Insbesondere durch die Corona-Krise haben sich viele Lebensbereiche mehr und mehr ins Digitale verlagert. Telemedizinische Angebote bieten Patient*innen die Möglichkeit, digital mit ihrem Arzt oder Ärztin über ihre gesundheitlichen Anliegen zu sprechen, ohne dafür den Weg in die Praxis zu gehen.

Laut einer Studie des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (bitkom) ist der Wunsch der Bürger*innen danach  telemedizinische Angebote zu nutzen, in der Pandemie deutlich angestiegen. In der Studie gaben 85% der Nutzer*innen von digitalen Sprechstunden an, dass sie aus Angst sich mit dem Corona-Virus zu infizieren, eher eine Videosprechstunde in Anspruch genommen haben.

Welche Chancen die Telemedizin bieten kann, aber worin sie auch an ihre Grenzen stößt, diskutieren…

PRO-Standpunkte: Zava Gründer und CEO David Meinertz

2018 war ein Jahr des Durchbruchs für die Telemedizin in Deutschland. Bis dahin hatten vor allem gesetzliche Hürden Telemedizin-Patienten das Leben schwer gemacht. Das bis dahin geltende berufsrechtliche Verbot der ausschließlichen Fernbehandlung wurde gelockert und Ärzte erhielten mehr Handlungsspielräume. Noch 2016 wurde es Vor-Ort-Apotheken verboten, telemedizinisch ausgestellte Rezepte einzulösen. 2019 konnten die Apotheken dann wieder Online-Rezepte bedienen. Bei Zava waren wir uns immer sicher, dass es dazu kommen wird und haben uns auch davor jahrelang für die Telemedizin stark gemacht.

Durch die Corona-Pandemie hat die Telemedizin im Frühjahr 2020 dann einen plötzlichen Aufschwung erlebt. Unsere Patienten waren extrem froh über unser Angebot, so konnten sie in den Wochen des Lockdowns den Besuch einer Arztpraxis vermeiden. Seither ist die Telemedizin Teil des ‚new normal’, die Nachfrage nach Online-Sprechstunden steigt seither stetig. Ich gehe davon aus, dass mittelfristig drei bis vier von zehn Arztkontakten telemedizinisch erfolgen werden.

Was kann durch Telemedizin geleistet werden? Die Videosprechstunde zum Beispiel ist eine echte Entlastung für Patienten und das Gesundheitssystem. Sie kann schneller und sicherer sein als der persönliche Besuch in einer Arztpraxis – und das sogar am Wochenende oder am späten Abend. Und sie kann in Zukunft viel mehr leisten, als sie es heute schon tut. Denn Telemedizin ist niedrigschwelliger und wird mehr Patienten erreichen. Diejenigen, die den Weg in die Praxis scheuen, aus Zeitmangel, logistischen Gründen oder schlicht und einfach, da sie keinen Termin in der Praxis vor Ort bekommen, können auch so, ganz einfach ärztlichen Rat aufsuchen oder ein Folgerezept erhalten. Denn ob der Patient dem Arzt in der Praxis gegenübersitzt oder dies digital vor PC oder Handy geschieht: die besprochenen Themen sind dieselben. Darüber hinaus dauert eine Sprechstunde durchschnittlich ohnehin nur sieben Minuten, da lohnt sich das Warten für den Patienten nicht. Und auch die Ansteckungsgefahr im Wartezimmer fällt weg. So werden Patient und auch der Arzt entlastet werden. Die Ärzte können sich auf die komplizierten Fälle fokussieren, bei denen Telemedizin nicht helfen kann.

In den letzten Jahren ist sehr viel passiert in Deutschland. Die Richtung stimmt. Am Ende entscheiden die Patienten, was sie wie nutzen. Wünschen würden wir uns allerdings mehr Gestaltungswillen auch bei der Weiterentwicklung der medizinischen und pflegerischen Berufe. Langfristig erwarten wir Task Shifting und Skill Mixing in den Berufsbildern.

CONTRA-Standpunkte: Vorstandsvorsitzender Freie Ärzteschaft Wieland Dietrich

Telemedizin ist zunächst ein komplexes Feld medizinischer Anwendungen, das beispielsweise Videosprechstunden, Fernberatung oder -Befundung umfasst. Durch die Corona-Pandemie hat insbesondere die Videosprechstunde einen gewissen Aufschwung erfahren: dennoch ist die Frequenz im Vergleich zur echten Arzt-Patientenbehandlung sehr gering. Dasselbe gilt für die Nachfrage durch den Patienten.

Es muss ein Termin für eine Sprechstunde o.Ä. vereinbart werden, wobei jeder Zeitverzug seitens des Patienten einen echten Zeit- und Effizienzverlust für den Arzt bedeutet. Dieses “just in time” ist ein wesentlicher Nachteil, weil in der Medizin exakte Zeitfenster ohnehin schwer geplant werden können.

Wenn im ländlichen Raum Ärzte aus der Umgebung konsultiert werden sollen, die der Patient kennt, wird der Arzt Zeitmangel nicht behoben, sondern durch den erhöhten Zeitbedarf der Videokonsultation vielleicht sogar verschärft.

Kommt in der Praxis ein Patient zu spät, macht der Arzt zunächst etwas anderes. Bei der Videosprechstunde wartet er, und verliert Zeit. Bei bekannten Patienten gestaltet sich der Beginn der Videosprechstunde einfacher, weil man sich kennt. Andernfalls ist zunächst ein gewisses Kennenlernen nötig, um Vertrauen zu fassen.

Für Ältere könnte aufgrund meist fehlender Technikaffinität das Vertrauen in die Videosprechstunde fehlen. Darüber hinaus ist ein gravierendes Problem bei älteren Menschen die typische Multimorbidität, das bedeutet das gleichzeitige Bestehen von verschiedenen Krankheiten, die oft eine körperliche Untersuchung erfordert.

Das zeigt schnell die Grenzen der Videosprechstunde auf: Die Oberflächlichkeit, die eher Beratung als echte Behandlung erlaubt, auch weil keine körperliche Untersuchung mit weiterer Diagnostik möglich ist. Beratung ja – echte Behandlung kaum. Das bedeutet, dass die klassische Arztsprechstunde nur teilweise ersetzt werden kann. Die persönliche Nähe, auch als heilendes Element im psychosozialen Kontext, fehlt bei der Fernbehandlung komplett.

Die Frage der Freiwilligkeit ist entscheidend, für Arzt und Patient. Gute und sichere Prozesse werden sich durchsetzen, Top-down-Projekte mit Zwang werden scheitern. Ärzte werden sie zwar formal implementieren, dann aber gar nicht nutzen. Ein Beispiel dafür ist die eAkte in Frankreich, die seit Jahren verpflichtend, dennoch aber nur minimal realisiert ist.

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