Titelbild: Istanbul von MacPepper via flickr CC BY-NC-SA 2.0In sechs Tagen wird in der Türkei über das Referendum abgestimmt. Im Vorfeld konnten wir mit dem türkischen Gastforscher Melih Kırlıdoğ über Meinungsfreiheit, soziale Medien und Erdoğans Referendum reden.

Melih Kırlıdoğ war bis vor kurzem Professor an der Nişantaşı Universität in Istanbul. Seine Anstellung wurde ihm aufgekündigt. Kırlıdoğ hatte mit über 2.200 AkademikerInnen eine Petition unterschrieben, in der die Regierung wegen ihres Vorgehens gegen die Kurden kritisiert wird. Die AkademikerInnen nennen sich selbst die „Academics for Peace“.

Kirlıdoğ ist einer von knapp 400 AkademikerInnen, die deshalb entlassen wurden. Er hatte Glück und die Möglichkeit, sich vorerst ins Ausland abzusetzen. Seit drei Monaten ist er Gastforscher am Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin.

Obwohl derzeit einige AkademikerInnen das Land verlassen können, bleibt anderen bis auf weiteres die Ausreise verwehrt. Zwar ist ihnen theoretisch erlaubt, eine Anstellung im privaten Sektor zu finden, in der Praxis gestaltet sich dies jedoch schwierig. Private Unternehmen fühlen sich unter Druck gesetzt und fürchten Konsequenzen, sollten sie entlassene AkademikerInnen einstellen.

Wir haben mit Melih Kırlıdoğ reden können. Über die Meinungsfreiheit in der Türkei und die Rolle der sozialen Medien. Und über Erdoğan, das anstehende Referendum und wie seine „Troll-Armee“ ihn im Netz unterstützt.

politik-digital: Früher war es möglich Erdoğan öffentlich zu kritisieren, wie hat sich das mit der Zeit verändert?

Melih Kırlıdoğ: Erdoğan war bis zu den Gezi-Aufständen 2013 ein sehr erfolgreicher und angesehener Machthaber. Er hatte es scheinbar geschafft, die Demokratie mit einem moderaten Islam zu verbinden. Doch die Brutalität Erdoğans, mit der er gegen die friedlichen Demonstranten vorgegangen war, hat sein Image zerstört. Seitdem wird es immer schwieriger, sich öffentlich zu äußern. Nehmen wir das Beispiel des bevorstehenden Referendums am 16. April. Auf den Straßen ist es zwar immer noch möglich, die Nein-Kampagne zu unterstützen, doch ist es nicht unüblich, dass man dabei von der Polizei inhaftiert wird. Obwohl die meisten schnell wieder freikommen, ist das schon Einschüchterung genug. Gefahr geht auch von einigen AKP-Anhängern aus. Sie greifen zu physischer Gewalt und werden dabei von der Polizei beschützt.

Verhält sich das in den sozialen Medien ähnlich?

Ja, dort gilt das gleiche. Obwohl einige Menschen sehr ängstlich sind, sich kritisch gegenüber Erdoğan zu äußern, formt sich immer mehr Widerstand. Es gibt viele, die Erdoğan oder seine Partei AKP öffentlich bloßstellen und kritisieren. Genug Material liefert Erdoğan ja allemal.

Wie frei ist die türkische Presse?

Es gibt einige Nachrichtenportale, die immer noch sehr kritisch berichten. Ein Beispiel für die Standhaftigkeit der Nachrichtenportale ist die Zeitschrift Cumhuriyet. Obwohl elf Journalisten der Zeitung schon im Gefängnis sitzen, ist sie in Print und online präsent und gibt nicht auf. Hunderte andere Nachrichtenportale wurden bereits geschlossen. Es wird zunehmend schwieriger.

Können die sozialen Medien hier Abhilfe leisten?

Soziale Medien sind für die türkische Gesellschaft sehr wichtig. Im Gegensatz zu Deutschland ist die Türkei sehr politisiert. Soziale Medien ermöglichen die Kommunikation und den Nachrichtenaustausch der Erdoğan-Gegner. Einige ignorieren die Gefahr, ins Gefängnis zu kommen und nehmen Morddrohungen gelassen hin.

Haben Sie ein Beispiel für uns?

Während der Gezi-Aufstände konnte man erkennen, wie wertvoll soziale Medien sein können. Da die Presse zu eingeschüchtert war, halfen an ihrer Stelle vor allem Twitter-User aus, um von den Aufständen zu berichten und die Situation öffentlich zu diskutieren.

Wie reagierte Erdoğan darauf?

Erdoğan hatte als Reaktion darauf Twitter als eine Plage beschimpft. Außerdem konnte Erdoğan das im Jahr 2007 beschlossene Gesetz Nummer 5651 einsetzen, welches ihm in der Praxis dazu bemächtigt, das Internet zu zensieren. Zurzeit sind hunderttausend Webseiten ständig geblockt.

Zählen zu diesen Webseiten auch die großen internationalen Webseiten wie Facebook, Twitter und Youtube?

Diese Webseiten sind meist aufrufbar. Nur nach terroristischen Angriffen oder dem Korruptionsskandal gegen Erdoğan und seine Familie hatte die Regierung Twitter vorübergehend abgeschaltet. Wegen des internationalen Drucks schaltet Erdoğan diese Webseiten aber nicht auf Dauer ab. In den letzten Jahren ist die Regierung kreativ geworden. So verlangsamen sie durch Datenratenbegrenzung Twitter nach kritischen Ereignissen so stark, dass kaum jemand Zugriff hat.

mkirlidogMelih Kırlıdoğ ist Gastforscher am Humboldt Institut für Internet und Gesellschafft in Berlin. Im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie hat er sowohl im Industriesektor als auch als Akademiker gearbeitet. Sein Forschungsinteresse gilt der Internetzensur und der Überwachung.

Wie passt dieses Verhalten von Erdoğan damit zusammen, dass er bei Twitter auf zehn Millionen Follower zurückgreifen kann und auch fleißig tweetet?

Nachdem Erdoğan Twitter als Plage beschimpft hatte, wechselte er kurze Zeit später seinen Kurs. Wir wissen inzwischen, warum dieser Strategiewechsel stattfand. Erdoğan hatte in der Zeit eine „Social-Media Armee“ mit 6.000 Mann aufgebaut, die sogenannten AKP-Trolle. Sie arbeiten unter anderem daran Bots zu programmieren. Diese unterstützten Erdoğan zahlreich in seinen Kommentaren und Anschuldigungen und verherrlichen ihn bei Twitter. Ein Beispiel dafür war der Hashtag #WeLoveErdogan, der von Twitter mittlerweile entfernt wurde.

Woher stammen die Informationen zu dem Strategiewechsel?

Die Details zu der Troll-Armee wurden auf Wikileaks veröffentlicht. Der linksradikalen türkischen Hackergruppe RedHack war es gelungen, an rund 57.000 Emails des Energieministers und Schwiegersohn Erdoğans Berat Albayrak zu gelangen. Diese Emails dokumentierten die Etablierung der Troll-Armee. Auch die Inhaftierung von Deniz Yücel könnte damit zu tun haben. In der Welt hatte er über den Inhalt der geleakten Emails geschrieben.

Meinen Sie, dass Yücel verhaftet wurde, weil er über die Troll-Armee berichtet hat?

Die geleakten Emails, über die auch Yücel berichtet hatte, deckten einen weiteren Skandal auf. So konnte eine Verbindung zwischen Albayrak und dem Unternehmen Powertrans bewiesen werden. Powertrans betreibt Ölhandel mit dem sogenannten Islamischen Staat, obwohl dies von den Vereinten Nationen untersagt ist.

Welche Rolle spielen digitale Mittel in der türkischen Politik?

Um die Frage zu beantworten, müssen wir ein wenig zurückblicken. Vor den Gezi-Aufständen verstand sich Erdoğan gut mit der Gülen-Bewegung. Die AKP und die Gülenisten haben sich in dieser Zeit zusammengetan, um den autoritären, säkularen Beamtenapparat zu bekämpfen. Denn unabhängig davon, wer die Regierung stellte, zog der Beamtenapparat hier die Fäden.  Beide Parteien bildeten ein erfolgreiches Team mit großer Reichweite. Die Gülenisten scherten die Gebildeten um sich, während die AKP die weniger gebildeten dazu holte. Eine unschlagbare Kombination.

Wie haben sie es geschafft, den Beamtenapparat aufzubrechen?

In den Jahren 2009 und 2010 kam es zu mehreren entscheidenden Gerichtsverhandlungen. Diese wurden, wie später rausgefunden wurde, auf Grundlage von gefälschten digitalen Beweisen eröffnet. Die Polizei, die von Gülenisten besetzt war, hatte Beweise angefertigt. Sie wurden an die Computer einiger Oberer Generäle verschickt und dort hinterlegt. Die Polizisten untersuchten die Fälle und verhafteten die Generäle. Staatsanwälte, die auch zu den Gülenisten zählten, klagten sie an und Gülen-Richter verurteilten sie zu mehreren Jahren Gefängnis. Der Gülen-Kader wurde von der AKP in die Polizei und Justiz eingeschleust und genoss Erdoğans vollstes Vertrauen. Erstmals in der Geschichte konnte eine Führungsschicht mit Hilfe von gefälschten digitalen Beweisen aufgebrochen werden und abgesetzt werden.

Wie wir wissen: Nach der Zusammenarbeit kam schnell der Bruch.

Die ehemaligen Verbündeten wollten nun für sich die Macht sichern. Beide nutzten verschiedene Strategien, um den anderen zu schwächen. Anhänger der Gülen-Bewegung hatten es geschafft, Erdoğans Telefon anzuzapfen und ihn bei einem Gespräch mit seinem Sohn Bilal aufzunehmen. Erdoğan wies seinen Sohn dabei an, Bestechungsgelder von 10 Millionen Dollar nicht anzunehmen – denn Erdoğan wollte mehr Geld rausschlagen. Ende 2013 wurden Erdoğan und seine Familie von der mit Gülen-Anhängern bestückten Justiz vorgeladen. Vier Kabinettsminister mussten daraufhin zurücktreten. Erdoğan konnte sich jedoch aus den Korruptionsvorwürfen herauswinden und startet seitdem seine eigene Offensive.

Was war Erdoğans Antwort?

Nach und nach entließ Erdoğan die Anhänger der Gülen-Bewegung aus ihren Ämtern. Der Putschversuch im Sommer 2016 ist bis jetzt der letzte Höhepunkt in diesem Machtkampf. Den Putschversuch, der, wie ich glaube, tatsächlich von der Gülen-Bewegung geplant wurde, deklarierte Erdoğan als Geschenk des Himmels. So konnte er nicht nur gegen Gülen-Anhänger vorgehen, sondern gegen alle Regimekritiker.

Nun konnte Erdoğan ein Referendum einfädeln, dass ihm noch mehr Macht geben würde. Wie lauten Ihre Prognosen für den Ausgang des Referendums?

Die AKP kann während ihrer Kampagne auf unbegrenzte staatliche Mittel zurückgreifen. Die Gegenseite der Nein-Kampagne hat diese Möglichkeiten nicht. Zusätzlich werben fast ausschließlich die Massenmedien inklusive der Öffentlichen, ob Print oder elektronisch, für die Unterstützung des Referendums am kommenden Sonntag. Dennoch liegen nach Umfragen die Nein-Wähler bis dato knapp vorne. Was Erdoğan in den Tagen vor dem Referendum machen wird, ist schwer zu vorherzusagen. Er ist kein Politiker, der sich mit einer Niederlage zufriedengeben wird. Deswegen müssen wir mit allem rechnen.

Was könnten mögliche Szenarien sein?

Dass künstliche Krisen mit anderen Nachbarn heraufbeschworen werden könnten, ist kein abwegiges Szenario. Mit den Niederlanden ist ihm das gelungen. Mit Deutschland hat er dies nicht weiterverfolgt. Wahrscheinlich, weil es nicht so erfolgversprechend war. Ich glaube, dass Erdoğan keine großen Pläne entwirft, sondern auf Situationen reagiert. Deshalb weiß niemand, was vor oder nach den Wahlen passieren wird.

 

 

Titelbild: Istanbul von MacPepper via flickr CC BY-NC-SA 2.0

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