Im Rahmen der von der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius organisierten Veranstaltungsreihe „Was hält unsere Gesellschaft zusammen“, diskutierten interessante Gäste in der gut gefüllten Kalkscheune in Berlin, über das Thema „70 Jahre Grundgesetz. Schützt die Verfassung unsere digitalisierte Gesellschaft?“. Es wurde die Frage nach neuen digitalen Grundrechten aufgeworfen und debattiert. Braucht die Verfassung Ergänzungen im Hinblick auf die neuen Herausforderungen des digitalen Zeitalters?

Brauchen wir digitale Grundrechte?

Zur Einleitung und als Impuls für die darauffolgende Podiumsdiskussion hielt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ehemalige Bundesjustizministerin und stellvertretende Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung, einen Vortrag über die grundsätzlichen Entwicklungen und Veränderungen des Grundgesetzes seit 1949. Sie hob insbesondere die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Rechtsprecher und Schutz der Bürgerinnen und Bürger gegen staatliche Überwachung und Eingriffe hervor. Die FDP Politikerin sieht die Grundrechte durch die Digitalisierung großen Veränderungen ausgesetzt und die Erfassung von Daten als „die Grundvoraussetzung dieser Entwicklung“. Bestehende Rechtsprechung für den digitalen Bereich, wie beispielsweise das Recht auf Vergessenwerden, würden unzureichend umgesetzt. Daher fordert Leutheusser-Schnarrenberger mehr Transparenz und Offenlegung von Algorithmen, die Übernahme von Verantwortung durch die Plattformbetreiber sowie eine bessere Rechtsdurchsetzung, „Der ewige Kampf um Freiheit und Grundrechte muss immer wieder neu gewonnen werden, auch im digitalen Zeitalter”.

Im Anschluss an diese Einleitung stellte Moderator Dr. Heinrich Wefing, Ressortleiter Politik bei „Die Zeit“, die weiteren Podiumsgäste des Abends vor. Neben Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, saßen auf dem Podium Prof. Dr. Gesche Joost, Leiterin des Design Research Lab der Universität der Künste Berlin und Principal Investigator beim Weizenbaum Institut für die vernetzte Gesellschaft, Prof. Dr. Heinz Bude, Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel und Mitinitiator der Digital-Charta, sowie Markus Beckedahl, Gründer und Chefredakteur von netzpolitik.org und Gründer der re:publica.

Die erwähnte Digital Charta wurde von der Zeit-Stiftung maßgeblich mitinitiiert und ebenfalls kurz vorgestellt. Es handelt sich hierbei um eine Charta, in welcher Bürgerinnen und Bürger 18 digitale Grundrechte ausgearbeitet haben, welche dann dem Europäischen Parlament vorgelegt wurden.

„Es ist vorbei mit der Souveränität der Bürger“

Einleitend in die Diskussion fragte Heinrich Wefing nach den größten durch die Digitalisierung entstandenen oder gerade entstehenden Herausforderungen für das Grundgesetz. Gesche Joost, die sich im Weizenbaum Institut seit 3 Jahren mit digitaler Selbstbestimmung auseinandersetzt, zog den Schluss, dass diese Selbstbestimmung heute nicht mehr gegeben sei. Sie meint: „Es ist vorbei mit der Souveränität der Bürger“, da die drei Grundlagen für eine digitale Selbstbestimmung also die rechtliche Grundlage bzw. die Regulierung, die technologische Umsetzbarkeit und die individuelle Kompetenz in den meisten Fällen nicht umfassend gegeben seien. Somit bestehe kein effektiver Schutz der Souveränität der Bürgerinnen und Bürger. Markus Beckedahl sieht neben dem unzureichenden Schutz durch den Staat auch staatliche Institutionen und Überwachungsmaßnahmen selbst als Gefahr für die bürgerlichen Grundrechte. Die zweite große Gefahr besteht für ihn in der Abhängigkeit von den Plattformgiganten. Facebook, Microsoft oder Google würden durch ihre Kontrolle verschiedenster Lebensbereiche eine neue Form von Staaten entstehen lassen. Google beispielsweise kontrolliert die Betriebssysteme von 80-90% der Handys weltweit, 93% der Suchanfragen in Deutschland und über Youtube, „die Unterhaltungsbranche einer ganzen Generation“. Auch Heinz Bude schloss sich dieser Einschätzung an, für ihn sind diese großen Plattformen „nicht marktbeherrschend“, sondern „ihnen gehören die Märkte“.

Wem gehören Daten?

Bude schlug als Alternative zum Modell der einseitigen Datenverarbeitung durch große Plattformbetreiber, ein „Daten für Alle“-Konzept vor. Er verglich das mit der Idee die Atmosphäre, im Sinne des Klimaschutzes, als Gemeingut zu definieren. Ein Komplexitätsproblem sieht er nicht: „Ich glaube diesem ganzen Komplexitätsgerede nicht, Komplexität ist zurückführbar, man muss es nur wollen“, meinte er dazu, während Markus Beckedahl an dieser Stelle noch den Bedarf von technologischer Weiterentwicklung betonte, vor allem bei der Anonymisierung von Daten, die heute noch nicht sicher genug sei um einerseits Datenschutz zu gewährleisten und andererseits umfassende Datenmengen der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wies zudem darauf hin, dass es auch Daten gäbe, die nicht unbedingt für alle verfügbar sein sollten und auch Datensparsamkeit und das Begrenzen der Datensammlung sinnvoll sein können.

Der Europäische Weg der Digitalisierung

In Anbetracht der zwei weltweit konkurrierenden Digitalisierungsmodelle, also dem amerikanischen Modell mit den großen Plattformunternehmen und dem chinesischen Modell mit einem Social-Credit-System, welches durch die Erhebung personenbezogener Daten die Stellung einer Person in der Gesellschaft definiert und beispielsweise die persönlichen Handlungsmöglichkeiten finanzieller oder sozialer Natur einschränken kann, sehen die Podiumsgäste den Bedarf für ein eigenes europäisches Modell mit einer Orientierung am Gemeinwohl. Bei der Ausgestaltung und Umsetzung dieses Modells gab es allerdings noch etwas unterschiedliche Vorstellungen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger forderte eine strengere Regulierung von Unternehmen wie Facebook und schreckte auch vor der Forderung nach einer Zerschlagung nicht zurück. Außerdem wünscht sie sich mehr gesellschaftliches Engagement dafür, die „Selbstbestimmung im Netz durchzusetzen“. Markus Beckedahl sieht zusätzlich den Staat in der Pflicht für die Vermittlung digitaler Kompetenz, die in der Vergangenheit nicht stattgefunden hat und führt darauf ein fehlendes politisches Bewusstsein in der Bevölkerung zurück.

Für Heinz Bude besteht das europäische Modell in der Vergabe von sozialen Rechten, die auf die digitale Ebene erweitert werden müssten. Er hält Europa in diesem Bereich auch für innovationsfähig und sieht keinen Bedarf an mehr digitaler Bildung: „ich glaube auch nicht, dass wir ein Problem mit Bildung lösen können dieser Art, […] die ganze Idee mit der Kompetenz: forget it. Es geht um soziale Rechte.” In diesem Punkt widersprachen ihm die anderen Panelisten jedoch entschieden, Gesche Joost betonte „man braucht Bildung als Grundlage für unsere gesellschaftliche Verfasstheit“ und auch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sieht Bildung und die Vermittlung von Werten als Grundlage, „durch die man Bewertungen vornehmen kann und Mündigkeit entwickelt“.

Markus Beckedahl sprach sich für einen europäischen Weg mit Bereitstellung von gemeinwohlorientierter Infrastruktur aus, wodurch Unternehmen wie Microsoft, die heute einen Großteil der Verwaltungsinfrastruktur kontrollieren, zumindest ein Stück weit Kontrolle entzogen werden könne. Die aktuelle Digitalpolitik sei nur Industriepolitik, die Start-Ups fördert, aber eben keine systemische Veränderung hervorbringe, sondern nach der gleichen Marktlogik funktioniere wie es in den USA der Fall ist. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Prof. Dr. Gesche Joost sehen das ähnlich, zwar gäbe es weltweit gesehen eine Bewegung, hin zu Forderungen nach mehr Regulierung, die bundesdeutsche Politik sei jedoch geprägt von der Idee, man müsse wirtschaftlich aufholen und am besten jetzt selbst „ein Google“ entwickeln.

Titelbild by: politik-digital