Die Aussagen von Horst Seehofer zu potenziellen Gewalttäter*innen in der Gamerszene nach dem Attentat von Halle rückten das Thema Gaming nach langer Abstinenz wieder ins politische Rampenlicht. Während ihm vor 20 Jahren eine Welle der Zustimmung zuteil geworden wäre, reagierten diesmal viele politische und gesellschaftliche Kommentator*innen mit Unverständnis und Kritik. Wie kam es dazu? Ein Abriss.

Szenekundig – Gaming wird Jugendkultur

Die Ära der Videospiele begann in den 1970er Jahren mit den ersten Konsolen und Computern, die so günstig waren, dass sie für die eigenen vier Wände erworben werden konnten. Die junge Branche jagte in den USA ein Rekordergebnis nach dem anderen. Angespornt durch den kommerziellen Erfolg, entwickelten sich die technischen und graphischen Möglichkeiten so rasant, dass man die anfänglich nur alleine betretbaren digitalen Welten rasch gemeinsam erleben konnte. Die Spieler*innen vernetzen sich. Videospiele bekommen eine soziale Komponente und werden zu Geburtshelfern einer neuen Jugendkultur: Gaming.

Gamer*innen treffen sich in den 1990er und 2000er Jahren auf LAN-Partys (Local Area Network) und schleppten Computer, Bildschirm, Tastatur und Maus in schmucklose Mehrzweckhallen, um mit- und gegeneinander zu zocken. Spieler*innen bilden eigene Organisationsformen: Teams, Clans oder Gilden sind Zusammenschlüsse von Gamer*innen. Die Ausrichtung dieser variiert je nach Spielphilosophie. Manche legen Wert auf Leistung, andere stellen die gemeinschaftliche Erfahrung in den Vordergrund. Die Beliebtheit von Videospielen als Freizeitbeschäftigung von Jugendlichen stieg genauso wie die Anzahl an neuen Spielgenres.

Es entsteht, wie aus fast jeder, zuerst als Hobby nachgegangenen Aktivität, auch eine Sportart, der E-Sport (Elektronischer Sport), also der professionelle Wettkampf zwischen Gamer*innen. Der PC (Personal Computer) spielte bei dieser Entwicklung eine größere Rolle als Konsolen, weil dessen Rechen- und Grafikleistung die der Konsolen im Laufe der Jahre überholte. Gaming und auch E-Sport wird deswegen häufig ausschließlich mit dem Spielen am PC assoziiert, findet aber auch auf der Konsole statt. De facto war die Mehrspieler-Idee bereits in einem der ersten Videospiele für die Konsole angelegt: dem Videotennis „Pong“.

 

pongscreenie_max_CC-BY-NC-2.0_640x480

Die Killerspiel-Debatte

1999 töteten ein 18-Jähriger und ein 17-Jähriger in der Columbine High School im amerikanischen Bundesstaat Colorado 15 Menschen einschließlich sich selbst. Beide Jugendliche waren passionierte Videospielfans und verbrachten viele Stunden mit dem Spielen des Egoshooters Doom. Der Vorfall fand weltweit enorme mediale Aufmerksamkeit und gilt bis heute als Blaupause eines „school shootings“. Er stieß unter vielen anderen auch eine öffentliche Debatte über Gewalt in Filmen und Computerspielen an, die nicht an den Grenzen der USA halt machen sollte.

1999 tötete ein 16-Jähriger in Bad Reichenhall vier Menschen, bevor er sich das eigene Leben nahm. 2002 erschoss ein 19-Jähriger in seiner ehemaligen Erfurter Schule 16 Menschen und zuletzt sich selbst. 2009 tötete in Winnenden ein 17-Jähriger in seiner ehemaligen Schule 15 Menschen, ehe er sich selbst erschoss. Alle Täter sollen viel Zeit mit Computerspielen verbracht haben, in denen Gewalt dargestellt wird. In Deutschland diskutierte man deswegen ebenfalls kontrovers über Videospiele, stellte man Vergleiche mit den Geschehnissen in Columbine an.

Als Reaktion auf die Amokläufe forderten manche Politiker*innen und einige Angehörige der Opfer ein Verbot von „Gewaltspielen“. Während manche Pädagog*innen dieser Forderung folgten, bezweifelten andere die Wirksamkeit eines Verbots. Eine Gesetzesinitiative des Landes Bayern enthielt sogar den Vorschlag, die Nutzung unter Strafe zu stellen, auch mit Gefängnisstrafen. Im Fokus der öffentlichen Debatte stand der weltweit erfolgreiche Egoshooter Counter Strike, dieser wurde zum Symbolbild für „böse Videospiele“, welche eine ganze Generation verderben würden.

Gleichzeitig war die Medienberichterstattung über Videospiele teilweise so oberflächlich und manchmal schlichtweg falsch, dass sie von Gamer*innen mit Hilfe des, noch in den Kinderschuhen steckenden, Internets in Foren und Blogs kritisiert und akribisch dokumentiert wurde. Eine Gegenöffentlichkeit bildet sich. Gamer*innen forderten eine sachliche Auseinandersetzung mit Videospielen und wollten einen Perspektivwechsel hin zur kulturellen Bedeutung anstoßen.

Angekommen

Mit Erfolg. 2008 erkennt der deutsche Kulturrat, nicht ohne Widerstand, Videospiele als Kulturgut an. In der für ZDF info produzierten Dokumentation „Killerspiele – der Streit eskaliert“, begründet der Geschäftsführer Olaf Zimmermann die Entscheidung: „Wenn wir in die Kulturgeschichte hineinschauen, dann sind die großen Kunstwerke fast immer brutal. Wie auch im Grundgesetz verbürgt ist, haben wir Kunstfreiheit und die gilt auch für Computerspiele. So schwer das für manchen zu akzeptieren war damals.“ Ein Meilenstein der Akzeptanz, der mit der Schaffung des deutschen Computerspielpreises 2009 und der Eröffnung des Computerspielmuseums 2010 in Berlin um weitere ergänzt wurde. Gaming ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das Wort „Killerspiele“ verschwindet in den darauffolgenden Jahren aus dem Vokabular der Berichterstatter*innen.

Heute haben Videospiele längst popkulturellen Status erreicht. Unzählige Filme sind von Games inspiriert oder Verfilmungen eben jener. Umgekehrt gilt das genauso. Die beiden Branchen stützen sich seit Jahren aufeinander. Doch der Einfluss reicht auch über die Kinoleinwand hinaus. Die Charaktere und Figuren aus Videospielen finden als Kostüme Einlass in Jahrhunderte alte Bräuche wie Karneval oder Halloween. Die im Videospiel Fortnite integrierten Tänze, die verschiedene Figuren aufführen, sind so populär, dass sie auch von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aufgeführt werden. Das wohl prominenteste Beispiel, ist der Fortnite-Jubel vom französischen Fußballnationalspieler Antoine Griezmann im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland. In manchen Ländern werden Games sogar als nationale Prestigeobjekte gesehen. Der damalige polnische Premierminister Donald Tusk überreichte dem ehemaligen Präsidenten der USA Barack Obama bei einem Staatsbesuch 2011 The Witcher 2, ein international erfolgreiches Rollenspiel, dass in Polen entwickelt wurde.

Wirtschaftlicher Faktor

Darüber hinaus sind Computer- und Videospiele ein großer wirtschaftlicher Faktor geworden. Alleine in Deutschland hat sich der Umsatz des Gaming-Marktes von 2012 bis 2018 von 2,3 auf 4,3 Milliarden fast verdoppelt. Verkaufte Spiele, die von deutschen Entwickler*innen produziert wurden, bilden dabei jedoch die Ausnahme. Um dieses Potenzial verstärkt zu nutzen, hat die Bundesregierung, nach längerem Hin und Her, beschlossen, die Games-Entwicklung in Deutschland mit 50 Millionen Euro im Jahr 2020 zu fördern. Eine erweiterte Förderung über 2020 hinaus wurde ebenfalls festgeschrieben.

Auch der E-Sport ist mittlerweile zu einem Milliardengeschäft geworden, das eigene Stars vermarktet und Millionen von Fans auf der ganzen Welt hat. Laut Game, dem Verband der deutschen Gamesbranche, gaben 45 Millionen Menschen in Deutschland an, schon mal etwas von E-Sport gehört zu haben. Jede/r 5. Hat sogar schon mal ein E-Sport-Match gesehen. Das höchstdotierte E-Sport Event war das DOTA 2 Turnier „The International“ 2019, mit einem Preisgeld von 34,33 Millionen Dollar. In manchen Ländern wie den USA, Südkorea oder Schweden ist E-Sport schon als allgemeiner Sport anerkannt und wird auch staatlich gefördert. In Deutschland steht dieser Schritt noch aus.

Zocken ist Alltag

Das Spielen von Videospielen ist heutzutage im gesellschaftlichen Alltag von Millionen von Menschen integriert. Der Grund dafür: das Internet. Ob auf der Konsole, dem PC, auf dem Tablet oder dem Smartphone, ob jung oder alt, weiblich oder männlich, durch das Internet und die Digitalisierung kann jede/r zu jeder Zeit immer spielen. Ob zwischendurch oder regelmäßig, alleine oder mit anderen, on- oder offline, ob hobbymäßig oder um Geld zu verdienen, denn auch das ist mittlerweile möglich, die Motivation derjenigen, die Videospiele spielen, ist so unterschiedlich wie die Games selbst. Die „Gamerszene“ ist damit so groß und divers, dass der Begriff viel zu kurz greift und die pauschale Kritik an ihr in weiten Teilen der Bevölkerung auf wenig Verständnis trifft.

Bilder: Hillary playing Nintendo game boy by Ralph Alswang (public domain),  pongscreenie by Max on flickr, CC-BY-NC 2.0