SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil spricht darüber, weshalb Digitalisierung nicht nur ein Berlin-Mitte-Thema ist.

Der 40-Jährige ist seit 2017 Generalsekretär der SPD. Vorher hat er sich als netzpolitischer Sprecher seiner Partei einen Namen gemacht. Seit 2009 ist Klingbeil Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Sein Wahlkreis liegt in der Lüneburger Heide, wo er auch geboren und aufgewachsen ist.

politik-digital.de: Herr Klingbeil, Sie sitzen uns heute als Generalsekretär und ehemaliger Netzpolitiker gegenüber. Wird man so was eigentlich wieder los?

Lars Klingbeil: Das möchte ich gar nicht loswerden, das hat mich geprägt. Nach acht Jahren als Netzpolitiker hat man den Blick nach vorne verinnerlicht und diese Grundhaltung habe ich auch als Generalsekretär. Und ich glaube auch, dass es ganz viele Parallelen gibt zwischen der Zukunft der Sozialdemokratie und der Digitalpolitik.

Welche Parallelen sind das denn?

Ich habe immer dafür geworben, dass wir Digitalisierung nicht technisch betrachten, sondern als gesellschaftspolitischen Wandel. Zum Beispiel in Bezug auf den Wandel des Arbeitsmarktes. Aber wie definiere ich neue Berufsbilder? Wie sieht die richtige Balance von Freiheit und Schutz aus? Es ist die Aufgabe der SPD, das zu definieren. Wir waren die erste Partei, die die Industrialisierung im Sinne der Menschen gestaltet hat. Das ist auch bei der Digitalisierung so.

Ist das Thema Digitalisierung beziehungsweise digitale Transformation außerhalb der deutschen Großstädte überhaupt der SPD-Klientel zu vermitteln?

Meine Heimat ist auf dem Land. Wenn da Unternehmen abwandern, weil sie keinen Zugang zum schnellen Internet haben, oder wenn die Menschen jeden zweiten, dritten Tag in der Zeitung lesen, dass sie ihre Jobs verlieren durch die Digitalisierung – dann ist das eine Angst, die die Leute treibt. Darauf muss Politik Antworten geben. Und zwar nicht nur für Berlin-Mitte.

Wie kann denn die SPD den Menschen die Angst vor der Digitalisierung und der Zukunft nehmen?

Indem man aus einem technologischen Fortschritt auch einen sozialen Fortschritt macht. Die SPD tritt zum Beispiel für ein Recht auf Weiterbildung ein. Das gibt es bisher nur, wenn man arbeitslos ist. Aber ich finde, das gehört mitten ins Berufsleben. Andere Parteien sind da komplett anders aufgestellt. Die Union, die eher am Status quo festhält, oder die FDP, die jedem viel Glück wünscht auf dem weiteren Weg, aber nichts an den Rahmenbedingungen ändern will. Die SPD ist die Partei, die den Leuten sagt: Habt keine Angst, ihr könnt euch auf uns verlassen, aber ihr müsst euch mit uns auf den Weg machen.

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Glauben Sie denn, dass die Gewerkschaften als Arbeitnehmervertreter*innen gut aufgestellt sind, um ihre Klientel auf das Thema vorzubereiten?

Ich erlebe schon, dass sich die Gewerkschaften immer mehr mit der Veränderung von Arbeit durch Digitalisierung auseinandersetzen. Die Themen Weiterbildung oder mobiles Arbeiten tauchen zum Beispiel immer öfter in Tarifverträgen auf. Aber ich merke eben auch, dass es immer noch Bereiche gibt, in denen es noch überhaupt keine Interessensvertretung oder nur sehr wenig Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gibt.

Früher haben Arbeitnehmer*innen im Durchschnitt sicherlich länger für eine Firma gearbeitet und deswegen vielleicht auch mehr Schutz gebraucht. Heute ist jedoch die Job-Fluktuation viel höher. Sind die SPD und die Gewerkschaften auf diese neue Arbeitswelt vorbereitet?

Dass heute die Menschen nicht mehr ihr ganzes Leben bei einem Unternehmen arbeiten, sondern öfter den Job wechseln, bedeutet doch nicht, dass sie weniger Schutz brauchen, sondern mehr! Egal ob nach einer Gründung, als Selbstständig*er oder Angestellt*er – es muss immer klar sein, dass ich mich auf den Sozialstaat verlassen kann, wenn es hart auf hart kommt. Das gilt insbesondere dann, wenn sich meine Lebenssituation verändert, ich zum Beispiel ein Kind bekomme oder krank werde. Damit das auch für eine veränderte Arbeitswelt gilt, brauchen wir einen neu aufgestellten Sozialstaat.

Sprechen wir über ein anderes Thema: Genauso wie sich der Arbeitsmarkt wandelt, verändert sich auch die Mobilität. In Zukunft wird nur noch ein kleiner Teil der Autos, die wir heute besitzen, auf den Straßen herumfahren.

Ja, das wird sich drastisch verändern. Von meinen Freunden, die in größeren Städten wohnen, hat heute fast niemand mehr ein Auto. Ich weiß noch, wie ich mal ein Gespräch mit Vertreter*innen der Automobilkonzerne hatte. Und meine erste These war, dass in zehn Jahren niemand mehr ein Auto hat und alle sich einen anderen Zugang zu Mobilität besorgen. Und ab diesem Moment gab es sofort eine Konfrontation. Ich habe etwas infrage gestellt, das für die Anwesenden Status quo war und woran sie festhalten wollten. Für diese Offenheit kann ich aber nur werben. Das ist auch Aufgabe von Menschen, die Unternehmen lenken. Die müssen sich fragen: Will ich denn, dass mein Unternehmen in zehn Jahren noch existiert? Wenn ja, müssen sie an neuen Mobilitätskonzepten arbeiten.

 

„Als Macron seine KI-Strategie vorgestellt, präsentiert Andreas Scheuer seine Funkloch-App“

 

Wie weit reicht denn unser Blick, wenn wir über die digitale Zukunft sprechen?

Meine Befürchtung ist, dass wir gerade nicht weit genug nach vorne schauen, sondern viel zu kleinteilig bleiben. Deutschland hat einen großen Rückstand in vielen Bereichen und wir achten nicht genug darauf, was andere Länder machen. Zum Beispiel im Bereich künstliche Intelligenz – viele Expert*innen sind der Meinung, dass Deutschland da total hinterherhinkt. Ja, wir hinken total hinterher. In den Tagen, in denen Macron seine KI-Strategie vorgestellt hat, hat Andi Scheuer seine Funkloch-App präsentiert. Das ist für mich sinnbildlich, wie die Dinge falsch laufen. Die USA und China haben KI als zentrales Zukunftsfeld definiert und stecken gerade richtig viel Geld in die Entwicklung künstlicher Intelligenz. Ich bin froh, dass die Bundesregierung jetzt endlich eine eigene KI-Strategie beschlossen hat.

Vor kurzem hat Zalando über Nacht 250 Mitarbeiter aus seinem sehr erfolgreichen Marketingteam entlassen und durch den Versuch einer KI-Logik ersetzt. Was sagen Sie dazu, dass Leute ihren Arbeitsplatz verlieren, dank der KI?

Wenn wir immer am Status quo festhalten würden, würden bei mir zu Hause in der Lüneburger Heide auf dem Acker immer noch vierzig Leute stehen und nicht nur einer, der die Maschine bedient. Es wird diese Entwicklung geben, da darf Politik den Menschen nichts vorgaukeln. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Menschen in den betroffenen Jobs weiterqualifiziert und aufgefangen werden. Dieser Vorgang zeigt aber auch, wie wichtig es ist, die Rechte der Mitarbeiter von Online-Plattformen zu stärken.

Was halten Sie von der Idee eines Daten-für-alle-Gesetzes von Frau Nahles?

Das halte ich für richtig. Wenn wir anderen Unternehmen den Zugang zu den Daten der großen Player ermöglichen, dann steigert das die Innovationschancen.

Geht es dabei nicht eigentlich viel mehr um Algorithmen für alle? Die bloßen Daten bringen uns ja nichts.

Daten sind heute Macht und diese Macht konzentriert sich auf sehr wenige. Wir müssten da bessere Zugänge schaffen. Diese Rückmeldung bekomme ich auch aus der deutschen Startup-Szene.

 

„Eine Lücke für eine europäische, wertebasierte KI-Entwicklung“

 

Welches Modell sollte Europa denn Ihrer Meinung nach vertreten im Vergleich zu den KI-Aktivitäten von China oder den USA?

Da haben wir auf der einen Seite das Silicon-Valley-Modell der USA, unternehmergetrieben und mit wenig staatlicher Regulierung. Dem gegenüber steht das staatsgetriebene chinesische Modell mit überhaupt keinem Datenschutz. Dazwischen bietet sich meiner Meinung nach eine Lücke für eine europäische KI-Entwicklung basierend auf Datenschutz und einem europäischen Werteverständnis.

Diese Aussage zu einem europäischen, wertebasierten Modell hört man ja sehr oft. Auf der anderen Seite wären Konzerne wie Facebook oder Google in Europa einfach nicht möglich gewesen.

Wenn Ihre These, dass Regulierung Innovation verhindert, stimmt, dann müsste Deutschland ja ein sehr rückständiges Land sein. Aber unserer Wirtschaft geht es sehr gut. Ob sie den Wandel hinbekommt, ist die andere Frage. Uns geht es in Deutschland so gut, weil wir Innovation und Regulierung zusammengebracht haben. Daran sollten wir uns auch in Zukunft orientieren.

 

„Gründen müsste eigentlich innerhalb von 48 Stunden möglich sein“

 

Waren Sie überrascht, dass Tim Cook neulich gesagt hat, die DSGVO sei ein tolles Modell?

Ich halte die DSGVO nach wie vor für richtig, deshalb habe ich auch dafür gekämpft. Wir müssen jetzt aber überprüfen, ob sie an allen Stellen so wirkt, wie wir das wollen.

Welche Themen müssten wir beim Bürokratieabbau anpacken, damit mehr Menschen in Deutschland gründen?

Vor allem geht es um das Gründen selbst. In den Koalitionsverhandlungen haben wir darüber diskutiert, dass Gründen eigentlich innerhalb von 48 Stunden möglich sein müsste. Als Zweites haben wir vorgeschlagen, dass man die Gründer nicht in den ersten Jahren von den Sozialabgaben befreien sollte. Da gibt es ja auch in anderen Ländern gute Modelle. Leider sind wir uns in diesem Punkt nicht mit der Union einig geworden.

Sie waren ursprünglich für ein eigenes Internetministerium. Was halten Sie nun von dem Konstrukt um die Staatsministerin für Digitales, Dorothee Bär?

Ich arbeite seit Jahren sehr gut mit Dorothee Bär zusammen. Sie ist eine der wenigen aus der Union, die das Thema Digitalisierung tatsächlich verstanden haben. Aber ich halte die ganze Zersplitterung des Digitalthemas nach wie vor für falsch. Mir wäre eine Person wichtig, die ein Haushaltsbudget hat, die Verantwortung trägt und die Einspruch einlegen kann, wenn etwas falsch läuft. Eine Staatsministerin für Digitales ist ein Fortschritt, aber noch nicht das, was ich mir gewünscht hätte.

Frau Bär hat also nicht genug Macht, um etwas durchzusetzen?

Helge Braun (Kanzleramtsminister, Anm. d. Redaktion) hat erklärt, dass er immer dann zuständig ist, wenn es wichtig wird. Wie die beiden ihre Zusammenarbeit organisieren, kann ich nicht bewerten. Aber dass wir wirklich in der Substanz vorankommen, daran müssen sich beide messen lassen.

Das Gespräch führten Jan Thomas, Sarah Heuberger und Steffen Wenzel.

Die „Digitale Debatte“ ist eine neue Interviewreihe von politik-digital und dem Print- und Online-Magazin Berlin Valley, in der wir uns mit PolitikerInnen, ExpertInnen und VordenkerInnen über den digitalen Wandel unterhalten.

Titelbild: Jo Räbel/JFR Creatives
Bild Lars Klingbeil: Jo Räbel