dimensionen, denn damit dem Bürger eine bereits vorausgefüllte Steuererklärung präsentiert werden kann, bedarf es einer enormen Bündelung von Daten in staatlicher Hand. Bei über 100 Dienstleistungen, die mit dem elektronischen Ausweis genutzt werden können, fallen eine Menge Daten an, die dank dem eID leicht einer bestimmten Person zugeordnet werden könnten. Was, wenn diese Daten in die falschen Hände geraten? Werden Hackern und Geheimdiensten so nicht komplette Personenprofile auf dem Silbertablett serviert? In Deutschland wäre eine derart totale Vernetzung und Preisgabe persönlichster Informationen undenkbar, in Estland hingegen blieben – selbst nach der NSA-Affäre – größere Datenschutzdebatten bisher aus.
Der Angst vor Big Brother versucht die estnische Regierung mit hohen Sicherheitsstandards und Transparenz zu begegnen. Der eID arbeitet mit einer hochentwickelten Verschlüsselung, und zur Nutzung der Karte werden jeweils zwei PIN-Nummern benötigt: eine zur Authentifizierung des Nutzers, die andere zur Bestätigung der Durchführung jeder einzelnen Aktion. Um Datenmissbrauch zu verhindern, können Bürger anders als in Deutschland jederzeit nachvollziehen, wann und von wem ihre Daten abgerufen wurden. Zwar sind seit Einführung des eGovernment-Systems keine größeren Datenschutzvorfälle bekannt geworden, eine Garantie für die Sicherheit des Systems ist das jedoch nicht.
Dass die Abhängigkeit vom Internet, die die Verlagerung fast aller staatlichen Abläufe ins Digitale unweigerlich mit sich bringt, nicht risikolos ist, wurde im Jahr 2007 deutlich. Damals legten Hacker tagelange Websites von Regierungsbehörden, Banken und Medien und damit auch einen Großteil der staatlichen Infrastruktur lahm. Doch auch davon ließ man sich in Estland nicht irritieren und verstärkte lediglich die Bemühungen um die Cybersicherheit.
Ein Modell für Deutschland?
Natürlich sind die Voraussetzungen in Estland nicht mit denen in Deutschland vergleichbar. Der baltische Staat hat gerade einmal 1,3 Millionen Einwohner und musste seine staatlichen Strukturen nach 50 Jahren Sowjetherrschaft komplett neu aufzubauen. In dieser besonderen Situation entschied man sich dazu, großflächig auf Informationstechnologien zu setzen, um die öffentliche Verwaltung möglichst effizient zu gestalten. Doch nicht nur die Ausgangssituation, auch die Stimmung in der Bevölkerung unterscheidet sich eklatant. Während in Estland die digitale Infrastruktur wie selbstverständlich und ohne große Aufregung genutzt wird, dominiert hierzulande Angst die Debatte  um technologische Neuerungen. Natürlich lässt sich darüber diskutieren, ob das estnische Modell für uns überhaupt wünschenswert wäre und wie man verhindern kann, dass der Datenschutz zugunsten von Effizienzsteigerungen vernachlässigt wird. Solche Debatten sind richtig und wichtig. Was wir von Estland jedoch lernen können, ist, dass eine innovative Gestaltung der Digitalisierung ohne eine grundsätzliche Offenheit der Bevölkerung und eine Riege engagierter Politiker, die sich kompetent und vorurteilsfrei mit den Chancen und Risiken des digitalen Wandels auseinandersetzen, nur schwer möglich sein wird. Und wem es in Deutschland zu langsam voran geht, der kann ja nun Este werden – wenigstens virtuell.
Bild: haylee –
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