Foto Ukraine CropWenn es um den Konflikt in der Ukraine geht, sind viele Online-Foren voll von Halbwahrheiten, vereinfachten Sichtweisen und offenen Verschwörungstheorien. Doch dieses Phänomen einfach nur als digitales Grundrauschen abzutun, ist gefährlich. Damit sich vermeintlich alternative Narrative nicht durchsetzen, bedarf es eines kritischen Journalismus – der sich auch vor Selbstkritik nicht scheut.
Vor kurzem erschien auf „Spiegel Online“ ein Beitrag von Christian Neef – langjähriger Russland-Korrespondent des „Spiegels“ – zur Ukraine-Krise, in welchem der Autor mehr Sachlichkeit in der deutschen Debatte anmahnte. Dabei bezog sich Neef weder auf die mediale noch die politische Debatte. Es ging ihm vielmehr um einen oft vergessenen Akteur: den Leser.
Im digitalen Zeitalter ist dieser nicht mehr nur Rezipient, sondern oft auch Kommentator und Multiplikator. Große Online-Medien wie der „Spiegel“ bieten zu fast jedem Artikel ein Forum an, in welchem jeder x-beliebige Leser nach einem kurzen Anmeldeverfahren seine Meinung kundtun kann. Über Twitter oder Facebook können einzelne Artikel geteilt und geliked sowie, mit einem kurzen Kommentar versehen, an die eigenen Follower weitergegeben werden. Parallel zum Artikel entsteht somit eine Meta-Debatte, die sich in puncto Geschwindigkeit, Reichweite und Partizipation grundsätzlich vom traditionellen Trägermedium des Leserbriefs unterscheidet.

„Kriegstreiber“ und „Gewaltverbrecher“

Nicht verwunderlich, sind solche Debatten oft wenig fundiert und geben häufig Allgemeinplätzen oder kruden Theorien Raum. Dies ist nur logisch. Hier spricht der bundesdeutsche Normalbürger, und das soll er auch.
Wie Neef nun mit Sorge bemerkt, zeige sich in der Debatte um Russland und die Ukraine-Krise ein „verstörender Ton“ in den an ihn gerichteten Leserbriefen. Während einige schäumen, der Spiegel betreibe „die Kriegsvorbereitung gewisser Ostküsten-Kreise“, verfallen andere in finstersten Duktus und warnen vor den „asiatischen Steppenhorden unter der Führung des Gewaltverbrechers Putin“.
Nur wenige Tage vor Neefs Artikel hatte sich die „Spiegel“-Redaktion bereits einmal genötigt gefühlt, den eigenen Lesern den Titel von Heft 31/2014 „Stoppt Putin jetzt!“ zu erklären. Vorwürfe, das Titelbild sei „kriegstreiberisch“, seien eine „absurde Behauptung“, so die Klarstellung in eigener Sache.
Nun könnte man durchaus eine gewisse Nonchalance an den Tag legen und die zahllosen Wortmeldungen unter dem Deckmantel der Anonymität geflissentlich als digitales Grundrauschen ignorieren. Jeder, der sich schon einmal die Mühe gemacht hat, die Foren diverser Online-Medien zu durchforsten, kennt das Phänomen des so genannten „Foren-Trolls“, die umgangssprachliche Beschreibung eines Menschen, der zum eigenen Vergnügen kontroverse Ansichten verbreitet und entstehende Debatten bewusst stört – ein Phänomen des digitalen Zeitalters, das sich eben nur mit der (fast) gesicherten Anonymität und der technisch unkomplizierten Möglichkeit zur schnellen Interaktion erklären lässt. Es bleibt jedoch die Frage: Woher kommt die plötzliche Leserwut?

Ausmaß und Argumentation sind erschreckend

Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise sind neben den oftmals zynisch bis hetzerisch anmutenden Forenbeiträgen zunächst vor allem zwei Aspekte bedenklich. Zum einen erstaunt das Ausmaß der digitalen Störfeuer aus zweiter Reihe. Ein kurzer Blick in diverse Foren anderer großer Online-Medien genügt, um sich ein Bild zu machen. So unterstellt ein Leser der „FAZ“-Online-Ausgabe der NATO das Ziel einer Rückeroberung der Krim und schlussfolgert: „Man muss eigentlich davon ausgehen, dass das von Anfang an so geplant war“. Ein Forist der „Süddeutschen Zeitung“ stellt fest: „Die Politiker-Pudel folgen brav den USA-Kampfhunden […]. Die Medien trommeln brav für den Krieg.“ Auf dem Online-Portal der „Frankfurter Rundschau“ hetzt ein Forenbeitrag gegen eine „korrupte [russische] Regierung mit faschistischen Neigungen“.
Zum anderen zeigen die oftmals inhaltlich völlig konträr laufenden Weltsichten ein verstörendes Maß an vorurteilsbehafteter Eindimensionalität. Dabei lassen sich vor allem drei übergeordnete Narrative ausmachen. Erstens, die USA seien ein stetiger Kriegstreiber, der nur eigene Interessen verfolge und Russland auf Kosten der EU (erwünschter Nebeneffekt) auf die Knie zwingen wolle. Zweitens, Deutschland sei der (oben erwähnte) Pudel der Amerikaner und weder willens noch fähig, eine eigenständige Politik zu verfolgen. Drittens, Putin (und mit ihm Russland) stehe fern jeglicher westlicher Werte und verstehe nur die eigene Sprache der Drohung.

Die Sehnsucht nach einfachen Erklärungen

Solche Meinungsäußerungen drücken zunächst nur ein nicht mehr einzulösendes Grundbedürfnis nach Simplizität aus. Ließen sich die groben Strukturen des 20. Jahrhunderts über weite Strecken noch deutlich einfacher erklären – „Faschisten versus Befreier“, „Kommunismus versus freie Welt“ –, ist das multipolare 21. Jahrhundert mit seinen vielfachen komplexen Interdependenzen vor allem eines: grau. Diese Komplexität entzieht sich dem Wunsch nach einfachen Erklärungen und trägt zur Kakophonie vieler politischer Debatten maßgeblich bei. Zur horizontalen Komplexität kommt dann noch die vertikale Verstärkung einzelner Ereignisse durch die mediale Berichterstattung. Im Falle der Ukraine-Krise wird der interessierte Leser täglich mit einer nicht mehr zu bewältigenden Fülle von Artikeln, Meinungsäußerungen, Interviews, Video-Clips und Tweets überfordert. Es entsteht der Eindruck einer bedrohlichen Singularität der Ereignisse.

Die beliebten Netz-Thesen sind schnell entkräftet

Wie komplex die einzelnen Handlungszusammenhänge rund um die Ukraine sind, zeigt eine kurze Auseinandersetzung mit den Kernthesen der erbosten Online-Community.
So stimmt es zunächst, dass die USA und die NATO eine ganze Reihe fragwürdiger Entscheidungen im Umgang mit Russland getroffen haben. Reinhard Mutz hat in einem exzellenten Artikel die teils zweifelhafte Politik des Westens nachgezeichnet 1. Diese reicht vom NATO-Beitrittsversprechen an Georgien und die Ukraine über die Aufkündigung des stabilisierenden Vertrags zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) durch Washington im Jahr 2002 bis zur umstrittenen Anerkennung des Kosovo. Gerade letzter Fall wird im Zusammenhang mit der Krim von Amerika-Kritikern gern als Beispiel für so genannte „double standards“ herangezogen. Dabei wird gern vergessen, dass der Bevölkerung des Kosovo deutlich mehr Zeit für die eigene und freie Entscheidungsfindung eingeräumt wurde als auf der Krim 2.
Gleichwohl können die Fehler des Westens weder als alleiniges Erklärungsmuster für die strukturellen Defizite Russlands in den Bereichen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder verantwortungsbewusste Regierungsführung herhalten, noch eignet sich Moskaus Streben nach exklusiven Einflusszonen entlang der russischen Peripherie zur Umdeutung in eine präventive russische Antwort auf vermeintliche geopolitische Ambitionen Washingtons. Auch wird in den aufgeheizten Leserdebatten gern übersehen, dass die USA durchaus mäßigende Schritte unternehmen, um ein Übergreifen der Krise auf deutlich prekärer anmutende Interdependenzen zu verhindern. So reagierte Washington auf die wahrscheinliche Verletzung eines Vertrags zur Begrenzung nuklearer Trägersysteme durch Russland zunächst nur durch eine Politik des öffentlichen „blaming and shaming“ und nicht, wie von manchen konservativen U.S.-Hardlinern gefordert, mit der sofortigen Aufkündigung des Vertrags.

Die deutsche Rolle im Ukraine-Konflikt

Für das politische Berlin wiederum gilt, dass die meisten deutschen Initiativen im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise auf einem Level der „low visibility“ stattfinden und sich auf Grund ihres vertraulichen Charakters per se eher schlecht für die tägliche mediale Berichterstattung eignen. In einer Phase, in der Washington und Moskau (fast) nicht mehr direkt miteinander kommunizieren, kommt der deutschen Außenpolitik eine zentrale vermittelnde Rolle zu. Diese Anforderung erfüllt die Bundesregierung bisher sowohl mittels bilateraler Gesprächskanäle, als auch auf multilateraler Ebene, vor allem im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Sie steht damit in der Tradition der Ostpolitik, die seit jeher deutsche Interessen zu einem Kernanliegen gemacht hat.
All diese komplexen Zusammenhänge lassen sich nur schwierig und mit einem hohen Maß an Differenziertheit vermitteln. Sie eignen sich nicht für vereinfachende Schlagworte oder virtuelle Stammtischparolen. Die bundesdeutsche Medienlandschaft und die Berliner Politik stehen somit vor der mühsamen Aufgabe, den Bürgern überzeugend und verständlich zu erklären, warum wirtschaftliche Sanktionen, die auch Deutschland schaden, zum jetzigen Zeitpunkt geboten sind, und wie eine positive Exit-Strategie aus der sich verschärfenden Krise für alle Seiten aussehen könnte. Diese Aufgabe wird von nicht unerheblicher Bedeutung sein. Der plumpe Hinweis der „Spiegel“-Redaktion in eigener Sache, dass die Forderung nach Sanktionen gegen Russland „der veränderten Haltung der Bundesregierung“ entspreche, ist ein gutes Beispiel, wie man es nicht macht.

Klassische Institutionen müssen Vertrauen zurückgewinnen

Die Scharfzüngigkeit mancher anonymer Kommentatoren im Netz verweist nämlich noch auf einen dritten wichtigen Aspekt. Die kritisch bis ablehnende Haltung gegenüber traditionellen Institutionen wie Politik und Medien speist sich auch aus einem wachsenden Misstrauen. Den Erklärungsmustern etablierter Medien werden immer häufiger alternative „Wahrheiten“ entgegengehalten. Wer die Suchwörter „Russland“, „Ukraine“ und „die Wahrheit“ bei Google eingibt, bekommt eine Fülle absurder Theorien unter dem Deckmantel der Information angeboten. Während Politikverdrossenheit und Entfremdung von den politischen Eliten des Landes bekannte Phänomene sind, ist die zunehmende Abkehr von den etablierten Medien durchaus signifikant für das digitale Zeitalter. Den Menschen in Platons Höhlengleichnis nicht unähnlich, scheinen manche Vertreter des „homo digitalis“ die mediale Großberichterstattung lediglich als Schatten einer fiktiven Realität wahrnehmen zu wollen. Die Enthüllungen Edward Snowdens und die damit verbundene scheinbare Enttarnung einer gefühlten Parallelrealität haben dazu genauso beigetragen wie die potenzielle Fähigkeit des modernen Individuums, mittels des eigenen Youtube-Kanals oder per Blog die private Meinung auf die öffentliche Bühne zu heben und auf bisher ungekannte Weise zu multiplizieren.
Aus der modernen Philologie ist hinlänglich bekannt, dass durch den Prozess der Rezeption die textuelle Basis neu erschaffen wird. Und hier liegt die eigentliche Gefahr der digitalen Hysterie: Frei nach dem Motto „steter Tropfen höhlt den Stein“ könnten sich Alternativnarrative im digitalen Raum etablieren und, über Zeit, Gültigkeit für sich beanspruchen. Auch so entsteht öffentliche Meinung.
Für die bundesdeutschen Medien gilt daher weiterhin: Nur Sachlichkeit, maßvoller Tenor, kritisch-investigativer Journalismus und der stete Wille zur verständlichen politischen Kommunikation können helfen, die Debatte zu entschärfen. Der eingeschlagene Weg des „Spiegels“, mit den eigenen Lesern in Dialog zu treten, ist deshalb ein richtiger und notwendiger Schritt. Es ist jedoch nur ein erster Schritt. Auch kritische Selbstreflexion und die Erkenntnis, dass sich Qualitätsjournalismus weniger durch Quantität und kurze Reaktionszeit auszeichnet, sollten dazugehören.
1 „Die Krim-Krise und der Wortbruch des Westens“ von Reinhard Mutz in „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (4/2014), S. 5-10.
2 Vgl. „Crimea and the International Legal Order“ von William W. Burke-White in „Survival“ (56: 4), S. 65-80.
Foto: Sascha Maksymenko
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