Erst bilden sich überall kleine Klick-Pfützen. Schon zur Mittagspause meldet das erste Ressort statistisches Hochwasser. Und bis zum Ende des Tages vereinen sich die Top-Story und ihre zahlreichen Hintergrundartikel und Foto-Serien zu einem gewaltigen PI-Strom, der sich auf direktem Wege in die nächste Redaktionskonferenz ergießt.

Seit zehn Jahren regnet es unablässlich Page Impressions auf die online-journalistischen Angebote Deutschlands nieder. Täglich, monatlich, jährlich immer mehr und besonders oft so viel wie noch nie. Gemessen wurden die Niederschläge schon immer. Vor allem immer genauer Nur landeten die Wetterdaten lange Zeit mit einiger Verspätung auf dem Tisch des Redakteurs.

Gegen Ende der ersten Dekade ihrer Arbeit halten immer modernere Messungstools Einzug in die Online-Redaktionsräume. Da stellen kleine bunte Kästchen Teaser dar, wechseln im Minutentakt ihre Farbe und bilden so etwas wie die digitale Landkarte der Portal-Startseite. In den Kästchen wiederum wuseln Zahlenkolonnen umher. So, als würden sie den Puls der im Teaser verlinkten Story messen. Um hier zu überleben, braucht man keine gute Kondition. Man braucht einen guten Start.

In Zeiten der Realtime-Quoten muss der komplette Teaser auf Anhieb stimmen, das Bild Aufmerksamkeit anziehen und der Text zum Klicken verlocken, wenn der Online-Redakteur eine neue Geschichte ins Rennen um die Gunst der User schickt. Gehen die Abrufszahlen in den Keller, wird die Geschichte entweder ausgetauscht oder der Teaser „veredelt“. Tilman Aretz von der Nachrichtenmanufaktur (produziert den
n-tv.de-Webauftritt) fordert dann Schlagzeilen, die „griffiger, emotionaler, überraschender und irritierender“ sind. „Wenn wir der Meinung sind, dass wir optimierenkönnen, tun wir das“, stimmt Oliver Eckert, Redaktionsleiter bei
bild.t-online.de, zu. Neben den Headlines „überdenken und überarbeiten wir auch die Bildsprache“, um ein Thema dem User „einfacher und ansprechender zu präsentieren“.

In der Redaktion von
sueddeutsche.de gibt es die Echtzeit-Messung erst in einigen Wochen. Chefredakteur Helmut Martin-Jung verspricht sich davon, „besser auf das reagieren zu können, was die Leser interessiert“. Allerdings wolle er sich „nicht allein davon leiten lassen“, sondern es „nur als zusätzliche Hilfe“ verwenden. „Sonst könnten wir Scharon und Konsorten ja von Haus aus ausblenden, denn die werden halt wenig geklickt.“ Ähnlich wie Aretz, würde Martin-Jung eine Überschrift nachträglich ändern. Er kritisiert gleichzeitig aber die Gefahr der zunehmenden Boulevardisierung: „Es ist eben so primitiv. Wenn nur das Wort Sex in der Überschrift auftaucht, dann wird der Artikel schon doppelt so oft geklickt.“ Die technische Neuerung in der eigenen Redaktion sei „Segen und Fluch zugleich“, so wie in „praktisch allen Medien, in denen man unmittelbar die Quote feststellen kann.“

„Wir orientieren uns am täglichen Rhythmus, in der Rückschau auf den vergangenen Tag“, erklärt Michael Maier den Umgang mit den Klickzahlen bei der
Netzeitung. Für Nachbesserungen an Teasern „nur nach journalistischen Kriterien“ gäbe es genügend „handwerkliche Erfahrungswerte“. Dennoch: „Jeder Journalist ist sein eigener Blattmacher geworden“, schätzt Maier die Auswirkungen dieser neuen Transparenz des Nutzerverhaltens auf die Redaktionsarbeit ein. Er warnt aber auch vor Leichtfertigkeit angesichts der Verantwortung. In einigen Portalen von Internetprovidern seien ihm oft “Pseudomeldungen begegnet, wo man schon riecht, dass sie aufgeblasen und marktschreierisch sind.“

Klicks gegen den Kostendruck

Doch die Zähltools alleine lassen noch keine Überschrift reißerischer, kein Teaserbild aufwühlender werden. Sueddeutsche.de-Chefredakteur Helmut Martin-Jung macht vor allem wirtschaftliche Faktoren dafür verantwortlich, dass Medienunternehmen im Internet wie sonst nirgendwo auf die Quote schauen. „Alle Online-Angebote stehen unter dem Druck zu beweisen, dass sie kostendeckend sein können.“ Die Möglichkeiten, die Zahlen zu verbessern, nutze man eben – so gut es gehe – aus. „Es ist der Zwang, Erfolg zu haben“.

Doch dieser Erfolg definiert sich nicht etwa über einen hohen Anteil an eigenen Geschichten, exklusiven Korrespondenten-Berichten oder multimedial vorbildlich aufbereiteten Artikeln. Am Ende stehen die Anbieter mit der größten Erotikdatenbank im Hintergrund ja doch wieder ganz vorne im Reichweiten-Ranking. Ausgedehnte Bilder-Serien stehen an jeder Ecke bereit zum nutzerinduzierten Durchklicken, winzig kleine Service-Themen werden in noch kleinere Informationshäppchen zerstückelt, plattes Entertainment kommt mit Foto-Galerien der besten fünf, schnellsten zehn oder reichsten 50 einer Gattung aus – wenn schon nicht das „Was“, so wird doch in Zukunft immerhin das „Wo“ eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung des onlinejournalistischen Erfolgs von

Portalen spielen.

Neues Messverfahren

„Dem Markt sollen transparentere Daten verschafft werden.“ So trägt die Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) dem Wunsch der Werbewirtschaft nach differenzierterer Auskunft über die Seitenabrufe in Zukunft Rechung. Jörg Bungartz, bei der IVW zuständig für den Online-Bereich, erklärt die Gründe für die Einführung eines neuen Zählsystems: „Bisher wurden nur die Gesamtdaten veröffentlicht. Wer aber in den einzelnen Rubriken der Stärkste ist, kam bislang nicht deutlich hervor.“ Seit September gilt nun ein Katalogisierungssystem, pünktlich zum zehnten Geburtstag des Onlinejournalismus, dass „den neuen Charakter des Online-Mediums wiederspiegelt“.

Das Aus der Klickmaschinen? Im Gegenteil: Wieso sollten nicht auch Foto-Serien durch die Bedeutungsverringerung der PageImpressions endlich die journalistische Daseinsberechtigung erhalten, die ihnen schon immer zustand. Denn sie haben nun nicht länger maßgeblichen Anteil an der Bewertung der journalistischen Qualität eines Angebotes auf der Basis nackter Abrufszahlen. „Die Währung der Zukunft werden Visits bleiben“, wagt Bungartz eine Prognose trotz der zunehmend erschwerten Messbarkeit durch Cookie-resistente Internetsurfer. Andere Messverfahren setzen auf weichere, weniger genau zu bestimmende Faktoren wie die Verweildauer eines Nutzers im Portal.

Der Onlinejournalismus in Deutschland hat zehn Boom-Jahre hinter sich und stößt vielleicht schon bald an seine mittelfristigen PI-Grenzen. Spiegel Online-Redakteur Frank Patalong prophezeite erst kürzlich auf einer Frankfurter Tagung, dass die Leserzahlen von
Spiegel Online durch einen täglichen Mehrausstoß von Meldungen kaum mehr zu steigern seien. Vielmehr ginge es nun darum, die Qualität des Vorhandenen zu verbessern.

Doch was hat die Statistiken explodieren lassen? Cicero-Redakteur Peter Littger kritisierte in seinem Artikel „Die Bild der Zukunft“, die Online-Redakteurstätigkeit stünde unter großem Einfluss einer ausgereiften Aufmerksamkeitsökonomie. Boulevardthemen gehörten nun einmal zum normalen Nachrichtenpektrum, entschuldigt sich der Berufsstand. „Am Ende kommt es auf die Mischung an“, sagt Spiegel Online-Chef Mathias Müller von Blumencron. Das sagt aber auch Oliver Eckert, der
bild.de bestückt. Klar,
Spiegel Online schiebt eher

selten mal ein reines Boulevardthema auf den Sonnenplatz der Startseite, als Aufmacher ganz nach vorne.

Sonnenplatz? Pardon, Schlechtwetterzone. Denn im „sichtbaren Bereich“ einer Seite entladen sich erfahrungsgemäß die heftigsten Klickgewitter. Der Onlinejournalist hat sich daran gewöhnt. Auch in Zukunft wird er dem Druck der niederprasselnden Quoten mit allen Konsequenzen ausgesetzt sein.