von André GorzNeoliberale und Keynesianer streiten sich über den Weg, der zu beschreiten ist, um Vollbeschäftigung wiederherzustellen. In der Öffentlichkeit weitgehend Tabu ist hingegen die These vom “Ende der Arbeit”, die zum einen besagt, dass das Arbeitsvolumen der Industriegesellschaften dauerhaft sinkt und sinken wird, und zum anderen, dass die Art der Arbeitsplätz zu mehr Flexibilität tendiert (befristete Stellen, Zeitarbeit, Minijobs, Projektarbeit, neue Selbständigkeit).
Die Rarifizierung der Arbeit ist ganz im Interesse der Unternehmen, da sie deren Verhandlungsmacht erhöht, und dies nicht nur, wenn es um die Löhne und Gehälter der Beschäftigten geht. Was leistet die klassische Lohnarbeit für die Beschäftigten? Zuerst einmal gibt sie ihnen Lohn und sichert damit ihren Lebensunterhalt, und dies auch indirekt durch Einbindung in die an die Arbeit gekoppelten sozialen Sicherungssysteme. Zum anderen schafft Arbeit die Gelegenheit, andere Menschen zu treffen, stellt Bindungen zu ihnen her, verschafft dem Arbeitenden Anerkennung und auch die Möglichkeit, sich mit anderen zu messen. Schließlich ist für manche Menschen Arbeit der Ort, an dem sie ihre Ideen und Anliegen verwirklichen können, sie also auf weitgehend freie Weise schöpferisch tätig sein können. Nennen wir diese drei Funktionen der Einfachheit halber die finanzielle, die soziale und die schöpferische Funktion der Arbeit. Obgleich immer mehr Menschen Wissensarbeiter sind und moderne Konzepte betrieblicher Organisation den Beschäftigten mehr Autonomie einräumen, haben nur wenige Arbeitende die Chance, ihre Arbeit als wirklich schöpferisch und damit befriedigend zu erleben. Für Gorz ist dies nicht einfach die Folge betrieblicher Organisationsformen, sondern eine Frage desRahmens: auf Grund der Verwertungsinteressen des Kapitals wird nur Arbeit angeboten, deren Produkte profitabel vermarktet werden können. Der Freiheit der Arbeitenden sind so enge Schranken gesetzt, wodurch es für die meisten eben nicht zur Zufriedenheit mit der Arbeit kommen kann. Die soziale Funktion wiederum der Arbeit ist nicht der Lohnarbeit im speziellen eigen, sondern der menschlichen Tätigkeit, also auch der “Arbeit” im Ehrenamt, im eigenen Haushalt oder im Sport.
Grundsätzlich gibt es zwei Konzepte, wie das große Bedürfnis nach Familienarbeit und nach sozialen und politischen Tätigkeiten befriedigt und das Angebot auf dem Arbeitsmarkt offenbar überzähliger Talente nutzbar gemacht werden können: Zum einen können, so sehen Vorschläge z. B. des Soziologen Ulrich Beck oder der Manager Giarini und Liedtke vor, diese Tätigkeiten der herkömmlichen Lohnarbeit ganz oder teilweise gleichgestellt, d.h. aus Mitteln der Allgemeinheit bezahlt werden. Gorz lehnt dieses für ihn “koloniale” Ausgreifen der Lohnarbeit in andere Sektoren des menschlichen Lebens, in denen der Sinn der Tätigkeit und der Spaß an ihr Motivation genug sind, ab. Statt dessen schlägt er ein an keine Bedingung gekoppeltes Bürgergeld vor, das so bemessen sein sollte, dass es ein lebenswertes Leben ermöglicht. Jeder Bürger könne davon leben und sich zusätzliche Lebensqualität verschaffen durch Eigenarbeit (eigener Garten, selbst durchgeführte Reparaturen), durch Nachbarschaftshilfe oder die Teilnahme an Tauschringen. Jeder hätte dann die Chance, sich selbst in der gewonnenen Zeit durch von ihm frei gewählte soziale, politische und schöpferische Tätigkeiten frei zu entfalten.
Gorz weiß, dass seine Vorschläge von vielen als Utopien bezeichnet werden, doch sieht er darin keinen Nachteil,denn er betrachtet Utopien als Vorstellungen, die die Realität transformieren sollen und können. Was er aber offenbar unterschätzt, sind die Widerstände, die einem Eckpunkt seiner Pläne, nämlich der Einführung eines existenzsichernden an keine Bedingungen geknüpften Bürgergeldes entgegengebracht werden. Zwar haben es Arbeitgeber und Konservative nicht geschafft, Arbeitslose in den Augen der Mehrheit der Deutschen als Faulenzer zu diffamieren, doch steht es für den Rezensenten außer Frage, dass viele arbeitende Menschen das bedingungslose Grundeinkommen als ungerecht empfinden und ablehnen würden, ganz zu schweigen von den hohen Kosten dieser Reform. Wohlgemerkt: Gorz\’ Ziel – die Tätigkeitsgesellschaft – ist richtig. Er steht damit ja auch keineswegs allein da: fortschrittliche Manager, Sozialforscher und Pädagogen plädieren wie er für dieses Leitbild der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Doch es ist wohl geschickter und besser finanzierbar, mit derVerteilung der vorhandenen Arbeit anzufangen, d.h. auf die Lebens- und Leistungslust der jetzt vollzeit Arbeitenden zu bauen. Man könnte jedem Arbeitnehmer z. B. ein verbrieftes Recht auf eine Stundenreduzierung einräumen, wenn das lokale Arbeitsamt mindestens drei Arbeitslose mit ähnlicher Qualifikation seinem Arbeitgeber als Ersatz vorschlagen kann. Oder den Arbeitenden wird ein Recht auf lange Bildungsurlaube oder Sabbatjahre eingeräumt. Während dieser Abwesenheitszeiten vertreten Arbeitslose die Beschäftigten. So funktioniert es mit Erfolg in Dänemark. Arbeitgeber und Gewerkschaften könnten sich auch – unter dem Druck der Öffentlichkeit und der Politik – verpflichten, Produktivitätszuwächse in Zukunft ausschließlich in Arbeitszeitverkürzungen umzusetzen. Es ist bekannt,daß Arbeitszeitverkürzungen zu Produktivitätssteigerungen führen, so dass vermutlich ein für alle Seiten sehr segensreicher Kreislauf aus sich selbst verstärkendenArbeitszeitverkürzungen und Produktivitätssteigerungen entstehen würde. Das neue Wohlstandsmodell dafür steht bereit: der Zeitwohlstand.
Fazit: Gorz\’ Buch ist gedankenreich, ohne unnötige Rücksichtnahmen und im besten Sinne visionär. Freiheit, Würde und Glück des arbeitenden Menschen stehen im Mittelpunkt von Gorz\’ Denken. Kleine Schwächen, wie etwa seine allzu positive Einschätzung des bisher auch nach dessen eigener Einschätzung mehr in der Theorie als in der Praxis fruchtbaren Wirkens des deutsch-amerikanischen Professors F. Bergmann (“New Work”), fallen nicht ins Gewicht. Frankreich, die Wahlheimat des vor den Nationalsozialisten geflüchteten Wieners Gorz, bietet wohl zur Zeit das beste Experimentierfeld für die Zukunft der Arbeit, da dort nicht nur innovativ gedacht, sondern auch gehandelt wird. Die Erfolge können sich sehen lassen: Auch wenn man die staatlich geschaffenen Jobs für Jugendliche (Emplois jeunes) nicht mitzählt, wurden dort 1999 454.00 neue Stellen geschaffen (Le Monde vom 20.05.2000). In den letzten 35 Jahren wurde nur einmal, nämlich 1969 eine annähernd so hohe Zahl neuer Stellen in einem Jahr geschaffen. Und ungefähr ein Drittel dieser Stellen geht nach amtlicher Darstellung zurück auf die gesetzliche Einführung der 35-Stundenwoche. Wie peinliche wirkt da der Kommentar mancher deutscher Journalisten, beispielsweise die Aussage des FAZ-Journalisten Barbier im sonntäglichen ARD-Presseclub, dass Frankreich sich auf eine Rezession einstellen müsse als Folge der Umsetzung der 35-Stundenwoche.