Bild_DesignthinkingWenn wir vor einem Problem stehen, haben wir die Lösung häufig schon im Kopf und kommen immer wieder zu den gleichen Antworten. Dass es auch anders gehen kann, haben Juergen Erbeldinger und Thomas Ramge in ihrem Buch „Durch die Decke denken“ beschrieben. Dahinter steht das Konzept des Design Thinking, eine Management- und Innovationsmethode, die künftig stärker in der Politik eingesetzt werden soll. Wie das gehen kann, erklärt Autor Juergen Erbeldinger im Interview.
politik-digital: Fangen wir mal von hinten an: Was beschäftigt Sie, nachdem das Buch erschienen ist, derzeit beim Thema Design Thinking?
Juergen Erbeldinger: Derzeit beschäftigt mich das fünfte Kapitel. Im Buch haben wir uns dafür entschieden, nach vier Kapiteln Schluss zu machen. Das erste Kapitel behandelt die Frage: Wie funktioniert Design Thinking konkret? Wie führt man Workshops und Projekte durch, wie verändert man Unternehmen? Das, was mich jetzt sehr stark interessiert, ist die Frage „Wie kann man Design Thinking als Methodenset einsetzen, um gesellschaftspolitisch relevante Fragen zu behandeln?”. Das wird das fünfte Kapitel.

Dr. Juergen Erbeldinger beschäftigt sich seit zehn Jahren mit Innovations-Management. Er ist Gründer und CEO der partake AG mit Sitz in Berlin. Erbeldinger studierte Volkswirtschaftslehre und Mathematik an der Freien Universität Berlin. Zusammen mit dem Wirtschaftstheoretiker Professor Ulrich Baßeler beschäftigte er sich mit der Simulation von ökonomischen Prozessen und promovierte über die Zusammenhänge zwischen Geldpolitik und Ökonomie. Er berät Unternehmen und Organisationen mit Schwerpunkt auf Innovation von Geschäftsmodellen und -prozessen.
Das Buch „Durch die Decke denken – Design Thinking in der Praxis“ schrieb er gemeinsam mit dem Journalisten Thomas Ramge.

politik-digital: Wie kann Design Thinking interessant für die Politik werden?
Juergen Erbeldinger: Wenn man mit alten Methoden und immer den gleichen Ansätzen an Fragestellungen herangeht, dann kommen immer wieder dieselben Antworten heraus. Wenn man immer mit demselben Team arbeitet, bekommt man immer wieder die gleichen Aussagen. Deswegen ist die Herangehensweise im Design Thinking: Wenn es ein vertracktes Problem gibt und es bisher keine Lösung für dieses Problem gibt,muss man mit anderen Methoden arbeiten. Ein Beispiel: Stuttgart 21. Der Umbau des Stuttgarter Innenstadtbereiches ist ein solches Problem. Da sollte man nicht einfach auf ein über 15 Jahre laufendes Planänderungsverfahren setzen, und dann glauben, dass damit die Probleme gelöst werden.
politik-digital: Was wäre demnach die Strategie für dieses Problem?
Juergen Erbeldinger: Der Planungsansatz bei Stuttgart 21 war gekennzeichnet durch folgendes Vorgehen: “Ich weiß, was die Lösung ist, und jetzt beschreibe ich den Weg dahin“. Das waren alte Planungsansätze. Beim Design Thinking wird die Fragestellung umgedreht: Das Ergebnis bleibt erst mal unscharf und ungewiss. Vielmehr sollte die Frage nach der richtigen Frage gestellt werden! Um beim Thema S21 zu bleiben: Ist es die Aufgabe von S21 gewesen, den Zugfahrt nach Paris um 7 Minuten zu verkürzen? War das der Anlass für das Projekt? Mit gesundem Menschenverstand hätte man sich hier schon sehr früh fragen müssen, wie viele Leute denn überhaupt von Stuttgart nach Paris fahren und ob es das wirklich wert ist, dafür derart viel Geld auszugeben. Vermutlich hätte man dann schon sehr früh sehen können, dass es eigentlich um etwas ganz anderes geht. Wahrscheinlich wäre herausgekommen, dass es bei S21 konkret darum geht, den Güterbahnhof zu trennen, um damit eine Bundesstraße zu entlasten, denn da fehlte eine Zugstrecke.
Auf diese Art und Weise schält man Schicht von Schicht von jedem Problem herunter, bis man den Kern der Sache entdeckt. Und erst dann fängt man an, daran zu arbeiten. Aus diesem iterativen Vorgehen, dem Arbeiten mit Unsicherheit, entstehen neue Lösungen. Da sollte man auch mal für fünf Minuten zulassen, dass man das Ergebnis nicht kennt und noch nicht weiß, wie man dahin kommt.
politik-digital: Dieses Vorgehen ist für Politiker natürlich sehr untypisch, denn sie geben gerne vor, schon genau zu wissen, was sie wollen. Wie kriegt man Politiker dazu, dass sie Nichtwissen eingestehen?
Juergen Erbeldinger: Politiker treten gerne vor die Öffentlichkeit und behaupten, sie wüssten, wie es geht. Das tun sie, weil sie glauben, damit wiedergewählt zu werden und erfolgreich zu sein. Die Umkehrung von dem Prinzip wäre ja, dass Politiker bekennen „Ich weiß es nicht, aber ich beschäftige mich vernünftig mit dem Problem“. Wenn dieses Bekenntnis Erfolge bringt, dann wird sich etwas ändern. Deswegen muss man den Politikern verständlich machen, dass sie auch dann gewählt werden, wenn sie nicht behaupten, sie wüssten alles und würden alle Lösungen kennen. Weil es ihnen sowieso niemand abnimmt. Und ich glaube, dass wir an diesem Punkt anfangen, Verhaltensänderungen hervorzubringen.
politik-digital: Ist es auch ein Teil der Design Thinking-Methode, Verhaltensänderung bei den Rezipienten zu bewirken?
Juergen Erbeldinger: Ich bin mir sicher, wenn jemand erlebt, wie stark diese Methode echte Lösungen bringt, wenn man am Anfang die Lösung nicht kennt , dann wird er anfangen, das zu leben und sich verändern. Ich habe das am eigenen Leibe erlebt. Ich bin Volkswirtschaftler und noch dazu Theoretiker und habe mich mit der Bildung von Theorien beschäftigt. Analytischer und strukturierter geht es nicht! Dazu kommt meine zweite Profession als Mathematiker. Ich hab irgendwann gemerkt, dass etwas fehlt, wenn man immer nur analytische, dekonstruktivistische Ansätze wählt. Es geht mehr! Und tatsächlich sind Intuition, Pluralität, Transdisziplinarität und Kreativität Themen, die in diesem Jahrtausend eine riesige Rolle spielen werden. Weil sie viel angemessener für die Fragestellungen sind, als das, was wir in den letzten 100 Jahren gemacht haben.
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politik-digital: Als „Wunderheilmittel“ gegen Politikverdrossenheit werden seit einiger Zeit Partizipation und Bürgerbeteiligung genannt. Aber die Beteiligung der Bürger bleibt oft intransparent in diesen Verfahren. Meist wird nicht deutlich, was denn nun genau vom Bürger übernommen wurde. Ist es für Design Thinking nicht ein Ausschlusskriterium, wenn der Bürger nur konsultiert wird, aber nicht mitentscheiden kann?
Juergen Erbeldinger: Ich finde es grundsätzlich richtig, wenn man die Möglichkeit hat, den Bürger zumindest einzubinden, indem man ihn um seine Meinung fragt. Dafür bietet sich das Internet als Medium an, um ganz direkt Stellung zu verschiedenen Dingen zu beziehen. Wenn jemand eine Entscheidung trifft und dafür eintritt, muss er aber auch mit den Konsequenzen leben. Auch dann, wenn sein Vorschlag scheitert. Das unterscheidet den Bürger vom Politiker. Als Politiker übernehme ich politische Verantwortung und habe dann die Möglichkeit des politischen Rücktritts, wenn das, was ich vertrete, nicht funktioniert.
politik-digital: Verspricht Partizipation auf kommunaler Ebene mehr Erfolg, weil hier die Bezugspunkte zum täglichen Leben näher sind?
Juergen Erbeldinger: Ja. Ich denke, dass der Wunsch nach Teilhabe und Partizipation der Bürger größer ist, je näher die Politik an der Lebenswirklichkeit der Bürger ist. Natürlich ist ein Bürger, dem durch den Bau einer Starkstromtrasse eine Wertminderung seines Grundstücks ins Haus steht, sehr daran interessiert, dass diese Trasse nicht gebaut wird. Aber schon, wenn es darum geht, dass der Bau dieser Stromtrasse zu mehr Arbeitsplätzen führt und somit in vielerlei Hinsicht von Vorteil für diese Gemeinde ist, fällt auf, dass die Probleme vielschichtig sind. An dieser Stelle kommt Design Thinking wieder ins Spiel: Wenn die Leute mit ihren verschiedenen Interessen an einen Tisch geholt werden, wenn sie mal, etwa im Rahmen einer Simulation, Rollen tauschen und somit Gegenperspektiven kennenlernen, bringt das schon die erste Kommunikation. Design Thinking kann also durchaus ein Prozess sein, der die Art der Meinungsbildung entscheidend prägt und unter Umständen auch ganz andere Lösungen hervorbringen kann. Man sollte bei diesem Beispiel die Fragen stellen, ob die Trasse überhaupt in der Form gebaut werden muss oder ob es nicht Alternativen gibt. Darum geht es bei diesen Design Thinking-Konzepten.
politik-digital: Hätten Sie der Bundeskanzlerin nach Fukushima geraten, erst einmal zu warten, bevor der Atomausstieg beschlossen wird? Im Sinne des Design Thinking hätte sie Zeit und Raum benötigt, den die Regierung nicht hatte. Wie bringt man Zeit und den Zwang zur Reaktion im politischen Umfeld unter einen Hut?
Juergen Erbeldinger: Design Thinking braucht nicht notwendigerweise Zeit. Damit kann man sehr schnell reagieren. Zwar braucht man Zeit, um eine Energiewende zu bewerkstelligen, aber man braucht vor allen Dingen politischen Willen! Das betrifft aber nicht nur die Regierungsparteien. Als Rot-Grün damals den Atomausstieg verabschiedet hat, hätte man mit aller Macht darauf drängen müssen, Antworten auf die Frage zu finden: „Wie sieht denn jetzt das neue energiepolitische Konzept aus, mit dem wir die bundesdeutsche Wirtschaft in die Zukunft führen wollen?“.
Man hat zu spät angefangen, konsequent einen energiepolitischen Konsens zu finden und zu fragen, mit welchem Energiemix man zukünftig arbeiten will. Heute werden keine Pumpenkraftwerke mehr gebaut, weil Erdgas so billig ist. Was ist das denn bitte für eine kurzfristige Perspektive? Diese Fragen sollte man mal angehen! Und da ist Design Thinking eine der Methoden, mit der man da arbeiten kann.
politik-digital: Das wäre aber schon eine kleine Revolution, weil das ja eine andere Haltung bedingt. Sehen Sie Politiker, mit denen man so arbeiten könnte?
Juergen Erbeldinger: Ja, auf jeden Fall! Und das auch parteiübergreifend. Wir arbeiten an einem Format, das sich „governancelab“ nennt. Wir versuchen, einen Raum zu finden, in dem sich Politiker, Industrie und Bürger treffen können. Wir bieten Methodenwerkzeuge, Räume und vor allem auch erfahrene Moderatoren, um Probleme mit Design Thinking zu bearbeiten. Dieses Format haben wir im Bundestag vorgestellt. Viele MdBs sind offen für die Idee, mal einen neuen Meinungsbildungsprozess auszuprobieren. Und für viele war es vor allem interessant, in ihren Heimatwahlkreisen damit Themen zu besetzen. Hier sieht man wieder den Bezug zur regionalen Bindung. Interessanterweise haben sich auch die Industrieunternehmen, die wir angesprochen haben, in der gleichen Weise geäußert, da sie das alte Lobbying für tot erklärt haben. Ich glaube, dass man mit Design Thinking etwas aufbauen kann, was eine ganz große Akzeptanz haben wird.
politik-digital: Das heißt also, dass Lobbyvertreter in solche Prozesse mit einbezogen werden sollten?
Juergen Erbeldinger: Genau. Auf der einen Seite die Politik, also Politiker und Verwaltung, auch die Ministerialebene sollte mit einbezogen werden. Gleichzeitig müssen die betroffenen Unternehmen durch die vertretenden Lobbyisten mit an den Tisch. Und natürlich auch die Bürger.
politik-digital: Aber wer vertritt eigentlich die Bürger? Wie würden Sie die Bürger mit einbeziehen? Brauchen wir da eine Organisation?
Juergen Erbeldinger: Als Design-Thinker würde ich sagen, wir brauchen jeweils sehr starke segmentspezifische, beobachtende Benutzergruppen. Also würde man tatsächlich mal fragen, wer von dieser bestimmten Politikmaßnahme betroffen ist. Das genau ist der Gedanke: „Triff keine Annahme über deine Zielgruppe, sondern lade deine Zielgruppe mal ein“. Dann wird oft festgestellt, dass es gar nicht die richtige Zielgruppe ist. Das Ergebnis kann sehr verblüffend sein. Einfach nicht mit dem Bürger zu sprechen, weil man ihn nicht kennt, ist jedenfalls der falsche Weg.
politik-digital: Lässt sich Design Thinking auch digitalisieren bzw. virtualisieren oder ist der direkte, persönliche Kontakt nicht zu ersetzen?
cover_durchdiedecke_3D_kleinJuergen Erbeldinger: Ja und Nein. Man kann sehr viel über digitale Medien machen. Man kann sehr gut und schnell Informationen finden und verteilen. Man kann zusammen an unterschiedlichen Orten arbeiten, man kann sich austauschen, man kann skypen. Das alles hilft, Design Thinking zu ermöglichen, weil wir nicht im selben Raum sitzen müssen, aber wir müssen auch miteinander reden. Zudem lassen sich mit den digitalen Medien sehr gut Fragebogentechniken abbilden, Beobachtungssituationen jedoch weniger gut, weil die Kamera immer nur einen festen Punkt hat. Wenn ich aber mit dabei, also im selben Raum bin, dann kann ich selbst den Raum ganz anders wahrnehmen. Und diese Beobachtungssessions, also, wenn man einen Kunden einen ganzen Tag oder eine ganze Woche lang begleitet, und schaut, was er macht, das lässt sich aus meiner Sicht nicht digitalisieren.
politik-digital: Brauchen wir eine andere Haltung bei den Politikern, diese Sachen selbst erleben zu wollen, zu erfahren und zu teilen? Ist es eine Plattitüde zu sagen, die Politiker früher waren ja noch „Leute wie wir, wie das Volk“?
Juergen Erbeldinger: Ich finde die Plattitüde an der Stelle sehr hilfreich. Aus des Volkes Mitte, das ist doch gut. Ich möchte mich jetzt nicht als Helmut Kohl-Fan outen, aber das war jemand, der in seinem Wahlkreis sehr stark verankert war. Johannes Rau genauso. Aber je mehr man sich entfernt von den Leuten, die man vertritt, braucht man Instrumente, um zu verstehen, wen man da überhaupt vertritt, wer das überhaupt ist. Da würde ich ansetzen, und da kann Design Thinking einen großen Beitrag leisten. Ein Verständnis haben für denjenigen, den man vertritt und für dessen Bedürfnisse. Eine Innovation der Methoden, wie man zu Entscheidungen kommt und natürlich auch der Prozess, mit dem man arbeitet. Auch Liquid-Themen will ich da nicht ausschließen.
 
Bilder: HainYogi (CC BY NC SA), partake AG , Redline Verlag