DatennetzViel wurde geschrieben und wenig bewegt. Die Debatte um das massenhafte Sammeln und Auswerten von Daten kennt viele Schlagwörter, Befürchtungen und Forderungen. In den letzten Jahren nahm auch die Zahl der Anwendungsbeispiele von „Big Data“ vehement zu – und dennoch fehlt es weiterhin an einer klaren politischen Linie oder Verortung. Angesichts der Risiken für unsere politische und persönliche Freiheit wäre dies allerdings wichtig, um die notwendigen Rahmenbedingungen für eine verantwortliche und nachhaltige Nutzung der Informationsfülle zu schaffen.
Bis zum Jahr 2020 könnte sich das weltweite Datenaufkommen pro Jahr mehr als verachtfachen. Bereits jetzt ist die Menge an Bytes, die durch unsere tagtägliche Internetnutzung entstehen, kaum mehr zu fassen. 2011 entsprach die Fülle an Informationen beispielsweise in etwa der Länge von 200 Billionen Filmen. Die Zahlen legen nahe, dass die aktuell hitzig geführte Debatte über die Speicherung und Nutzung der immensen Datenmengen im Netz durch private wie staatliche Akteure wohl eine der zentralen Weichenstellungen unserer Zeit ist. Denn, so formulierte es Katharina Nocun in einem Gastbeitrag auf politik-digital.de: „Wo Daten sind, entstehen schnell Begehrlichkeiten“.
Auch auf der heute in Berlin beginnenden Medienkonferenz re:publica 14 wird der Themenkomplex ausgiebig behandelt, und es wird über Zukunftsszenarien und  die negativen Nebeneffekte intensiver Datenerhebung und -analysen diskutiert werden. So wird beispielsweise der Jurist und Buchautor Viktor Mayer-Schönberger über die ethischen Grenzen von Big Data referieren. Das Spiel „Data-Dealer“, das den Nutzer dazu einlädt, sich auf spielerische Art und Weise mit dem Thema auseinanderzusetzen, wird auf dem Festival vorgestellt und bietet einen guten Einblick in das Geschäft mit unseren persönlichen Informationen. Die Ankündigungen lassen vermuten, dass viele der Vorträge sich kritisch mit Big Data auseinandersetzen werden, und dennoch scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass sich weniger die Frage des „Ob“, als vielmehr die Frage des  „Wie und unter welchen Voraussetzungen“ stellt, denn Big Data ist längst Realität.

Alles eine Frage der Berechnung?

Daten werden nicht nur in unermesslichem Ausmaß produziert, sie werden auch zunehmend miteinander vernetzt. So können sie gleichermaßen zum Instrument der staatlichen Überwachung und Kontrolle werden, wie sie der ökonomischem Gewinnmaximierung oder der Optimierung unserer Sozialsysteme dienen. Sie erhöhen die Vorhersehbarkeit in Lebensbereichen, die sich unserer Kontrolle bislang weitgehend entziehen: Gesundheit, Konsum, Verkehr, Kriminalität, Sozialverhalten –  jüngst wies der Branchenverband Bitkom in einem Big Data-Leitfaden darauf hin und pries die Chancen des Datenmanagements für unsere Gesellschaft an. Die Hoffnungen stützen sich auf an Daten ausgerichtete Versorgungsleistungen: Versicherungen und Medikamente, Produktion und Logistik, Sicherheit und Staatsgewalt, etc.
So sollen zum Beispiel Verbrechen durch Predictive Policing noch vor ihrem Eintreten vorhergesehen werden. Mitglieder statistisch auffälliger Bevölkerungsgruppen würden auf diese Weise mehr und mehr in den Fokus der Polizeiarbeit geraten und stigmatisiert werden. Andererseits könnte die großflächige Analyse medizinischer Daten auch Leben retten, worauf ein Bericht der Huffington Post jüngst hinwies. Vor allem die Früherkennung und Diagnose von Krankheiten könnte verbessert werden, aber auch Therapien genauer abgestimmt und Fehler leichter vermieden werden. Das Projekt care.data will die medizinische Versorgung und Forschung in England auf diese Weise optimieren, doch bereits jetzt steht die Datenbank in der Kritik, die Anonymität der Menschen nicht gewährleisten zu können.
Dabei ist die Anonymität ein wesentlicher Schlüssel, um angesichts der immensen Möglichkeiten der Technologie die ebenso immensen Gefahren für Mensch und Gesellschaft zu vermeiden. Die Möglichkeit, Menschen auf Schritt und Tritt mit Hilfe von Ortungsdaten, Kontaktinformationen oder Kreditkartenrechnungen zu verfolgen, ist nämlich längst gegeben, wie das Beispiel zweier dänischer Politiker jüngst illustrierte. Diese hatten ihr gesamtes Datenportfolio an eine dänische Zeitung übergeben, woraufhin die Journalisten in der Lage waren, so gut wie jeden Zentimeter im Leben der beiden nachzuvollziehen.

„Ich“ und meine Daten

Indes werden die Prognoseinstrumente der staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteure immer leistungsfähiger und die Daten damit auch immer berechenbarer. Längst ist der Punkt überwunden, an dem die schiere Masse der im Internet veröffentlichten, hinterlassenen und verfügbaren Informationen und Spuren ein Problem für die Datenauswerter darstellt. Im Gegenteil: Die Masse an Daten, die täglich online gehen, sei „die Lösung“, wie die Datenexpertin Yvonne Hofstetter es unlängst in einem FAZ-Interview formulierte. Denn die Algorithmen sind lernfähig, sie werden besser mit jedem Bit, das sie in ihre Rechnungen einbauen können. Was zunächst inkonsistent scheint, wird im nächsten Moment schon logisch verknüpft. Das geschlossene Regelsystem „Algorithmus“ kann alles in sich aufnehmen – das ist seine Funktionsweise. Ökonomische und politische Entscheidungen könnten damit in Zukunft aufgrund von Simulationen getroffen werden. Intelligente Kontrollstrategien nutzen personalisierte Informationen, um exakte Kalkulationen zu kreieren, ob sie nun die Krankenkassenkosten, die Kreditwürdigkeit von Bankkunden oder die Neigung zu kriminellen Handlungen betreffen.
Doch wenn Daten der neue Rohstoff sind, so sind wir Menschen selbst die neuen Goldminen. Wir sind längst nicht mehr Herr oder Frau über unsere Daten. Wir wissen nicht, wer welche Informationen für wie lange über uns speichert oder was mit unseren Daten passiert. Die so generierten Algorithmen sind nicht nur Relevanzdeterminanten im persönlichen Rahmen, sie weisen uns nicht nur darauf hin, was wir kaufen können, welche Musik uns gefällt, welche Information uns interessiert. Algorithmen sind auf dem Weg zum Erzeuger von Lebenswirklichkeiten. Diese Konstellation schafft perfekt austarierte Angebotsstrukturen, in deren Geflecht wir uns nur scheinbar frei bewegen. Das Individuum wird in diesem Sinne zum (un)freiwilligen Produzenten kommerzieller Güter und gleichsam zum durch diese Informationen gesteuerten Konsumenten.

Und nun?

Will man sich diesen Mechanismen entziehen,  gibt es ein naheliegendes und einfaches Narrativ: Nutzerverantwortung bzw. Selbstverantwortung – und damit auch die Individualisierung von Kompetenz, Kontrolle, Schutz. Selbstermächtigung heißt das Stichwort: Der Staat gibt die Verantwortung über unsere Daten zunehmend aus der Hand und macht die aus der Kontrolle geratene Wirtschaft zum Problem des Individuums. Der Kontrollverlust über unsere Daten wird so zum persönlichen Versagen bzw. zur Folge persönlichem Handelns der Bürger und zum vermeidbaren Übel. Nicht ausspioniert zu werden, ist nicht länger der Regelfall, sondern die Ausnahme. Das bedeutet: Der Bürger muss sich nicht für eine Speicherung aussprechen, sondern zunehmend gegen das Speichern engagieren. Oder, wie es Piratenpolitikerin Katharina Nocun zuletzt als Victim-Blaming anprangerte: Es wird dem Menschen nahegelegt, sich weniger diesen Strukturen auszusetzen bzw. zu exhibitionieren.
Doch beide Argumentationen sind zu einfach. Sie verweigern sich einer Politisierung des Problems. Die Nutzung digitaler Strukturen ist längst keine Option mehr, sondern unser Alltag, und so wenig es dienlich ist, nach einem Ausgang aus dem Datensumpf zu suchen, so unverantwortlich ist es, ausschließlich den Nutzer zur Rechenschaft zu ziehen.  Selbstverständlich sollte eine Gesellschaft die Mediensozialisation ihrer Bürger aktiv vorantreiben, denn Selbstermächtigung im WWW bedeutet auch, die Regeln und Strukturen der Umgebung zu verstehen, in der wir uns bewegen. Ebenso berechtigt sind Appelle zur Datensparsamkeit und zum Hinterfragen der genutzten Infrastruktur. Dennoch bedarf es letztlich einer breiten gesellschaftlichen Debatte und politischer Unterstützung, da ohne die nötige Kontrolle und Transparenz jedweder Ruf nach Selbstermächtigung der Bürger über ihre Daten geradezu zynisch erscheint.

Verbindliche politische Grundausrichtung verlangt

Die im Moment viel diskutierte europäische Datenschutzverordnung ist hier nur ein erster wichtiger Schritt. Eine stärkere Regulierung der Handlungsspielräume, innerhalb derer unsere Daten prozessiert werden, und Regeln darüber, wozu diese Ergebnisse genutzt werden dürfen, müssen folgen. Selbstregulierung und Branchen-Kodizes könnten die klaren rechtlichen Schritte weiter ergänzen, nicht aber ersetzen. Außerdem zeigt sich, wie wichtig es ist, die international agierenden Konzernriesen, die in einer zunehmenden Unabhängigkeit von geltenden Gesetzen und dem Zugriff der Bürger, des Marktes und der staatlichen und juristischen Gewalten operieren, auch international zu reglementieren.
Hierzu bedarf es einer politischen Grundsatzausrichtung, die demokratische Grundrechte konsequent über die Effizienz und die Interessen der Wirtschaft stellt und den obligatorischen Warnungen vor einem Bremsen der Wirtschaft oder Wettbewerbsnachteilen entgegentritt, anstatt sich aus Unwissenheit oder Fatalismus politischer Konsequenzen zu verwehren. Darüber hinaus müssen Staat und Verwaltung die Grenzen ihrer eigenen Datennutzung verbindlich festlegen. Insbesondere in Bereichen wie dem Gesundheitswesen, der Sicherheits- oder Bildungspolitik kann Big Data zu Ausgrenzung, Stigmatisierung oder Ungleichheit führen und darf folglich nicht überstrapaziert werden. Irrationalität muss weiterhin möglich sein.
Bild: r2hox/flickr  CC BY-SA 2.0
CC-Lizenz-630x1101