Der Überwachungsskandal gerät ins Uferlose. Zwei neue Chroniken können helfen, nicht den Überblick zu verlieren. Derweil häufen sich die konkreten Vorschläge für Maßnahmen, die der „digitale Tölpel“ Deutschland unternehmen muss, um sich und seine Bewohner vor Überwachung zu schützen. Eine Idee: Datenschutz und Netzpolitik aus der Sicherheitsklammer des Innenministeriums befreien. Oder benötigen wir vielmehr ein nachrichtendienstliches Aufrüsten auf europäischer Ebene? Manche scheinen einer staatlichen Lösung kaum Vertrauen entgegenzubringen. Sie üben sich in Kryptografie oder verkaufen gar ihr Genom an einen privaten Konzern in Kalifornien…

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bpb Netzdebatte. Schwerpunkt Überwachung: Interview mit Stefan Noller zum Thema Algorithmen

 

Der digitale Tölpel erhebt sich

Für Götz Hamann und Stefan Schmitt ist Deutschland ein “digitaler Tölpel”, der bis in die Machtspitzen von ausländischen Geheimdiensten belauscht wird und selber keine nennenswerte IT-Industrie besitzt. Jedoch würden die Parteien, die zu den Koalitionsverhandlungen angetreten sind, zum ersten Mal das Thema ernst nehmen. Wird der Tölpel also fliegen? Daran äußern die Autoren in ihrem Artikel auf Zeit Online Zweifel. Denn die Großkoalitionäre verstünden Netzpolitik vor allem als Wirtschaftsförderung, während Fragen der Spionage und Überwachung für sie “politisches Neuland” seien. Zudem verhindere der Interessenkonflikt im Innenministerium zwischen nationaler Sicherheit und der Privatsphäre der Menschen das entschlossene Handeln gegen die Überwachung Einzelner. Um also fliegen zu können, müsste der Tölpel Innenministerium und Netzpolitik trennen.

Vergesst die Moral, lasst uns über Versagen reden!

Für Ulrich Schmid hingegen stellt vor allem die deutsche Spionageabwehr den ungelenken Vogel dar. Im Online-Angebot der NZZ lässt der Autor die Moral mal ruhen, der Schuldige sei das Bundesamt für Verfassungsschutz. Dieses habe wie schon bei den NSU-Morden „kläglich“ versagt, da es die Aktivitäten ausländischer Geheimdienste nicht aufdecken konnte. Zudem sei es abhängig vom NSA und leide daher eventuell nicht nur an einem blinden Auge. Aus diesen Gründen sieht Schmid die Lösung nur im Ausbau der nachrichtendienstlichen Kapazitäten auf europäischer Ebene, um der Abhängigkeit von den USA und einem Ungleichgewicht entgegenzuwirken. Die Chancen stünden nicht schlecht, denn „versagende Behörden erhalten stets noch mehr Mittel“.

Wir haben unsere Schatten verkauft

Das Internet ist nicht nur Medium der Freiheit, sondern auch Technologie der Macht. Für die Verbreitung dieser Erkenntnis ist Thomas Assheuer dem NSA-Skandal zutiefst dankbar, denn die Utopie eines anonymen und freien Internets in einer überwachten analogen Welt sei schon lange tot. Internet-Konzerne wie Google und Facebook hätten, in den Worten des Soziologen Zygmunt Bauman, das Beobachtetwerden schon lange “von einer Drohung in eine Verheißung” umgewandelt. Mit dieser “verschmusten Partnerschaft” zwischen Nutzer und Konzern sei es, so Assheuer auf Zeit Online, dank Edward Snowden engültig vorbei. Stattdessen sähen sich die Menschen einer potenziell lückenlosen Überwachung ihres vermarkteten digitalen Schattens ausgesetzt. Entfremdung sei dafür “ein recht harmloses Wort”.

Kontrolle über das digitale Ich

Es gibt Menschen, die ihren digitalen Schatten nicht ohne weiteres zur Überwachung und Vermarktung an Geheimdienste oder Konzerne hergeben wollen. Auch wenn Krypto-Partys in ihrem Hype etwas nachgelassen haben, teilen Blogger und Journalisten im Internet ihre ersten jungfräulichen Erfahrungen mit Verschlüsselungstechniken. Auf Basic Thinking führt Tobias Gillen Tagebuch über seine Erfahrungen mit der E-Mail-Verschlüsselung und beschreibt damit den Weg eines Ahnungslosen zur selbst erkämpften Anonymität. Auch Patrick Beuth hat für Zeit Online einen solchen Selbstversuch gestartet. Ebenso führt digitalcourage e. V. eine Übersicht zu digitaler Selbstverteidigung. Allen Ahnungslosen, die lieber zu Hause Tee trinken, als auf Partys mit kryptischen Namen zu gehen, sei die Lektüre empfohlen.

Besuch bei meinem Genom

Es ist möglich, das eigene Genom nach 250 Merkmalen untersuchen zu lassen und so die eigene Veranlagung für Krankheiten wie Prostata-Krebs herauszufinden: für nur 99 Dollar. Richard Gutjahr hat das Angebot des kalifornischen Konzerns 23andMe wahrgenommen und so sein Genom gleichzeitig gekauft und auch verkauft. Denn der Konzern profitiert durch das Angebot von der wohl bald größten Genom-Datenbank der Welt. Um herauszufinden, was genau das Start-Up damit anfängt und wie sicher sein Genom in Kalifornien ist, reiste Gutjahr in die USA. Im Interview mit der Unternehmenssprecherin Catherine Afarian erfährt er über das medizinische Erkenntnispotential von Big Data und das Ziel eines privaten Unternehmens, dieses zu verwerten.

Navigieren in der „Affäre ohne Grenzen“

Der Uferlosigkeit des Überwachungsskandals mit all seinen öffentlichen Lügen, Dementis und weiteren Enthüllungen begegnen nun zwei neue Chroniken. Sueddeutsche.de hat eine Chronik herausgebracht, in welcher der Skandal anhand von Medienberichten und Reaktionen aus der Politik verfolgt wird. Sie beginnt am 20. Mai, dem Tag, an dem Edward Snowden die USA verließ. Sehr viel mehr Mühe hat sich Heise Online gemacht: In einer interaktiven Timeline mit Suchfunktion, verschiedenen Kategorien und Darstellungsformen können die Ereignisse vom 6. Juni (erste Veröffentlichung geheimer Dokumente) bis heute nachvollzogen werden. Ein nützliches Tool, denn in dieser „Affäre ohne Grenzen“ kann man leicht den Überblick verlieren.
 
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