Im politik-digital:live Talk vom 17.2.2021 haben wir von unseren Gästen, dem Thüringer Justizminister Dirk Adams, Claudine Nierth (Mehr Demokratie e.V.), Antoine Vergne (Mission Publiques) und Janosch Pfeffer (Klima Mitbestimmung JETZT!), viel darüber erfahren, wie Politik in Zeiten globaler Krisen von Bürger*innen mitgestaltet werden kann.

“Vor 20 Jahren wurden Bürgerräte als sehr komisch wahrgenommen, vor zehn Jahren waren sie schon bekannt, heute müssen wir niemanden mehr überzeugen.”

Antoine Vergne weiß, wovon er spricht. Als Co-Direktor von Missions Publiques hat er bereits zahlreiche Bürgerräte in Deutschland und Frankreich begleitet.Wie unsere anderen Gäste geht er davon aus, dass die Bedeutung dieser Beteiligungsform aktuell größer ist denn je. Bürgerräte seien immer dann ein gutes Mittel, wenn die Politik an ihre Grenzen gerät und keine mehrheitsfähigen Entscheidungen zustande kommen. Das trifft aktuell sowohl auf die Corona- als auch auf die Klimakrise zu, zu denen vermehrt Bürger*innenräte ins Leben gerufen werden.

Einer davon beginnt bald in Thüringen. Der Justizminister Dirk Adams erzählt im Talk, wie er Ende November in einer Videokonferenz von dem Bürgerrechtler (und Vorstandssprecher von Mehr Demokratie e.V.) Ralf Uwe Beck mit der Frage konfrontiert wurde, wie sie eigentlich die Bürger*innen zu Fragen der Coronapolitik einbinden wollen?

“Das war für mich ein Punkt, wo ich ganz ehrlich gesagt, dachte: Mist, darauf hätte man schon eher von selbst kommen müssen.”

Also ging er auf die Suche nach Verbündeten, fand diese in der Staatskanzlei und nun beginnt der Prozess mit etwas Verzögerung in den nächsten Wochen. Im Bürgerforum sollen 40-50 repräsentativ ausgewählte Personen ab 16 Jahren zusammenkommen und gemeinsam aus ihrem “Alltagswissen” Vorschläge rund um die Corona-Maßnahmen für die Parlamentarier*innen erarbeiten.

Am Auswahlverfahren der Bürger*innen wird in Thüringen aktuell noch getüftelt. Das Losverfahren, nach denen Bürgerräte zusammengesetzt werden, stellt ihre Initiator*innen häufig vor eine Herausforderung: Wie garantiert man Repräsentativität?

Ein per Zufall ausgewählter Datensatz mit Bürger*innen (aus zuvor ausgelosten Kommunen) wird nach bestimmten Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss gefiltert, um eine möglichst repräsentative Gruppe zusammen zu bekommen, erklärt Claudine Nierth, Vorstandssprecherin und langjährige Beteiligungsaktivistin von Mehr Demokratie e.V.: “Da die Rücklaufquote klassischerweise nur bei etwa 3 Prozent aller angeschriebenen Bürger*innen liegt, haben wir bei unserem aktuellen Verfahren zu ‘Deutschlands Rolle in der Welt’ auch eine ‘aufsuchende Beteiligung’ integriert.” Hier gehen die Initiator*innen speziell auf unterrepräsentierte oder auch strukturell benachteiligte Gruppen zu und laden sie gezielt zur Teilnahme ein. “Auf diese Weise lässt sich die größtmögliche Verschiedenheit der Teilnehmer als Abbild der Gesellschaft zusammenstellen, die weit höher ist als im Parlament”, so Nierth.

"Bürger*innenräte als Brücke ins Parlament"

Diversität innerhalb der Teilnehmenden des Bürgerrats ist auch für Janosch Pfeffer von Klima Mitbestimmung JETZT! zentral. Als Initiative, die sich für eine dauerhafte Mitentscheidung von Bürger*innen in der Klimapolitik einsetzt, hat die Gruppe junger Menschen eine erfolgreiche Petition bis in den zuständigen Bundestagsausschuss gebracht. Der Initiative ginge es dabei vor allem darum, “der Politik zu zeigen, was möglich ist”, so Pfeffer. Sie verstehen Bürger*innenräte als Konsensinstrument in der Klimapolitik, das den politischen Diskurs bereichern und zu konkreten Fragestellungen wie beispielsweise dem CO2-Preis beraten kann. Und: Sie wünschen sich eine nachhaltige Institutionalisierung eines solchen Verfahrens in den politischen Prozess.

Auch Claudine Nierth sieht die große Chance von Bürgerräten in ihrer Beratungsfunktion und betont “Bürgerräte sind keine Protest-, sondern Konsensverfahren, die mehrheitsfähige Entscheidungen ermöglichen und so eine Brücke ins Parlament bauen können”.

Wie eine solche Brücke aussehen kann, skizziert Dirk Adams für das anstehende Bürgerforum zur Coronapolitik in Thüringen. Auf die Frage, inwieweit die kollektive Emotionalität in Bezug auf die Pandemie die Konstruktivität des Prozesses beeinträchtigen könne, betont er mit Nachdruck, dass er keine Angst vor dem Streit habe und es begrüßt, wenn auch Coronakritiker*innen teilnehmen würden.

“Vor dem Streit habe ich keine Angst. In einem Landtag haben wir ja auch einen Streit über die Maßnahmen der Landesregierung. Und ich gewichte die Chance, dass wenn unterschiedlichste Menschen zusammensitzen diskturieren ‘Was ist jetzt das Wichtigste?’ sehr hoch, dass da etwas Anschlussfähiges dabei herauskommt.”

Was passiert mit den Ergebnissen?

Ein entscheidendes Stichwort ist hier die “Anschlussfähigkeit”. Die Übertragbarkeit der Ergebnisse in die Politik ist eines der wichtigsten Kriterien für den Erfolg eines Bürgerrats – darin sind sich alle Gäste einig. Die Frage, was am Ende mit den Ergebnissen passiert und welche Entscheidungsträger*innen die Ergebnisse berücksichtigen werden, muss Nierth zufolge von Anfang an in den Prozess integriert und transparent kommuniziert werden.

Adams sieht das genauso und wirbt mit Klarheit (“Die Entscheidung bleibt bei den Landesparlamenten, aber die Beratung durch die Bürger*innen ist wichtig”) und Zuspruch (“Es werden sicher eine Vielzahl an Vorschläge berücksichtigt oder sogar übernommen”) für das Vertrauen der Zivilgesellschaft in den anstehenden Beteiligungsprozess.

Zu dem Willen die Ergebnisse so gut es geht einfließen zu lassen, komme außerdem die Erfahrung über die Qualität der Ergebnisse. Vor einigen Jahren sei in Thüringen schon einmal ein Bürgergutachten zu einer Gebietsreform gemacht worden. Die Ergebnisse seien von der damaligen Landesregierung erst nicht richtig übernommen worden, dann sei es allerdings zwei Jahre später “genauso gekommen, wie die Bürger*innen es vorgeschlagen hatten”.

Demokratischer Lernprozess mit Bürgerräten & Co

In Adams Ausführungen wird auch deutlich, dass am Ende auch von den Organisator*innen von Bürgerräten ein gewisses Maß an Offenheit und Vertrauen gefordert ist. Besonders wenn man ein solches Verfahren zum ersten Mal anwendet, liegt es in der Natur der Sache, dass vieles sich erst in der Praxis ergeben wird. So spricht Claudine Nierth aus langjähriger Beteiligungserfahrung davon, dass man gewisse Verfahren einfach ausprobieren muss und man “Demokratie stärkt, indem man sie ständig anwendet”.

Aus den Erfahrungen der beiden Bürgerräte zur Klima- und Impfpolitik in Frankreich bestätigt auch Antoine Vergne, dass wir uns aktuell in einem demokratischen Lernprozess befinden. So gab es heftige Debatten zwischen französischen Parlamentarier*innen, den Teilnehmer*innen der Bürgerräte und der Zivilgesellschaft darüber, ob die Ergebnisse jetzt in direkte Gesetze übertragen werden können oder nicht. Diese Auseinandersetzung sei von den Medien als Misserfolg der Bürgerräte beschrieben worden. Vergne aber ist überzeugt, es sei genau richtig gelaufen. Es zeige, dass wir aktuell viel lernen in Bezug auf Bürgerräte und darum ringen “wie sich dieses Instrument einfügt in die Demokratie”.

Hier geht’s zum Gespräch in voller Länge:

Wenn Sie diesen Text lesen können, werden unsere externen Inhalte möglicherweise durch Ihre Datenschutzeinstellungen blockiert. Wenn Sie Ihre Einstellungen anzeigen oder ändern möchten, können Sie dies in den Datenschutzeinstellungen tun.

Photo by: Photo by João Marcelo Martins on Unsplash

Privacy Preference Center