Zwei Monate vor den Wahlen erläutert US-Experte Prof. Filzmaier, welche Faktoren jenseits der Zahlenspiele von Umfragen für George Bush oder John Kerry sprechen.

Niemand weiß in den Anfängen des Intensivwahlkampfes, wer am 2. November 2004 die Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnt. Dieser beginnt Anfang September nach dem republikanischen Parteitag und dem Labor Day bzw. unmittelbar vor dem symbolträchtigen 11. September. Alle bisherigen Meinungsumfragen waren Schönheitswettbewerbe für einen effektvollen horse race-journalism – „Kandidat A liegt knapp in Führung, wird von B überholt, holt sich aber die Spitzenposition zurück, …!“, heißt es mit sich überschlagender Stimme im Stil der Reporter von Pferderennen -, lassen aber keine sinnvolle Prognose zu.

Unsinnige Zahlenspiele

Die Zustimmungsraten für die Politik George Bushs liegen vor dem republikanischen Parteitag um 50 Prozent. In den Umfragen pendeln Bush und Kerry seit Januar 2004 zwischen 40 und 50 Prozent zuzüglich einiger Anhänger von Ralph Nader. Das lässt lediglich die Schlussfolgerung zu, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine knappe Wahl („too close to call“) zu erwarten ist, und der Anteil unentschlossener Wechselwähler (key swing vote) mit etwa 10 Prozent überraschend gering ist. Kein seriöser Politikforscher wird sich auf endgültige Prognosen einlassen. Falsch ist allerdings die Tendenz einer leichten Favoritenstellung für John Kerry in der – aufgrund des Popularitätstiefs von Bush in EUropa sehr selektiven – Wahrnehmung auf unserer Seite des Atlantiks.

Vor allem aber ist es unsinnig, nationale Umfragen als Durchschnittswert heranzuziehen, anstatt sich für Wahlprognosen auf Veränderungen in den Schlüsselstaaten zu konzentrieren. In 11 Staaten betrug die Differenz im Wahlergebnis 2000 weniger als vier, in fünf Staaten sogar weniger als 0,5 Prozentpunkte. Als wahlentscheidende battlegrounds gelten 2004 neben Florida vor allem Pennsylvania und Ohio mit insgesamt 68 bzw. fast 13 Prozent von 538 Elektoren.

Mit anderen Worten: Wenn Kerry etwa in den bevölkerungsreichen Staaten Kalifornien und New York seine Führung ausbaut, bringt ihn das logischerweise auch in einer nationalen Umfrage nach vorne – und ist vollkommen irrelevant, weil er beide Staaten mit 55 bzw. 31 Elektorenstimmen in Wahrheit längst (fast) sicher hat und es für die Größe seines Vorsprungs keine Zusatzpunkte gibt. Genauso unerheblich und nur das Gesamtbild verzerrend ist, ob Bush in Texas mit 60, 70 oder 80 Prozent der Stimmen gewinnt, weil er nach dem „winner takes all“-Prinzip ohnehin alle 34 Elektoren seines Heimatstaates gewinnt.

Voraussichtlich wird uns die convention bounce für George Bush – als convention bounce bezeichnet man ein meistens nur kurzfristiges Umfragehoch für den jeweiligen Kandidaten nach einem Parteitag bzw. Nominierungskonvent – schon morgen oder übermorgen neue Spekulationen bescheren. Welche Faktoren sprechen aber aus analytischer Sicht und jenseits der Zahlenspiele von Umfragen für einen Wahlsieger Bush oder Kerry?

Bush gewinnt, weil …

Aufgrund seines Amtsinhaberbonus müsste George W. Bush über einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil verfügen. Zumindest bis zum Nominierungskonvent der Demokraten Ende Juli, aber auch bei politischen Anlässen bis zum Wahltag, verfügt er über Gratissendezeit im Fernsehen, weil er als Präsident automatisch Teil der Nachrichtenberichterstattung ist. Kerry war für die breite Öffentlichkeit nach den gewonnenen Vorwahlen vergleichsweise uninteressant und ist es für einen möglicherweise wahlentscheidenden Bevölkerungsanteil immer noch.

Hinzu kamen monatelang große Geldvorteile für Werbespots. Denn Bush hat frühzeitig hunderte Millionen Dollar angespart, mit Sommerbeginn verfügte er nach offiziellen Angaben – die Dunkelziffer ist hoch – über das Vierfache an unmittelbar abrufbaren Bargeldreserven. Auch insgesamt – d.h. über einen längeren Zeitpunkt berechnet – hatte Kerry lange Zeit weniger als die Hälfte des Geldes von Bush zur Verfügung, und hat noch dazu den Großteil bis zu seinem Vorwahlsieg am 2. März ausgeben müssen. Es ist zweifelhaft, ob Kerry seinen erheblichen Fundraising-Nachteil ausgleichen kann bzw. es in einem achtmonatigen statt achtwöchigem Intensivwahlkampf es zu lange gedauert hat, bis Kerrys Fundraiser die Kassen wieder gefüllt haben.

…er Wahlgeschenke hat

Ein amtierender Präsident verfügt außerdem über das Privileg, Wahlgeschenke verteilen zu können. Von Steuersenkungen bis Sozialleistungen steht Bush ein weites Feld offen, sich Sympathien zu erkaufen. Selbstverständlich kann er dabei besonderes Augenmerk auf Schlüsselstaaten legen, so dass der Präsident beispielsweise unzählige Besuche in Ohio und Pennsylvania absolviert, um Regierungsprogramme anzupreisen. Zuletzt wurde der Rückzug von US-Truppen aus Europa bezeichnenderweise bei einer Rede in Ohio verkündet.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat außerdem kein Präsident die Wahl verloren, der als Amtsinhaber antrat und parteiintern nicht herausgefordert wurde. Eisenhower 1956, Reagan 1984 und Clinton 1996 feierten Start-Ziel-Siege. Nur wenn sich, wie bei Ford 1976, Carter 1980 und Bush sr. 1992 eine Opposition innerhalb der eigenen Partei ergab – diese verringerte durch kompetitive Vorwahlen u.a. automatisch den beschriebenen Finanzvorteil -, scheiterte ein amtierender Präsident im Wahlkampf. Über die historische Statistik hinaus verfügt Bush unbestritten über den Rückhalt einer geschlossenen Republikanischen Partei.

Schließlich profitiert Präsident Bush ungeachtet der schwankenden Zustimmung für seine Politik (approval ratings) immer noch von persönlichen Sympathiewerten nach dem 11. September (favorable ratings), die ihn trotz nunmehr dokumentierten Geheimdienst-Versagen und Folterskandal im Irak gegenüber dem hölzern wirkenden Kerry voran sehen. Dieser müsste außerdem, ebenfalls zeitgeschichtliche Vergleichsgröße für Kandidaten der Demokratischen Partei, in mindestens fünf Süd- bzw. südlich gelegenen Staaten gewinnen, was momentan trotz seines südstaatlichen Vizepräsidentschaftsbewerbers John Edwards als aussichtslos gilt.

Kerry gewinnt, weil …

Ist demzufolge John Kerry absolut chancenlos?

Neben dem Vorteil der frühzeitig entschiedenen Vorwahlen – deren Fortführung als Wettbewerb bis Juni hätte die Demokraten zersplittert – sind es vor allem Schwächen im Erscheinungsbild und in der Amtsführung des Präsidenten, die John Kerry zum Sieger machen könnten. 2,5 Millionen Arbeitsplätze weniger und ein Rekorddefizit machen die Wirtschaftsbilanz des Präsidenten trotz jüngster Aufschwungsignale zum Desaster, nach Clintons Triumph 1992 hieß es „It’s the economy, stupid!“. Vor allem heißt es das derzeit in Ohio, wo prompt eine leichter Vorteil Kerrys in den Umfragen feststellbar ist.

Die Außenpolitik des Präsidenten ist zwar für viele US-Amerikaner eine Erfolgsgeschichte, aber das Dilemma um ignorierte Sachinformationen zugunsten des Irak-Kriegs und nicht gefundene bzw. erfundene Massenvernichtungswaffen – inklusive eines sehr fragwürdigen Humors, als er diese kichernd vor laufenden Kameras im Weißen Haus symbolisch suchte – führte Bush an den Rande des Abgrunds. Durch die Folterbilder ist er fast schon einen entscheidenden Schritt weiter.

…die kleinen Dinge entscheiden

Kommt es zu weiteren terroristischen Anschlägen, geht sogar der Mythos des 11. September und der inneren Sicherheit verloren. Bush profitiert vom seinerseits – siehe Michael Moores Fahrenheit 9/11 – sorgsam geschürten Angstgefühl der Bevölkerung, nicht aber wenn dieses sich als gerechtfertigt erweist. Administrative Skandale von unterdrückten Geheimdienstinformationen bis zur Verbindung von Vizepräsident Cheney mit dem Ölkonzern Halliburton können Bush endgültig in den Abgrund fallen lassen.

Kerry gewinnt aber primär, wenn eine Mehrheit der US-Amerikaner die Schlüsselfrage, ob es Ihnen persönlich besser geht als vor vier Jahren – „Are you better than you were four years ago?“ – in wirtschaftlicher Hinsicht sowie auf das Gesundheits- und Sozialsystem bezogen jeweils mit einem klaren Nein beantwortet. Weniger die Außen- und Sicherheitspolitik als die kleinen Dinge des täglichen Lebens und deren Überteuerung in den USA müssten Bush zum Wahlverlierer machen.

Gut an demokratischen Wahlen ist jedoch, dass wir vorher nicht wissen, wie es wirklich ausgeht.

Der Autor Peter Filzmaier ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Klagenfurt und Autor des Buches Wahlkampf um das Weiße Haus: Präsidentschaftswahlen in den USA (Opladen, Leske&Budrich 2001).

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