Karsten Pöhl stellt zwei Bücher vor, die berichten, wie die inhaltliche und organisatorische Zukunft von ATTAC aussehen kann und welche Fragen entstehen: Sollten illegale Einwanderer ein Existenzgeld bekommen? Oder leidet ATTAC selbst unter Globalisierungssymptomen?
Die Globalisierungskritiker können, wie wir in Davos, Seattle und Genua gesehen haben, Massen mobilisieren. ATTAC ist heute in 45 Ländern der Erde vertreten. Der Erfolg stellt diese Bewegung vor neue organisatorische wie inhaltliche Herausforderungen. Am 3. Juni 2003 – zeitgleich mit dem G 8-Gipfel in Evian-les-Bains – jährte sich die Gründung von ATTAC zum fünften Mal. Trotz ihres jugendlichen Alters (die SPD ist, zum Vergleich, gerade 140 Jahre alt geworden) wurde diese Bewegung an diesem Tag durch einen 15minütigen historischen Rückblick im ”Zeitzeichen” auf WDR 5 (Radio) geadelt.
Leidet ATTAC unter Globalisierungssymptomen?
Geschichte und Besonderheiten des Experiments ATTAC sind im Buch von Christiane Grefe, Mathias Greffrath und Harald Schumann, “ATTAC – Was wollen die Globalisierungskritiker?”, umfassend dargestellt: In Deutschland hat ATTAC nicht nur Einzelpersonen, sondern u.a. auch Gewerkschaften, Umweltverbände und seit kurzem (Beitritt der Stadt Göttingen) auch Kommunen als Mitglieder. Werden diese Institutionen zuviel Einfluß gewinnen? Wird es weiterhin gelingen, am Konsensprinzip und am weitgehenden Fehlen von Hierarchien festzuhalten? Weltweit gibt es keine zentrale Steuerung, sondern nur eine Patenschaft der französischen Gründerorganisation für neue Landesgruppen. Lokale Teile des Netzwerkes organisieren Veranstaltungen für andere Teile, bearbeiten Themen oder organisieren Proteste. Straffe Organisationsstrukturen fehlen, das Internet ist das wesentliche Bindemittel von ATTAC. Über das Internet werden – für jeden Interessierten – Pressemitteilungen und ein Newsletter (in der jeweils gewünschten Sprache) verbreitet. Wird das auf die Dauer genügen? Haben der deutsche Naturschützer und der senegalesische Intellektuelle wirklich gemeinsame Interessen? Immerhin: Auf die Globalisierung der Finanzmärkte, der Konzerne – kurzum des Geldes – folgt mit ATTAC die Globalisierung der Kritik am bestehenden Weltwirtschaftssystem.
Welche Inhalte werden ATTAC künftig beschäftigen?
Inhaltlich kann sich ATTAC nicht mehr begnügen mit der Kritik des Weltfinanzsystems und der Forderung nach der Tobin-Steuer auf Devisentransaktionen. Beim Hamburger VSA-Verlag erscheint seit kurzem eine Reihe kleinformatiger, preiswerter Taschenbücher mit Texten von ATTAC, genannt ”Attac Basis Texte”. Band 6 dieser Reihe, “Sozialstaat. Wie dei Sicherungssysteme funktionieren und wer von den Reformen profitiert”, ist der Auseinandersetzung über den Sozialstaat gewidmet. Auf nur 90 Seiten wird die Geschichte des Sozialstaats abgehandelt, ebenso die demographische Frage sowie die Zukunft des Renten- und Gesundheitssystems. Den Dogmen der Neoliberalen vom Heil durch den Markt stellen die Autoren – Christian Christen, Tobias Michel und Werner Rätz – zum einen teilweise weithin unbekannten Fakten entgegen: z. B. über die Privatisierung des Rentensystems in Chile oder über die geringe Belastung des Faktors Kapital mit Steuern in Deutschland. Zum anderen entwickeln sie Ansätze einer eigenen Utopie, insbesondere durch die Forderung nach einem Existenzgeld, keine neue Forderung, die die Autoren jedoch insofern radikalisieren, als dass sie das Existenzgeld auch illegalen Einwanderern zubilligen wollen. Jeder kann sich vorstellen, welche Dynamik illegaler Einwanderung dann einsetzen würde, die zu fürchterlichen Gegenreaktionen führen dürfte!
ATTAC kurbelt die demokratische Diskussionskultur an
Hauptanliegen der Globalisierungsgegner ist die demokratische Kontrolle der wirtschaftsgetriebenen Globalisierung. Dass sich ATTAC, eine Gründung mit nicht zufällig französischen Wurzeln, so schnell über die halbe Welt ausbreiten konnte (in den USA fehlt bis heute eine Landesgruppe), zeigt die Notwendigkeit einer – moralischen und intellektuellen – Instanz, die die Interessen der von der Globalisierung Betroffenen artikuliert. Dieser Aufgabe hat sich ATTAC verschrieben und trägt damit zum Erhalt einer demokratischen Diskussionskultur bei – getreu dem Motto der beiden in Porto Alegre abgehaltenen Weltsozialforen: eine andere Welt ist möglich!
Wie gestaltet sich dem gegenüber die Realität?
Bund, Länder und Kommunen privatisieren die letzten verbliebenen öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften (z. B. die Frankfurter Siedlungsgesellschaft – wo rot-grüne Bundesregierung und CDU-geführte Landesregierung gemeinsame Sache machten), deutsche Kommunen verpachten ihre Abwassersysteme an US-amerikanische Investoren, Brücken und Veranstaltungshallen werden privat finanziert (wobei schlaue Investoren, wie in Köln, aber nur Gewinne privatisieren, Verluste aber auf die Kommunen abwälzen). Jeder weiß, dass der Angriff auf den Sozialstaat in vollem Gange ist.
Magazine und Zeitungen fördern Kritik am Sozialstaat
Machte sich Rot-Grün 1999 noch auf die Suche nach Scheinselbständigen, um diese in die Sozialversicherungen zu integrieren, werden solche Einzelkämpfer heute als ”Ich-AG” gepriesen und gefördert, ohne genau hinzusehen, wer da auf wen welches Risiko abschiebt. Bei denen, die (noch) Arbeit haben, schwankt die Stimmung zwischen Wut und ohnmächtiger Frustration, ein Gefühl, das alle fördern, die nach dem (Hau-)Ruck verlangen und demokratischen Diskussionen unterbinden wollen. Bestürzend sind dabei nicht die Forderungen an sich, sondern die Einförmigkeit der Medien. Magazine und Zeitungen, die vor 30 Jahren die sozialliberale Koalition stützten, verwerfen bis heute rechte Ideen in Kultur- und Einwanderungspolitik, sind aber oft willige Nachbeter wohlfeiler Sozialstaatskritik und nutzloser Faulenzerdebatten, die sie doch BILD und Focus überlassen könnten.
Die Bevölkerung hält am Sozialstaat fest
Anders verhält es sich mit der Bevölkerung. Diese ist sowieso in ihren Werten und Neigungen ganz anders – aktiver, verantwortungsvoller – als modische Volksbeschimpfungen (”Ego-Gesellschaft, Oblomow-Syndrom”) es glauben lassen. Vielfältige empirische Untersuchungen haben ergeben, dass die Bevölkerung am Sozialstaat festhält – obwohl sie dessen Preis kennt und bezahlt, ein bemerkenswerter Befund, besonders wenn man weiß, dass solche Studien oft von Banken oder Versicherungen in Auftrag gegeben werden, die ein starkes (Geschäfts-) Interesse an der Privatisierung sozialer Sicherungssysteme haben. Was die Medien angeht, wurde in Frankreich ein treffender Begriff geprägt, der die Vorherrschaft des Neoliberalismus in Medien und Politik geißelt: ”la pensée unique” – das Einheitsdenken. Dort hat sich 1998 als Gegenbewegung zu Neoliberalismus und Globalismus die Initiative ATTAC gegründet, die nun ins sechste Lebensjahr eintritt.